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Magazin für Theologie und Ästhetik


White Cube III

Ausstellungskritik

Karin Wendt

NOTRE DAME. Ein Szenario

Im Förderverein Aktuelle Kunst in Münster ist zur Zeit eine Ausstellung der in Bremen lebenden Künstlerin Astrid Nippoldt zu sehen. Unter dem Titel "Notre Dame. Ein Szenario" zeigt sie einander gegenüber liegend zwei nahezu wandfüllende Videoprojektionen. Der eine Film zeigt einen Wanderer von hinten, wie er bei Dunkelheit von einem grellen Scheinwerferlicht geblendet in Richtung einer mächtigen Kirche geht, vorbei an einem Schild, auf dem nur schemenhaft der warnende Hinweis auf Absturzgefahr zu erkennen ist.

Der andere Film zeigt den Wanderer von vorne, wie er weiß angestrahlt auf den Betrachter zukommt, nun das Schild bereits im Rücken. Einmal sehen wir seine Silhouette in Schwarz. "Er bewegt sich auf die Kamera zu und verflüchtigt sich nach und nach zur leuchtenden Erscheinung, je näher er kommt." Das andere Mal erscheint sein Umriss als weiße Leerstelle auf der Leinwand, "bevor er langsam im Dunkeln verschwindet." Beide Male schafft die Lichtsituation den Eindruck einer planen Figur, die gleichwohl den Raum durchschreitet. Begleitet wird der Gang des Wanderers durch tiefe Basstöne, die - fast monoton - dem eigenartigen Sog der langsamen aber stetigen Bewegung des Menschen korrespondieren und so für den Betrachter zu einem suggestiven Szenario verdichten. Der Betrachter selbst steht zwangsläufig im Bild, so dass die Bewegungen des eigenen Schattens Teil der laufenden Bilder werden. Im Film kommt es weder zum Absturz noch zum Stillstehen des Fremden, fast unmerklich wiederholt sich die Sequenz des Gehens, seine scheinbar unendliche Annäherung an den unsichtbaren Abgrund.

Tappt man nun hinein ins verführerische Hell und vorbei ins schwarze Nichts,
stürzt man sogleich hinunter in die Stadt und in den Tod. (Astrid Nippoldt)

Anlass für die Arbeit war die Beobachtung eines Phänomens oben auf dem Hügel der Kirche Notre Dame de la Garde, 160 Meter über der Stadt Marseille. "Die Kirche wird nachts von Starkstromscheinwerfern beleuchtet. Absurderweise wird gerade das Erleuchten der Kirche zur tödlichen Falle für den, der vom starken Licht angezogen hinten im Gestrüpp herumstreunt, statt vorne in die Kirche einzutreten. Dabei wird der einzige Gefahrenhinweis, ein Schild, vom Gegenlicht verschluckt." Wer an den Rand der Felsklippe gerät, stürzt tödlich.

Widerstreitende Formen

Marseille, die älteste Stadt Frankreichs, liegt am Mittelmeer an einer Bucht des Golfe du Lyon und erstreckt sich amphitheatrisch am Hang von kahlen Kalkfelshöhen. Sie ist heute Hauptstadt des Départements Bouche-du-Rhône, Sitz eines Erzbischofs und Universitätsstadt. Notre Dame de la Garde überragt das Stadtbild, den 46 Meter hohen Glockenturm krönt eine vergoldete Madonnenstatue.

Zum historischen Funktionswandel von Bischofskirchen schreibt Willibald Sauerländer: "Auf eigenem auch rechtlich selbstständigem Grund und Boden dominierte die Kathedrale die Stadt schon durch ihre alles überragende Größe und verkörpert den bischöflichen Missionsanspruch. Im Grunde genommen ist bereits im 13. Jahrhundert der Anspruch der Bischofskirchen jedoch historisch überholt. Nicht nur entsteht mit den Bettelorden ein ganz anderes Bild von Kirche und ihren Aufgaben, sondern die Städte machen sich zu diesem Zeitpunkt von der Oberherrschaft der Bischöfe frei." Der neobyzantinische Basilikabau der Kirche Notre Dame de la Garde, die der Architekt Jacques Henri Espérandieu im 19. Jahrhundert an der Stelle einer mittelalterlichen Wallfahrtskirche bauen ließ, ist ein Beispiel für die Entzeitlichung von Geschichte durch ihre historistische Überhöhung. In Nippoldts Inszenierung erscheint dieser Kirchenbau als Bild einer Architektur ohne Vergangenheit, als Eigenlicht ohne Gestalt, als Schein ohne Körper, als städtisches Ornament. Indirekt verweist Nippoldts Beobachtung dieser gespenstischen Illuminierung vielleicht auch auf eine Stadtarchitektur, die programmatisch für das moderne Marseille steht bzw. stehen könnte: die Unité d'Habitation von Le Corbusier.

Der Wohnblock aus Beton und Stahl, mit einer begrünten Dachterrasse, diversen Gemeinschaftseinrichtungen, auf Pfeilern inmitten einer großen Grünfläche 1947 errichtet, ist der einzige realisierte Prototyp eines Entwurfs für Paris, an dem Le Corbusier seit 1922 arbeitete. Le Corbusiers Idee einer vertikalen Stadt, in der sich kollektive und individuelle Bedürfnisse des Wohnens und Lebens optimal ergänzen sollten, der Ersatz einer flachen, aber dichten Bebauung durch eine weiträumige und hohe Bebauung, die Trennung des Fahr- vom Fußgängerverkehr, insgesamt die Verbindung der Wohn-, Arbeits- und Erholungsflächen der Stadt zu einem rationalen, schaubaren Plansystem, das sich den Gegebenheiten des Ortes anpasst, sind noch heute verbindliche Parameter für unser Verständnis zeitgenössischen Bauens und Wohnens. Zwischen Notre Dame de la Garde und der Unité d'Habitation liegen knapp hundert Jahre. Ein Abgrund.

Diese Bezüge sind an Nippoldts Inszenierung herangetragen. Was sie stärker interessiert, ist die paradoxale Situation von Licht und Tod, die Ambivalenz von Reiz und Gefahr, darin liegt die Intensität ihres Videos, das mit den Stilmitteln der Unschärfe und Langsamkeit arbeitet - vielleicht aber auch eine Schwäche. Ins Bild gerückt erscheint die Tatsache, dass und wie bestimmte Gebäude in einer Stadt nachts beleuchtet werden, während anderes im Dunkeln gelassen wird.

Die Inszenierung (in) der Dunkelheit ist von je her eine besondere Kunst der Selbst-Darstellung. Daran musste sich die postmoderne Kritik eines aufklärerischen Zusammendenkens von Licht und Selbsterkenntnis entzünden. Astrid Nippoldts Arbeit ist eine Erzählung im Gegenlicht. Sie macht den Zusammenhang von (Ver-)Blendung und Tröstung, von Versprechen und Täuschung, von Verlangen und Enttäuschung als einen Prozess von Annäherung und Entfernung sichtbar, in dem sich die eigene und die fremde Wirklichkeit zugleich konturiert und verliert. Ihre Gegenüberstellung erlaubt es, uns für einen Moment dazwischen zu stellen, den Blick auf die Bewegungen zu richten, ohne uns selbst zu bewegen. Zwischen beiden Bildern stehend, sehen wir das jeweilige Bild als Rückseite des anderen Bildes, die Projektion als Spiegelung ihrer selbst. Wir können erkennen, dass es den Ort zwischen den Bildern nicht wirklich gibt. Nur im Bild können wir unsere Bewegungen kritisch verfolgen. Darin liegt unsere Eigenbewegung. Vor den Absturz in die Stadt setzt Nippoldt "den Sturz ins Bild" (Maurice Blanchot).


© Karin Wendt 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 21/2002
https://www.theomag.de/21/kw18.htm