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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren VIII

Aus der Bücherwelt

Andreas Mertin

Essays

Es ist immer ein Genuss, Texte von Jorge Luis Borges, dem großen argentinischen Schriftsteller und Meister fantastischer Erzählungen (zugleich Vorbild für den blinden Bibliothekar Jorge in Umberto Ecos "Der Name der Rose") zu lesen. Dabei stehen in der öffentlichen Rezeption natürlich vor allem die Erzählungen im Vordergrund.

Es ist das Verdienst des im Februar 2003 als 218. Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek erschienen Buches, den Augenmerk auf die Essays zu lenken.

Das ist auch gut so, denn - wie der Klappentext vermerkt -, "Borges kann nicht erzählen, ohne zu denken, und nicht denken, ohne zu erzählen. Deshalb sind seine Essays nicht weniger phantastisch, radikal und ´'fabelhaft' als seine Ficciones - ja, vielleicht steckt in ihnen sogar der eigentliche Kern seiner Autorschaft ... Viele von ihnen nennen sich 'Historien', 'Träume' oder 'Rätsel', und alle sprengen den hergebrachten Begriff des Essays und verleihen der Gattung einen neuen, irisierenden Glanz."

Borges Ausführungen kreisen um bedeutende Autoren und ihre Texte, sind engagierte Plädoyers gegen den Faschismus und seine Dummheit, Liebeserklärungen an Völker und deren Literaturen. Es ist unmöglich, seine Essays auf einen Nenner zu bringen, in jedem der 66 Essays lassen sich interessante Entdeckungen machen. Der Band beginnt mit ganz frühen Stücken über "Die Nichtigkeit der Persönlichkeit" aus dem Jahr 1922 und "Der Ulyssee von Joyce" von 1925, geht über so lesenswerte Stücke wie "Ich, Jude" aus dem Jahr 1934, "Eine Pädagogik des Hasses" aus dem Jahre 1937 oder den "Versuch über Neutralität" von 1939, bis hin zu einem Zyklus von neuen dantesken Essays, die zwischen den Jahren 1945 und 1982 geschrieben wurden. Daneben reizen und begeistern die zahlreichen Widerlegungen des Selbstverständlichen und Rechtfertigungen des Unglaublichen, die Borges immer wieder vornimmt, sei es, dass er über die Dauer der Hölle schreibt, die Widerlegung der Zeit oder auch die Kabbala.

Ergänzt wird der Band durch einen erläuternden Text von Tim Parks "Borges und seine Geister", der 2001 zuerst in der New York Review of Books erschienen ist.

Was mir an diesem Buch trotz seiner liebevollen Ausstattung weniger gefällt, ist zum einen, dass der gesamte Text in Kursiv gesetzt wurde, während die Hervorhebungen dann in Normalschrift erscheinen. Das erschwert die Lektüre. Zum anderen stören mich die Links auf den Seiten, die dann auf der rechten Spalten zu Marginalien führen. Es mag daran liegen, dass ich inzwischen Mitte Vierzig bin und für das Lesen eine Lesebrille brauche. Aber der Marginaltext ist entweder für seine Winzigkeit zu blass oder für seine Farbgebung zu klein gedruckt worden. Das alles hätte bequem mit Endnoten (im Unterschied zu den erläuternden Fußnoten) versehen werden können, so dass der Leser in der virtuellen Welt der akademischen Verweisliteratur den Anspielungen Borges hätte nachgehen können. Mir ist klar, dass die Herausgeber nicht zuletzt der engen Vernetzung Besprechungen Borges mit der Gesamtanlage der Anderen Bibliothek Ausdruck verleihen wollten, dennoch wäre hier weniger mehr gewesen.


© Andreas Mertin 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 22/2003
https://www.theomag.de/22/am82.htm