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Magazin für Theologie und Ästhetik


Drommetenrot

Eine kleine Erzählung von der Evidenz des Sinnlichen

Andreas Mertin

Giovansimone Chigi

Eine dichte Wolke Rauchs erhob sich aus dem Feuer und wuchs in die Höhe und umhüllte den Meister, und für eine Weile entschwand er meinen Augen. Aber sowie der Rauch sich verzogen hatte, warf Messer Salimbeni von neuem Räucherwerk in die Flammen. Dann fragte er: "Was siehst du nun, Giovansimone?" ..."Ich sehe", sagte der Meister, "zackige Felsen und Klüfte und Schluchten und steinerne Grotten. Und ich sehe einen Felsen, schwarz von Farbe und frei in der Luft schwebend, und er stürzt nicht nieder, was ein großes Wunder und kaum zu glauben ist." "Das ist das Tal Josaphat", rief Meister Salimbeni. "Und der schwarze Felsen, der in den Höhen schwebt, ist Gottes ewiger Thron. Und wisse, Giovansimone: Die Erscheinung des Felsens ist mir ein Zeichen, dass es dir bestimmt ist, in dieser Nacht noch so Gewaltiges zu sehen, wie nie ein Mensch vor dir erschaut hat." ... "Und jetzt sehe ich Tausende und aber Tausende, eine unendliche Schar, Ritter und Ratsherren und reichgeschmückte Frauen, die recken die Arme empor und weinen und es ist ein großes Wehklagen unter ihnen." "Sie klagen", rief Messer Salimbeni, "um das, was gewesen ist und nicht mehr sein kann. Sie weinen, weil sie verdammt sind zur Finsternis und auf ewig beraubt des göttlichen Angesichts." "Ein ungeheures Feuerzeichen steht am Himmel", schrie der Meister, "Und es leuchtet in einer Farbe, die ich nie zuvor gesehen habe. Wehe mir! Das ist keine irdische Farbe, und meine Augen ertragen sie nicht." "Das ist die Farbe Drommetenrot", rief Messer Salimbeni mit donnernder Stimme. "Das ist die Farbe Drommetenrot, in der die Sonne leuchtet am Tage des Gerichts."[1]

Das ist ein Ausschnitt aus dem 20. Kapitel des Romans "Der Meister des Jüngsten Tages" von Leo Perutz aus dem Jahre 1923. Erzählt wird die Geschichte des florentinischen Malers Giovansimone Chigi. Dieser hat im Jahr 1532 ein Rauschmittel von dem Arzt Salembeni bekommen, um seiner vertrockneten Malerphantasie durch Geschichten und Visionen auf die Beine zu helfen. Während seines Rausches hat Chigi eine Vision des Jüngsten Gerichts, er sieht die grauenvolle Farbe Drommetenrot am Himmel, wird von den Dämonen der Hölle gehetzt und hätte sich selbst das Leben genommen, wenn er nicht durch einen Schlag gegen die Stirn davor bewahrt worden wäre. Fortan ist der Maler wahnsinnig, lebt in einem Kloster und malt nur noch ein Motiv: das Jüngste Gericht.

Und auch jeder, der in späteren Zeiten auf den Spuren des Malers Chigi von diesem Rauschmittel nimmt, hat eine Vision seines Jüngsten Tages, denn das Mittel wirkt äußerst stimulierend auf den Sitz des Vorstellungsvermögens. Es macht die sinnliche Erscheinung vollkommen und bereitet Genuss wie Schrecken erfüllter Gegenwart.[2]

Drommetenrot bezeichnet also in Perutz' Roman die Farbe der Sonne am Tage des Jüngsten Gerichts, eine Farbe, die unmittelbar sinnlich affiziert und im Moment ihrer Erscheinung und keinesfalls erst vermittelt das Jüngste Gericht über den Wahrnehmenden bringt.

Drommetenrot verweist nicht auf das Jüngste Gericht, es vollzieht das Jüngste Gericht selbst. Nicht nur in der Moderne sind die Kunstwerke mit der Farbe Drommetenrot und ihren sinnlichen Folgen untrennbar verbunden. Vom Drommetenrot zehrt alle große Kunst. So beschreibt es auch der fiktive Herausgeber der Erzählung: Nicht in gedankenlose Beifallsstürme vor Kunstwerken will er ausbrechen, sondern im Bedenken auf den impliziten Gehalt aller Kunst: In den großen Symphonien der Töne, der Farben und der Gedanken, in ihnen allen sehe ich einen Schimmer der wunderlichen Farbe Drommetenrot. Eine ferne Ahnung der großen Vision, die den Meister (scil. des Jüngsten Gerichts) für eine kurze Weile über die Wirrnis seiner Schuld und Qual empor getragen hat.[3]

Drommetenrot, so hat es Theodor W. Adorno verstanden, ist das Erscheinende, das Unsubsumierbare der Kunst, das nicht als Symbol und damit als Verweis auf ein Drittes eingeholt und verstanden werden kann, es ist daher eher dem Rausch als der intellektuellen Erfahrung entsprungen.[4]

Und so hat die Farbe Drommetenrot im Roman den Charakter einer eigenständigen Macht. In diesem Augenblick erschien am Himmel ein ungeheures Meer von Glut, das loderte und brannte in einer Farbe, die ich nie zuvor gesehen hatte, und ich kannte ihren Namen, Drommetenrot hieß sie, meine Augen waren geblendet von dem Orkan der grauenvollen Farbe, Drommetenrot war ihr Name, und sie leuchtete dem Ende aller Dinge.[5]

Anmerkungen
  1. Leo Perutz, Der Meister des Jüngsten Tages (1923). Reinbek bei Hamburg 1990, S. 161ff. Vgl. dazu Dietrich Neuhaus, Erinnerung und Schrecken. Die Einheit von Geschichte, Phantastik und Mathematik im Werk Leo Perutz'. Frankfurt u.a. 1984, insbes. S. 60ff.
  2. Vgl. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. 2. Aufl. Frankfurt 1984.
  3. Nicht nur der bildenden Kunst eignet im Roman diese Unmittelbarkeit: Dieser zweite Satz des H-Dur-Trios, wie oft schon haben mich seine Rhythmen geängstigt und erschüttert, niemals habe ich ihn ohne tiefe Niedergeschlagenheit zu Ende zu spielen vermocht, und dennoch, ihm gehört meine leidenschaftliche Liebe. Ein Scherzo, ja. Aber welch ein Scherzo! Eine grauenvolle Lustigkeit hebt an, eine Fröhlichkeit, die einem das Blut erstarren lässt. Ein gespenstisches Gelächter fegt durch den Raum, ein wildes und düsteres Karnevalsrasen bocksfüßiger Gestalten, das ist der Anfang, so beginnt dieses sonderbare Scherzo. Und plötzlich löst sich aus dem Bacchanal der Hölle eine einsame Menschenstimme los, die Stimme einer verwirrten Seele, die Stimme eines angstgequälten Herzens schwingt sich auf und klagt ihr Lied. Aber da ist Satans Gelächter wieder, dröhnend fährt es in die reinen Klänge und zerreißt das Lied in Fetzern. Nochmals erhebt sich die Stimme, zaghaft und leise, und sie findet ihre Melodie und trägt sie hoch empor, als wollte sie mit ihr in eine andere Welt entfliehn. Doch den Dämonen der Hölle ist alle Macht gegeben, der Tag ist angebrochen, der letzte Tag, der Jüngste Tag, Satan triumphiert über die sündige Seele, und die klagende Menschenstimme stürzt herab aus den Höhen und versinkt in einem Judaslachen der Verzweiflung. Leo Perutz, Der Meister des Jüngsten Tages, a.a.O., S. 17. Zwei Dinge sind an dieser Beschreibung auffällig: zum einen zeigt die (gewollte) Parallelität der Rauscherfahrung des Malers Chigi mit der Musikerfahrung des Protagonisten des Romans, dass die Phantasie nicht notwendig künstlicher Stimulantien bedarf, sondern dass die Kunst selbst das Rauschmittel ist, in der diese Erfahrung vermittelt wird. Zum anderen scheint es so zu sein, dass im vorliegenden Fall nicht die Kunst die christliche Apokalypse erläutert, umsetzt oder illustriert - dann wäre in der Tat an eine symbolische Funktion der Kunst zu denken -, sondern dass hier vielmehr die religiöse Gedankenwelt zur Erläuterung des musikalischen Geschehens herangezogen wird. Religion würde so zum Symbol der Epiphanie der Kunst.
  4. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. (1969) Aus dem Nachlass hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. 5. Auflage. Frankfurt 1981, S. 129.
  5. Leo Perutz, Der Meister des Jüngsten Tages, a.a.O., S. 172.

© Andreas Mertin 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 21/2002
https://www.theomag.de/21/am76.htm