Wahrheit und LügeEin Bild und seine MachtAndreas Mertin |
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Erinnere Dich!Der protestantische Theologe und Philosoph Paul Tillich hat Pablo Picassos 1938 zur Pariser Weltausstellung entstandenes Werk Guernica ein "großes protestantisches Kunstwerk" genannt: "Es betont, dass der Mensch endlich, dem Tode unterworfen ist; vor allem aber, dass er seinem wahren Sein entfremdet ist und beherrscht wird von dämonischen Kräften, Kräften der Selbstzerstörung."[1] Der marxistische Kunsttheoretiker Max Raphael, der eine komplexe Studie des Werks vorgelegt hat, sieht dagegen in Picassos Guernica eine mangelnde Kongruenz von Form und Inhalt: "all das zeigt, inwiefern Guernica ein schlechtes Stück Propaganda ist und ein zweifelhaftes Kunstwerk."[2] Aber er fährt fort: "Trotz alledem muss man hervorheben, dass Guernica den Konflikt zwischen Picassos Empfindungsstärke und Mitteilungsbedürfnis einerseits und seiner Gestaltungskraft andererseits gültig ausdrückt. Selbst wenn man von aller problematischen Allegorisierung absieht, bleibt der Eindruck der Zerstörung und der Agonie, der einer sich zersetzenden Gesellschaft ein Brandmal aufdrückt, wie es keinem anderen Künstler gelungen ist."[3] Der Kunstwissenschaftler Max Imdahl kommt in seiner Guernica-Studie zu dem Schluss: "Picassos Bild Guernica ist ein Jahrhundertbild. Es ist das bedeutendste Ereignisbild unserer Zeit, und es setzt, wie kein anderes Bild, unter den besonderen Darstellungsbedingungen der modernen Malerei die Tradition des Ereignisbildes fort."[4] Entstanden ist das Werk als Reaktion auf die Zerstörung von Guernica, der "religiösen Hauptstadt des Baskenlandes" durch die deutsche Legion Condor am 26.4.1937. Die Regierung der Spanischen Republik hatte Pablo Picasso bereits im Januar 1937 für die im Juli beginnende Pariser Weltausstellung mit einem repräsentativem Gemälde beauftragt. Als Picasso dann von dem schrecklichen Bombenangriff auf Guernica erfuhr, entschloss er sich, das gleichnamige Bild zu malen und vollendete es in wenigen Wochen. Der baskische Priester Alberto de Onaindia schildert seine Eindrücke vom Bombardement Guernicas so: "Ich sah, wie Greise, Frauen und Kinder wie Fliegen getroffen niederstürzten, über eine Stunde lang, ohne eine Minute Unterbrechung, fielen die Bomben zu Tausenden auf die Häuser von Guernica. Systematisch und mit einer Brutalität, die ich mir trotz der bisherigen zehn Kriegsmonate niemals hätte vorstellen können, zielten die Piloten auf jedes einzelne Haus und ließen nicht davon ab, bevor es mit Sicherheit völlig zerstört war. Von dem Lärm der Explosionen und der einstürzenden Häuser macht man sich keinen Begriff. Später sahen wir die Krater, sie hatten einen Durchmesser von 16 Metern und waren acht Meter tief. Gegen 7 Uhr flogen die Maschinen ab, und nun kam eine neue Welle, die diesmal in sehr großer Höhe flog. Die zweite Welle warf Brandbomben auf unsere gemarterte Stadt und verwandelte in 35 Minuten den ganzen Ort in einen gewaltigen Feuerofen. Bei Sonnenuntergang konnte man immer noch nicht weiter als 500 Meter sehen, überall wüteten die Flammen, und dicker schwarzer Rauch stieg auf. Um mich herum beteten die Leute und streckten die Arme gegen den Himmel, um Gnade zu erflehen."[5] Die Londoner Times brachte unter dem Titel "Die Tragödie von Guernica" am 28. April 1937 einen Artikel ihres Sonderkorrespondenten, George Steer, der mit den Worten beginnt: "Guernica, die älteste Stadt der Basken und das Zentrum ihrer kulturellen Tradition, wurde gestern Nachmittag durch einen Luftangriff der Aufständischen völlig zerstört. Das Bombardement dieser offenen Stadt weit hinter der Kampflinie dauerte genau drei und eine viertel Stunde; ohne Unterbrechung lud während dieser Zeit eine starke Luftwaffeneinheit, bestehend aus drei deutschen Typen, Junkers- und Heinkeljägern, über der Stadt Bomben im Gewicht bis zu 450 kg ab, dazu schätzungsweise mehr als 3000 kg Aluminium-Brandgeschosse. Gleichzeitig stießen die Kampfflugzeuge aus der Höhe über dem Zentrum der Stadt herab und beschossen aus geringer Entfernung die in umliegende Felder geflüchtete Zivilbevölkerung mit Maschinengewehren. Bald stand ganz Guernica in Flammen, mit Ausnahme der historischen Casa de Juntas mit ihren reichen Archiven des Baskenvolkes, wo das alte Baskenparlament seine Sitzungen abzuhalten pflegte."[6] Picasso Werk wurde in der Folge zu dem Kunstwerk des 20. Jahrhundert, das dem Aufschrei gegen die menschliche Barbarei zum Ausdruck verhalf. "Nach der Weltausstellung wurde es im Jahre 1938 in Oslo und anschließend in London, Leeds und Liverpool gezeigt. Im Jahre darauf gelangte es nach New York, wo es - abgesehen von Ausstellungen in Amsterdam, Brüssel, Köln, München, Paris und Stockholm in den Jahren nach 1945 - bis 1981 verblieb. Im Jahre 1970 haben etwa 300 amerikanische Künstler und Schriftsteller vor dem Bild gegen den Vietnam-Krieg protestiert. Gemäß dem Willen des Malers sollte das Bild erst nach dem Ende des Franco-Regimes, wenn in Spanien die bürgerlichen Freiheiten wieder gelten, in spanischen Besitz übergehen. Seit 1981 befindet es sich, wie ein Kultbild aufgestellt, im Prado. Picasso hatte das Bild dem spanischen Volk gewidmet, Franco hatte während des Bürgerkriegs alle Nachdrucke des Bildes verboten und den heimlichen Besitz einer Reproduktion mit Gefängnis bestraft."[7] Nachdem das Werk endlich nach Spanien kommen konnte, schenkte Nelson A. Rockefeller 1985 der UNO eine Reproduktion des Gemäldes in Form eines Wandteppichs, der seitdem im UN-Gebäude in New York hängt und schon den Hintergrund mancher bedeutenden Verlautbareung vor der internationalen Presse bildete. In seiner Studie des Werkes schreibt Max Imdahl: "Unweigerlich stellt sich die ganz entscheidende Frage, was Picassos Bild - nur als ein Bild oder auch als ein Kunstwerk - in Hinsicht auf sein Thema überhaupt aussagen kann und was es uns Heutige noch angehen soll im Bewußtsein einer modernen Kriegs- und Grausamkeitstechnik, welche die Zerstörung der Welt einschließt. Wie können sich Realität und Imagination, wirkliches und verbildlichtes Entsetzen zueinander verhalten, und was kann - als Folge dieser Frage - der Versuch, durch eine Abhandlung zu einer genaueren Anschauung des Bildes "Guernica" anzuregen, seinerseits bewirken?"[8] Die Frage lautet also, ob Guernica nur noch ein historisches Dokument ist, ob es resistent gegen ideologischen Missbrauch ist und ob es in der Gegenwart noch seine Sprengkraft entfalten kann.[9] Die Antwort darauf wurde spätestens am 5. Februar 2003 klar. Lügenbarone und ihre DienerAn diesem Tag hält der Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika, Colin Powell, vor dem Weltsicherheitsrat der UNO und zugleich vor der gesamten Weltöffentlichkeit, sein Indizien-Plädoyer gegen den Irak, mit dem er die Welt von der Notwendigkeit eines Präventivkrieges überzeugen möchte. Seine Rede wird zu einem Reinfall, denn es gelingt ihm nicht, das Gremium und die Welt von den amerikanischen Ansichten zu überzeugen. Die anschließende Rede des französischen Außenministers, der für eine Verlängerung der Inspektionen und gegen den Krieg plädiert, stößt auf breite Zustimmung. Was hat das mit Picassos Guernica zu tun? Nun, UN-Diplomaten hatten im vorauseilendem Gehorsam in der Nacht vor der Sitzung des Weltsicherheitsrats den Wandteppich mit der Reproduktion von Picassos Guernica mit einer blauen UNO-Flagge verhängt. Wie schon zuvor bei dem Waffeninspekteur Blix sollte auch den Vertretern des US-amerikanischen Empires nicht zugemutet werden, bei der anschließenden Pressekonferenz ausgerechnet vor Picassos Werk zu einem Krieg aufzurufen. "Obviously some were concerned that Picasso's antiwar masterwork would not make a good backdrop for speeches and press conferences advocating the bombing and invasion of Iraq. As the United States talks about it's 'shock and awe' strategy (the potential launching of over 800 Cruise Missiles against Baghdad in two days), and it's willingness to use 'bunker busting nuclear bombs' against Iraq ... Picasso's work is a chilling reminder of what such military operations would mean for civilian populations. On Feb. 5th, 2003, U.S. Secretary of State, Colin Powell spoke before the United Nations to make his case for war against Iraq. Picasso's mural was completely covered and the flags of Security Council were placed before the censored artwork. As Maureen Dowd, writing for the New York Times, wrote, 'Mr. Powell can't very well seduce the world into bombing Iraq surrounded on camera by shrieking and mutilated women, men, children, bulls and horses.'"[10] Kolportiert wird in der internationalen Presse zudem, amerikanische Vertreter hätten massiven Druck ausgeübt, um US-Außenminister Powell und US-Un-Botschafter Negroponte die Präsentation vor diesem Bild zu ersparen.[11] Das mag sein, der Skandal bleibt in jedem Fall der gleiche. Die Angst, dass ein Fernsehteam während der Pressekonferenz von Powell die Kamera über das Anti-Kriegsbild von Picasso geschwenkt hätte, ist hoffentlich berechtigt. Denn dieses spricht eine Wahrheit aus, die Powell gerne verbergen möchte: Dass es im Krieg zunehmend die Zivilbevölkerung trifft, dass es keinen chirurgisch sauberen Krieg gibt, dass die neuen "Super-Waffen" der Amerikaner, die die elektrische und elektronische Infra-Struktur in Bagdad zerstören sollen, nicht das Militär, sondern die hungernde Bevölkerung am stärksten trifft. Zugleich wird damit relativ direkt die Frage Imdahls, was Picassos Guernica uns Heutige noch angehen soll und kann, beantwortet: "The censoring of Picasso's mural is illustrative of Art's immense power. It is a civilizing force that erases national boundaries and strengthens human solidarity. In particular Picasso's masterwork draws a laserbeam focus on the madness and inhumanity of war, a message that transcends the barbarity suffered by a small Basque village in 1937. As Picasso himself once said, 'Art is a lie that tells the truth.' The Artist's profound mural still speaks the truth to the people of the world, so much so that the powerful feel compelled to censor it."[12] Die Verhüllung des Bildes mit Picassos Guernica re-aktualisiert dieses aufs Neue. Es macht klar, dass der Protest gegen die Gewalt des Krieges gegen Zivilisten sich nicht auf den Protest gegen faschistische und totalitäre Regime begrenzen kann. Er schließt auch jene Staaten ein, die zur vorgeblichen Verteidigung der Freiheit die Freiheit vernichten. Anmerkungen
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