"Virtuelle Welten - Reale Gewalt"Ein Aufsatzband zu Gewalt in Computerspielen
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Der vom Publizisten und Medientheoretiker FLORIAN RÖTZER herausgegebene Aufsatzband "Virtuelle Welten - Reale Gewalt" von Anfang dieses Jahres versammelt überwiegend Beiträge des Online-Magazins Telepolis (www.telepolis.de) zu Fragen von Gewalt in den Medien und besonders in Computerspielen. Die Texte reagieren überwiegend auf die Debatte nach dem Erfurter Schulmassaker. Dabei wird ein breites Spektrum an Themen und Fragestellungen abgedeckt, von neueren Spiele - Entwicklungen (RÖTZER u.a.), Rezipientenbefragung und Medienwirkungsforschung zu Computerspielen (LADAS), Nutzung von Computersimulation zu militärischen Trainings- und Propagandazwecken, v.a. bei Americas Army (LISCHKA, WOZNICKI, GIESELMANN u.a.) und Bewertungen der Funktion der Gewaltdarstellungen in Computerspielen (KREMPLs Interview mit dem Spieleforscher Fritz, WILLMANN) über die Debatten des Jugendschutzes, v.a. zu Counterstrike (JÖRNS), die Bedeutung von Internetsuizidforen (NAGENBORG) und die Muster des Ablaufs von Amokläufen (STEGEMANN) bis zu essayistischen Texten über Terror als Auswuchs des Kampfes um die Ressource Aufmerksamkeit (RÖTZER), und den kulturellen Umgang mit Tod und Gewalt im allgemeinen (WILLMANN, PALM u.a.) sowie noch einigen interessanten Marginalia. Die AutorInnen sind ExpertInnen aus Medienwissenschaft, Kulturwissenschaften und Publizistik, so dass sich Sachkenntnis in vielen Beiträgen mit klugen Gesprächsbeiträgen allgemeinerer Natur zur Debatte um Mediengewalt verbinden. Gemeinsam ist allen AutorInnen, dass sie eine kurzschlüssige Verurteilung der Computer - Spieler (bzw. seltener Spielerinnen) oder auch der Industrie ablehnen, wie sie etwa im Feuilleton der FAZ April 2002 mit der Stigmatisierung als "Hassindustrie" geschehen ist. Während der einleitende Beitrag von RÖTZER diesen Vorwurf zurückweist, thematisiert er gleichzeitig einige hochproblematische Beispiele der Instrumentalisierung von brutalen Computerspielen im politischen Kontext, etwa einem Spiel der rechtsextremen amerikanischen National Alliance, das einen virtuellen Rassenkrieg mit dem Ziel der Ermordung des israelischen Regierungschefs inszeniert, oder aber das Spiel "Kaboom", dass palästinensische Selbstmordattentate an israelischen Zivilisten simuliert. Zuvor erwähnt er - wie andere Beiträge - das frei im Netz erhältliche und über Computerspielzeitschriften kostenlos verteilte Spiel der US-Armee "America's Army". Spezifische Differenz etwa zum beliebten "Ego-Shooter" "Counterstrike" ist, dass die Gewalt relativ "sauber" bleibt, und die Spieler(innen) nie die "Terroristen" spielen können. Die Internetversion wird zu aktiven Werbezwecken durch die US-Armee genutzt - erfolgreiche Spieler werden per Email kontaktiert. Ungeschickt wirkt dann der Sprung zu Fragen der Computerspielgewalt überhaupt, da die politische Aufladung und Personalisierung der Spiele eine Dimension sui generis einbringt, die an einem spezifischen Punkt die Grenze zwischen Spiel und politischer Realität suggestiv unterschreitet. Die Spannung zwischen der platonischen Bewahrpädagogik des Höhlengleichnisses, das philosophische Aufklärung über den machtvollen Betrug der Bilder fordert stellt er gegen die aristotelische Theorie der Katharsis, die die reinigende Wirkung der Darstellung der Tragödie und der Gewalt zum Argument erhebt. RÖTZERS Einleitungsbeitrag, der wohl eher eine erste Problemsichtung darstellen soll, endet dann in der Forderung, diese alten Auseinandersetzung der "Bilderstürmer und Ikonophilen" theoretisch zu überschreiten. MANUEL LADAS stellt im ersten Beitrag, "Brutale Spiele(r)?", die Ergebnisse seiner Promotion in sehr knapper Form zusammen. 2141 Spieler wurden in einer nutzerzentrierten, schriftlichen Befragung interviewt, um dem "Nutzer eine individuelle Selektions- und Interpretationsleistung bei der Konstruktion 'seiner' Wirklichkeit einzuräumen und (...) die inneren und äußeren Bedingungen des Nutzers (... zu) berücksichtigen". Am Rande sei hier bemerkt, dass das Gespräch mit den NutzerInnen dazu geführt hat, das Spiel "Counterstrike" nicht zu indizieren, wie der Pädagoge und Jugendschützer GERALD JÖRNS in seinem Artikel schildert. In dankenswerter Klarheit legt LADAS dar, dass Spielegewalt nicht ohne weiteres in Beziehung zu realer Gewalt gesetzt werden kann. Sie soll nicht schädigen oder verletzen, folgt keinem externen Zweck, sondern ist spielerisch in "die engen Handlungs- und Wirkungszusammenhänge der virtuellen Welt eingebunden. Sie ist "ästhetisiert und wettkampfartig", somit "automatisch realitätsfern". Ein "unkontrollierter Transfer" in die Wirklichkeit ist von Spielern nicht zu erwarten. Sie folgen im Spiel ganz bestimmten Handlungsmustern ("scripts"), um deren Unanwendbarkeit im Leben sie durchaus wissen (KREMPL / FRITZ). Der Artikel von THOMAS WILLMANN bringt das auf den Punkt: "Computerspiele sind eben doch Spiele", "die Regeln schreiben Belohnung und Strafe vor, kennen keine Zweideutigkeiten - und sind allen Teilnehmern bekannt". Das Töten im Spiel ist dann für die Spieler in keiner Hinsicht eine Gewissensfrage, im "realen Leben haben sie eine völlig intakten Sinn für Moral". Im fiktiven Raum der Spiele praktizieren sie Sport, nicht Mord. Eine einfache Erklärung für die Darstellung von tödlicher Gewalt ist, dass die in elementarer Weise wie etwa auch beim Schachspiel "das Eliminieren einer Figur markiert", den Spielfortschritt markiert. Wichtig ist der Hinweis auf den fundamentalen Unterschied zur Spielfilmgewalt, bei dessen Brutalisierungsform, dem Splatter, die Computergrafik sich aus zweiter Hand bedient. LADAS weist darauf hin, dass bei der Rezeption von Spielfilm eine Identifikation mit den Opfern stattfindet, wie der Medienwirkungsforscher JÜRGEN GRIMM ("Fernsehgewalt", Opladen 1999) gezeigt hat. Im Film werden die Charaktere als Personen wahrgenommen, während in den meisten Computerspielen Empathie keine Rolle spielt - somit findet auch keine Abstumpfung im Sinne des Zurückgehens von Mitgefühl statt. Die "expliziten, blutigen Gewaltdarstellungen (...) (lassen) die virtuelle Gewalt noch grotesker und irrealer erscheinen". Eine interessante Beobachtung macht LADAS in Bezug auf Spieler, die tatsächlich gewaltbefürwortende Einstellungen mitbringen. Bei Ihnen konnte er eine Bevorzugung von solchen Spiele - Genres mit "distanziert-realistischen und blutlos präsentierten Kriegsszenarien" feststellen, Militärsimulationen etwa. Selbst hier wäre allerdings noch einmal nachzufragen, ob dies den Vollzug von Gewalthandlungen in der Realität beeinflusst. Gerade die cleane Gewalt, die uns über die älteren Inszenierungsstrategien der Kriminalfilme oder Western zutiefst in den ästhetisch-ethischen Bilderhaushalt eingeprägt ist, und um die sich gegenwärtige Inszenierung von Kriegsgeschehen so sehr bemühen, führt also in hochproblematische Bereiche individuellen und sozialen Umgangs mit Gewalt, was v.a. der Aufsatz von GIESELMANN zur aktuellen Inszenierung von Krieg und Kriegsspielen verdeutlicht. Auf die Form der Gewaltdarstellung und die Anleihen bei Splatter-Filmen in Computerspielen geht WILLMANN genauer ein. Dabei stellt er fest, dass Computergewalt flacher bleibt, hinter der hochinszenierten Ästhetik der filmischen Blutorgien zurückfällt, und das Blut "nichts als Textur oder aufgesetzter Zeichentrick" ist, es entstammt "merklich Körper(n) ohne Innenleben". Die eingefleischten Spieler verfügen ebenso wie Fans brutaler Filmgenres über eine "Leskompetenz" im Blick auf die "ästhetischen Konventionen" der "Gewalt-Ikonographie". Die Ablehnung und das Unverständnis in der Öffentlichkeit beruht dann auf der Abwesenheit solcher Einübungen in die Codes und der Verwechselung des Fiktiven und realer Gewaltpotentiale. Dabei leugnet WILLMANN nicht, dass es hier auch um die Bearbeitung tiefliegender psychischer Affekte geht. Es geht hier entschieden auch um die Darstellung von tabuisierten Gewalt-Wünschen, eine "fiktive, kontrollierte, abgesicherte Art, die Fantasie vom Grenzübertritt" auszuleben - eine Domestikationsleistung. Sie widerspricht gerade dem sozialen Verhalten und dem Stand der Moral, bearbeitet aber eine zutiefst in uns eingelagerte Möglichkeit - allerdings eine "irreale Möglichkeit im wahren Sinne des Wortes". Zu biologistisch klingt es, wenn WILLMANN diese als unser "evolutionäres Erbe" bezeichnet, doch bleibt dies unausgeführt. Was genau die unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen der Gewaltkanalisierung im Zusammenspiel leisten, wäre die fundamentale Frage, die hier zu stellen wäre. Dabei wären die Zusammenhänge von Spiel, Kunst, Bildungssystem, Rechts- und Ordnungssystemen und den inneren Systemen des Umgangs mit Gewaltimpulsen zu diskutieren. Für Computerspiele liefern LADAS und WILLMANN wie auch diverse andere Beiträge des Bandes hier eine ganze Reihe von Anhaltspunkten, dass und wie sie eine in der Regel folgenlose Form der Bearbeitung eines ganzen Spektrums von seelischen Energien, von spielerischem Konkurrenzdrang bis hin zu Todes- und Gewaltfantasien. Sie rühren an Atavistisches, wie WILLMANN betont - dies leitet über zu den Essays, die große Bögen von der Paläanthropologie und verhaltenswissenschaftlichen Debatten zu Zukunftsperspektiven des menschlichen Gewaltverhaltens des Menschen (PALM, "Die Geburt der Zivilisation aus dem Geist des Totschlägers") und Medienentwicklung (MARESCH) geschlagen werden. PALM bietet eine Revue der Theorien zur Gewaltanwendung als spezifisch menschlicher Kulturleistung - die differenziertere Kulturleistungen überbiete. So habe nach TOYNBEE "der waffentechnisch versiertere neolithische "Homo Faber" den ästhetisch differenzierten "Homo Pictor" verdrängt, während JOHN RUSKIN der Auffassung war, dass große Kunst einem Volk nur möglich sei, dass "based on battle" sei". So gelingt es PALM in einem weitausgreifenden Überblick über unterschiedlichste Theorien zur anthropologischen Frage nach der Gewalt immer wieder auf Inkommensurabilitäten in theoretischen Grundannahmen hinzuweisen, wobei er am Ende vor allem deterministischen biologistischen Theorien eine Abfuhr erteilt, allerdings auch einem optimistischen Kulturbegriff vom fortschreitenden "Zivilisationsprozess" (NORBERT ELIAS) skeptisch begegnet. Er fordert die Beachtung der komplexen Ursachen der Gewalt, und weist die Beweislast der Notwendigkeit von Gewalteinsatz (mit FRIEDRICH HACKER) dem zu, der sie übt. Das Paradox der Nichtlegitimierbarkeit und der Zirkularität von Gewalt als Problemlösungsstrategie hält er aber auf Grund des Ursprungs der Zivilisation aus der Gewalt, an dem er an dieser Stelle doch festhält, für längst nicht aufgelöst - unser Zivilisation könnte "mit diesem Paradox noch lange zu leben verstehen". So verstrickt das Problem der Gewalt, will man nicht in eisige Affirmationen oder naive Utopie verfallen, in Widersprüche - wobei PALM einen Schimmer anderer Möglichkeit in den Konjunktiv und die Zeitperspektive legt ("noch lange"). Zwischen einem desillusionierten "deskriptiven" Kulturbegriff, und einem optimistischen "normativen" Blick auf Kultur changiert die Theorie sehr häufig, wenn es um die Gewalt in, von und durch Medien geht. Dies illustriert auch der Essay von MARESCH. Die Diskussionsveranstaltungen des vergangenen Jahres zum "iconic turn" und "iconic clash" resümierend, stellt er Entbilderungsstrategien und Bebilderungsstrategien gegenüber, von denen in den Debattenbeiträgen die Tendenz der Wertung geblieben ist. So hat SLOTERDIJK (siehe www.iconic-turn.de) die Allmacht der Bilder und ihren Doppelcharakter der medialen und der repräsentativ-inhaltlichen Seite verantwortlich dafür gemacht, dass es keine neutralen Bilder der Gewalt geben könne. Vielmehr bestehe stets eine innere Komplizenschaft der Bilder mit ihren Inhalten. BRUNO LATOURS Position ("Iconoclash", Berlin 2002, www.iconoclash.de ) hingegen scheint der des Autors näherzustehen, der "Totalstrategien" im Umgang mit den Bildern ablehnt, und einen "dritten Weg (vorschlägt...), der den Zweifel und den Unglauben stärkt" und für den Blick für "den konstruktiven und flüssigen Charakter" plädiert. Konstruktionsbewusstsein versus Teilhabe der Medien an atavistischen Inhalten - das klingt sehr nach der Privilegierung eines normativ-optimistischen Kulturbegriffs gegenüber einem "deskriptiven" Blick auf die Problembestände der Zivilisation. Rezipientenbezug, Wahrnehmung der Selektivität und des mentalen, nicht von den Bildern und Medien verantwortbaren Prozesses der Verarbeitung entlasten zumindest die Darstellungsformen, und verweisen wohl auch auf die Autonomiepotentiale im Umgang mit Ihnen, jenseits menschheitlicher Verhängnisse. Allerdings legt er den Hauptakzent auf die Gewalt der Medien, ihre Fähigkeit, im Rahmen der Aufmerksamkeitsökonomie durch die hier steuernde Leistung von Gewalt die Ressource Aufmerksamkeit auszubeuten. Dabei hebt er vor allem auch auf den Einsatz von weicher' Gewalt ab, die im Umgang mit Gestalten des öffentlichen Lebens, zunehmend aber auch mit Personen des "daily life" betrieben wird. So konturiert er die Macht der Medien, die "Gesetzesrealitäten erschafft", bei der sich die Gefahr des Machttransfers aus dem politisch-rechtlichen Bereich und der Vermischung von im Politischen entmischten Gewalten ergibt (unter Verweis auf den Begriff der Diktatur in WALTER BENJAMINS Thesen "Zur Kritik der Gewalt"). Erstaunlich ist dann aber die dialektische Wende am Schluss des Aufsatzes. Die Medien selbst schützten am Ende vor dem Zusammenfallen von Theokratie und Technokratie, da sie sich auch bei ihrer dereinstigen Vereinigung zum Hypermedium auf "den unblutigen Gestus reiner Mitte(i)lbarkeit', der in former times einmal Gott vorbehalten war, jenem anderen Schauplatz, wo Gewalt und Gerechtigkeit koinzidieren." Am Ende läuft also die vorweggeschickte Kritik in eine medienphilosophische These der "Schließung" der Medien aus, die bei aller betonten Distanz eine Funktionsstelle der Theologie besetzen möchte. So begegnet auch hier die Schleife von Beschreibung, Desillusionierung, moralischer Empörung und hoffnungsvoller Prognostik. Das Thema der Gewalt hat es an sich, dass sich es die Debatten in derartige Widersprüchlichkeiten treibt, da die Phänomene solche sind, die in besonderer Weise Ratlosigkeit erzeugen. So empfiehlt es sich, am Ende unserer Besprechung auf zwei Konkretionsfelder zurückzukommen, die die Texte durchziehen: den Amoklauf und die militärische Entwicklung von Unterhaltungselektronik. Für jene Fälle, in denen es zu massiven Gewaltausbrüchen bei einzelnen Tätern kommt, macht PALM "außermediale Faktoren, wie zum Beispiel das familiäre und soziale Umfeld (...) Demütigungen und persönliche Kränkungen (...) das Erleben von Gewalt als erfolgreiche Konfliktlösung" verantwortlich. Amokläufer handeln zwar durchaus auch nach Vorbildern, "bestimmte Bildwelten (Horrorvideos, Ballerspiele)" sind regelmäßig Teilelement der Entwicklung, "einzelne Szenen und Situationen (dienen) als Vorlage, Blaupause oder Vorbild". Allerdings wirken sie "allenfalls stimulierend auf vorhandene Persönlichkeitsmuster, (als...) Katalysatoren". Auf einen anderen mimetischen Aspekt von Amokläufen, bei dem Nachrichtenmedien eine Rolle spielen, weist STEGEMANN hin: internationale Untersuchungen von solchen Fällen haben ergeben, dass Täter sehr häufig Medienberichte ähnlicher Taten gesammelt haben und dass solche Taten wahrscheinlich aus diesem Grund immer wieder zeitnah in globalen Serien auftreten. Nicht Ursache, aber Drehbuch und Stimulans von Taten entstammen möglicherweise verschiedenen medialen Quellen - gerade auch Nachrichtenmedien. Differenzierung von Tätertypen und Untersuchung von Medienkonsum täte Not. Inwiefern spielen Gewaltbilder oder andere aggressive mediale Formen eine Rolle bei der kleinen, aber problematischen Gruppe der aktiv Gewaltbereiten? Das Gewaltthema drängte sich der Debatte durch die Tragik der Erfurter Bluttat auf, während es jetzt schon wieder droht, in der Versenkung zu verschwinden, weil in der deutschen Öffentlichkeit der vielfach kriegskritische Blick auf die Bombardierung Iraks den auf die eigenen Gewaltzustände verhängt. Insofern ist das Erscheinen dieser Sammlung zu diesem Zeitpunkt erfreulich. Schon der große Erfolg von "Bowling for Columbine" in deutschen Kinos könnte auch auf dem guten Gefühl beruhen, dass er ja die amerikanische Gesellschaft analysiert, die vermutlich für eine nicht unbeträchtliche Zahl als Epizentrum aller Zivilisationsprobleme gilt. Wie aber erkennen wir die Anzeichen von Selbstgefährdung oder Gewaltdrohung bei Suizidalen oder Amoklauf, bei allen Unterschieden als "erweiterter Selbstmord" (STEGEMANN, vgl. NAGENBORG) zu verstehen? Wie häufig reagieren Gemeinschaften mit Ignoranz und formalistischen Mitteln auf Krisensymptome? Welche Bedingungen unserer Kultur und Gesellschaft, welche Regelungsmechanismen und Beziehungsstile spielen eine Rolle für solche Taten, für die Demütigungen und Wertentzüge, die ihnen in der Regel vorausgehen? Besonders heikel ist die Frage, die Rötzer in seinem Artikel "Aufmerksamkeitsterror" aufwirft: wenn im medialen Kampf um die Ressource der Aufmerksamkeit die Verlierer, die zur Unbekanntheit verurteilten, sich in die "Aufmerksamkeit bomben", an eine gerechte Verteilung aber hier noch weniger als in der materiellen Ökonomie Gleichheit zu erwarten ist, da "Prominenz (... sie) von vorneherein" ausschließt, fragt sich, ob hier nicht eine viel fundamentaleres Argument für Bilderverbote vorliegt - oder eine Aporie, die die Mediengesellschaft unweigerlich ertragen muss. Dennoch, es sind ganz bestimmte Charaktere, die Brutalitäten wie in Erfurt begehen. Die Frage ist dann nicht so sehr, warum andere Kompetenzen zum Umgang mit derartigen biographischen Krisen besitzen, oder dass sie einen differenzbewussten Umgang mit medialen Gewaltspielen haben. Zensurdebatten stellen dann nur einen Bestandteil von Verdrängungsstrategien zur schnellen Scheinlösung komplexer Probleme dar, die je spezifische Individuen und ihre Gemeinschaften, klimatische Fragen der sozialen und politischen Kultur betreffen - gerade auch angesichts einer sich globalisierenden Kultur der Konkurrenz. Eine Präventionsdebatte, die auch eine Debatte über nicht-physische soziale Gewalt sein müsste wird auch in der hier besprochenen Publikation nicht hinreichend geführt. Dazu bedürfte es einer konzentrierten theoretischen und von Praxiswissen unterfütterten Debatte, zu der die hier versammelten Beträge eine ganze Reihe von Anregungen und Fragestellungen beitragen. Welche Epiphänomene es erzeugt, dass der Prozess der Globalisierung des Konkurrenzprinzips gerade gegen nicht integrierbare, Nationalchauvinismen oder Fundamentalismen anhängender Gegner zunehmend militärisch robust abgewickelt wird, wäre weiterhin zu fokussieren. Dass etwa die herkömmlichen militärischen Trainingsspielen stärker mit Elementen der Einfühlung und der Integration von "Gestimmtheit (der Spieler, R.W.) oder körperlicher Befindlichkeit" versehen werden sollen (FLORIAN RÖTZER, "Wirklichkeit, Realismus und Simulation"), stellt den Versuch dar, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Simulation (die bei persönlichkeitsgestörten Gewalttätern innerlich durch mangelnde Empathie unterlaufen werden) mit den Mitteln der Einfühlung aufzuweichen. Ein emotional intelligentes Reagieren auf die seelischen Gegebenheiten eines Gegners oder einer Volksmenge wird hier trainiert - wenn es gelingt. Noch handelt es sich nur um Entwicklungskonzepte, an denen allerdings schon seit längerem in Zusammenarbeit mit Soziologen geforscht wird. Es ist natürlich völlig unabsehbar, was es bedeuten würde, wenn es hier ganz neue Wege er Ausbildung zum "warm killer" gäbe, und ob und mit welchem Folgen dies in den Wohn- und Teenagerzimmern ankommen würde. Aber das Interesse an wissenschaftlich sachkundiger Beeinflussung und Gestaltung emotionaler Haushalte in kriegerischen Zeiten ist vorhanden. Wieder befinden wir uns auf dem "lost highway" der Gewaltschleife, zwischen Realität und Virtualität, zwischen Unheilsweissagung und beruhigender Hoffnung. Der entlarvende Grundton der Berichte über solche Entwicklung scheint dabei selbst die kritische Position gegen die Systeme der Gewalt zu transportieren - trotz des Zweifels an der Möglichkeit einer letzten, humanisierenden Konsequenz. |