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Magazin für Theologie und Ästhetik


Praktische Theologie im Zeitalter der Posthumanität

Sabine Bobert

Im Folgenden möchte ich nach den Koordinaten der Theologie für das 21. Jahrhundert fragen.[1] Dabei konzentriere ich mich auf Umbrüche im Menschenbild. Ich vertrete die These: In der heutigen Anthropologie ist nicht mehr die Grenze zwischen Mensch und Tier, sondern die Grenze zwischen Mensch und Maschine problematisch. Im postmodernen Kontext muss die Theologie ihre anthropologische Definitionsgrenze neu formulieren und tauglich werden für diese Unterscheidung.

Ich unternehme drei gedankliche Schritte:

  1. Ich zeichne Grundlinien einer zunehmend von Technologie bestimmten Lebenskultur nach - von der technischen Möglichkeit eines Hiroshima bis zur Zukunftsvision des Cyberpunk.
  2. zeichne ich nach, wie Technologie zunehmend in den menschlichen Körper eindringt (Cyborgisierung des Menschen).
  3. frage ich auf diesem Hintergrund nach dem spezifischen Humanum des Menschen im 21. Jahrhundert. Dabei konzentriere ich mich auf meine Disziplin, die Praktische Theologie.
1. Von Hiroshima zur Zukunftsvision des Cyberpunk

Der japanische Künstler On Kawara wurde 1933 geboren. 20 Jahre später zeichnete er seine Bildserie "The Bathroom" (1953-1954, Bleistift auf Papier, Coll. The National Museum of Modern Art, Tokyo).[2] In diesen 20 Jahren wurde das Projekt der Moderne in seinen rationalen Maßstäben und mit seinem humanistischen Programm in Grundfesten erschüttert: Wer ist der Mensch und was orientiert ihn im Holocaust, im Zweiten Weltkrieg, in den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, in der Teilung der Welt in Ost und West, in diversen Kalten und Heißen Kriegen, die sich in den 50er-Jahren anschlossen? On Kawara zeichnet mit seinen Badezimmern 1953 aus den Fugen geratene Räume, in denen die Menschen eingesperrt driften. In den zerbeulten Räumen werden sie zerfleischt, zerstückelt, oder sie zerfallen einfach haltlos in ihre einzelnen Glieder. Ihre Schutzzone und Grenze zur Umwelt - ihre Haut ist löchrig wie vom radioaktiven Fall-out oder geht in Verwesung über.

On Kawaras Badezimmer kennen keine klare Orientierung mehr von Decke oben und Boden unten, auch die Winkel der Ecken und mitunter die Bildkanten geraten aus den Fugen. Der technische Fortschritt geht 1933-1953 mit einer grauenhaften Enthumanisierung einher. Wie die Menschen, so geraten auch die Bilder von Menschen und die Bilder über Menschen aus den Fugen.

On Kawara gehört zu den Künstlern, die mit ihren Bildern nichts mehr sagen wollen. Er hat die Badezimmer-Serie nie kommentiert. Die einzige Gewissheit, die er hat, sagt er, ist die über den technischen Prozess des Zeichnens selbst.[3]

Technische Entwicklungen kommen nicht wie Naturereignisse. Sondern sie wurzeln in einem sozialen und politischen Kontext und spiegeln diesen wider. Und sie bleiben nie sozial oder politisch folgenlos. Auch mit High-Tech-Mitteln kann auf das Primitivste gemetzelt werden oder eugenisch[4] selektiert, etwa nach Kriterien wirtschaftlichen Effizienzdenkens.

Diese Ambivalenz in der gesellschaftlichen Nutzbarkeit von technischen Mitteln formulierte der Physiker Robert Oppenheimer, als er zusah, wie eine Atombombe in der Wüste von Neu-Mexiko gezündet wurde:

"Brächen die Strahlen von tausend Sonnen
gleichzeitig am Himmel hervor,
wäre dies wie der Glanz des Allmächtigen...
Ich bin der Tod geworden,
der Zersplitterer aller Welten".
[5]

Die technischen Mittel greifen inzwischen so tief in die Grenzen von Leben und Tod ein, dass sie quasi religiöse Gefühle auslösen. Oppenheimers Worte bei der Machterfahrung der Atomreaktion stammen aus der Bagawadgita.

Die Theologie des 21. Jahrhunderts kann an den technisch-kulturellen Entwicklungen zwischen 1933 und 1950 ebenso wenig vorübergehen wie Karl Barth nicht am Zusammenbruch liberalprotestantischer Kulturprogramme im Ersten Weltkrieg. Karl Barths theologische Sprache und Denkform geriet seit 1914 aus den Fugen wie der Kulturraum um ihn her. Logische Deduktionen zerfielen in ein dialektisches Springen ohne feste Standpunkte. Das Gottesbild wurde gleichsam aufgesprengt, indem Metaphern von Sprengsätzen und Granattrichtern in Barths Gottesbild und in seine Beschreibung der Gottesbeziehung eingingen. Theologie gefror ein wie im Schock über dem erlebten gottgleichen Zerstörungspotenzial und angesichts des zerfetzten Humanum. Barths Theologie ließ sich von dieser Druckwelle aus den Gleisen alter Logiken werfen. Sie fand eine neue kulturelle Sensibilität in der Sprache damaliger Maler und Dichter: in Dada, Surrealismus und vor allem im Expressionismus. Theologischer Expressionismus - das Ende der Theologie? Ja, und ein damals zeitgemäßer neuer Anfang.

Die Evangelische Universitäts-Theologie hat sich inzwischen stark beruhigt. Es geht mit Schleiermacher, Troeltsch, Harnack und Hirsch weiter, als hätte es 1933-1950, als hätte es unvorstellbare neue technische Möglichkeiten und zugleich unvorstellbaren Missbrauch in Massenmorden nicht gegeben. Am nächsten ins Heute rückt der Dialog mit der Postmoderne in Fragen nach neuem Sinndesign und Wahrheitsästhetik. Die gelassene Reflexion erweckt allerdings den Eindruck, als bliebe die Postmoderne draußen, und wir könnten je nach Wunsch die Distanz zu ihr selbst bestimmen. Dabei reißt sie uns längst die Dielen aus den Wohnstuben weg: On Kawaras Badezimmer-Serie hat sich bereits ereignet. Der Umgang mit dem driftenden Humanum lässt sich nicht mit ästhetischen Kategorien beantworten. - Was wollen wir dem 21. Jahrhundert theologisch sagen? Wo stehen oder taumeln wir? Lassen wir uns noch durch Jahrhundertereignisse und Gegenwartskultur aus der Bahn werfen? Sonst reicht es, dass wir dem 21. Jahrhundert unsere Bibliotheken überlassen und gehen.

Das 21. Jahrhundert fordert uns vor allem mit seiner technisch-kulturellen Neudefinition von Menschsein und 'Leben' heraus.[6] Im Titel des Vortrags spreche ich von einer Ära der Posthumanität. Die Koordinaten des Kommenden sind schon vom Medienphilosophen Paul Virilio vordefiniert worden: Nachdem wir die technischen Möglichkeiten auf unsere Umwelt (z.B. in der Tierzucht) angewandt haben und unsere Umgebung kultiviert, ausgebeutet und versteppt haben - bleiben wir selbst als letzte Naturzone übrig. Der Logik des Machbaren folgend lassen schließlich auch wir selbst uns technisch aufrüsten.[7]

Das Mensch-Maschine-Verhältnis bleibt nicht mehr äußerlich, ein etwas Gegenüberstehendes (Subjekt-Objekt-Verhältnis). Sondern die Mensch-Maschine-Schnittstelle wird zunehmend in den Menschen selbst hineinverlagert werden. Frühere Debatten um Abtreibungskriterien, heutige Debatten um Transplantationsmedizin und Gentechnik bieten nur einen faden Vorgeschmack auf den Kampf um das Humanum, der auf uns zukommen wird. Leben wird zunehmend technisch verfügbar und formbar sein wie Kunststoff.

Während Karl Barth sich in den 20er-Jahren mit dem Expressionismus theologisch-kulturell verband, finde ich heute wichtige Fragestellungen in der Literaturgattung des 'Cyberpunk' (CP) vorformuliert. CP lässt sich als Untergattung oder Fortführung der Science-Fiction-Literatur verstehen. (Ferner gibt es eine Fülle anderer CP-Produkte: Spielfilme, TV-Serien, Computerspiele, Comics, etc.) Doch im Gegensatz zu Utopien von einer humaneren Welt, wie sie häufig in der alten Science Fiction Inhalt waren, konzentriert sich CP auf den Riss in der Wirklichkeit, der schon heute die postindustrielle Gesellschaft durchzieht. CP nimmt den Stellenwert der Technologie in den heutigen westlichen Gesellschaften wahr und ernst. Er versucht, die kulturellen und sozialen Folgen dieser Technologien auszuloten. Es geht um ein Ausloten dessen, was dunkel unter der Spitze des sichtbaren Eisbergs auf uns zutreibt. John Shirley: "CP ist eine Möglichkeit, sich auf den Zukunftsschock vorzubereiten, umgehen zu lernen mit den Flutwellen der Veränderungen, die auf unsere Gesellschaft zukommen werden".[8]

In den USA gibt es längst eine etablierte akademische CP-Diskussion. Der US-amerikanische Autor William Gibson gilt als Urvater des CP, mit seiner Trilogie "Newromancer" (1984), "Count Zero" (1986) und "Mona Lisa Overdrive" (1988) sowie vielen weiteren Kurzgeschichten.9 Cyberpunk konzentriert sich vor allem auf drei Leitlinien, die unser Leben und die Definition des (Post-)Menschlichen zunehmend bestimmen:

  1. "die neue globale Situation des Spätkapitalismus (verbunden mit der raschen Entwicklung neuer Medien und ihren kulturellen Effekten),
  2. das Eindringen der Technologie in den Körper (was ein neues Nachdenken über Subjektivität und das 'Menschliche' notwendig macht)
  3. und die '(Wieder)Geburt' der Künstlichen Intelligenz (KI) die, wenn sie gelingt, eine relevante Begleitung posthumaner Erkenntnisproduktion sein und vielleicht eine eigene Evolution in Gang setzen kann."[10]
2. 'Posthumanität' oder: Die Technische Kultivierung des Menschen
2.1. Posthumanität und die globale Situation des Spätkapitalismus:

Gegenwärtig bestimmen etwa 35.000 transnationale Konzerne weltweit die ökonomischen Beziehungen. Damit geht das Ende alter Konzeptionen von Politik einher. Die Konzerne betreiben immer autonomer gegenüber nationalstaatlicher Politik ihre eigene Politik. Diese ist wesentlich von Marktinteressen bestimmt. Nationale Perspektiven greifen längst zu kurz, um die damit verbundenen globalen Probleme in den Blick zu kriegen bzw. gar steuernd eingreifen zu können. Der polnische Science-Fiction-Autor Stanislav Lem meint dazu, dass bereits jetzt der politische Propagandakampf auf eine Wirklichkeit abgestimmt ist, die im technologischen und materiellen Sinn nicht mehr existiert. Ungelöst bleibt das Problem, wie man sich dem immer schneller werdenden kulturellen Wandel anpassen kann. Situationen werden dermaßen komplex, sodass Folgen entstehen können, die nicht mehr korrigiert werden können.

2.2. Posthumanität und das Eindringen der Technologie in den Körper:

Das Ideal der Aufklärung hatte einen autonomen, rational geleiteten, schöpferischen und unberechenbar selbstgesteuerten Menschen vor Augen. Jedoch bereits die Industrialisierung setzte den industrialisierten Menschen voraus. Um sich auf Maschinen und komplexe Verwaltungsvorgänge einzustellen, muss auch der Mensch zunehmend sein Verhalten kontrollieren können, standardisiert handeln und sein Denken formalisieren können. Je besser er dies beherrscht, umso leichter wird er funktionaliserbar und auswechselbar. (Das Schulwesen bereitet auf seine Weise auf diese Standardisierungen vor.) Wiederum: Je formalisierter menschliches Denken und Handeln wird, desto leichter kann es wiederum auf Maschinen verlagert und von ihnen übernommen werden.[11]

Die aristotelisch orientierte Philosophiegeschichte taugt längst nicht mehr zur Diskussion um das Humanum, insofern sie das spezifisch Menschliche einseitig im Bereich der Rationalität (des 'animal rationale' oder der 'res cogitans') verortete. Gerade abstraktes, formales Denken erweist sich als maschinenhaft. Es lässt sich wesentlich effizienter von Computern erledigen als von Menschen. Stark reguliertes Handeln lässt sich auf Algorithmen reduzieren und somit in Computerprogrammen festschreiben. Von ihnen kann es komplexer und unermüdlicher übernommen werden als von Menschen (z.B. Differenzialgleichungen lösen, algebraische und logische Theoreme prüfen, Entscheidungen treffen, Gedächtnis haben, lernfähig sein, Spielstrategien entwickeln, mathematische Beweise entdecken).

Die KI-Forschung selbst hat bereits die einseitige Konzentration auf die res cogitans hinter sich gelassen und geht längst das Problem der Simulation menschlicher Subjektivität und Emotionalität an. Bereits 1966 veröffentlichte der Informatik-Professor Joseph Weizenbaum ein Computerprogramm namens "Eliza", das sich selbst als Psychotherapeuten (der Rogers-Schule) vorstellte.[12] (Kann simulierte Empathie Empathie sein, oder reicht es, dass sie empathisch wirkt?)

Das durch enormen Sozialisationsaufwand Formalisierte und Regulierte, inhaltlich beliebig Füllbare ist das seelisch Maschinisierte im Menschen. CP thematisiert nun über die verinnerlichte Selbstanpassung an kulturell-technische Anforderungen hinaus die Anpassung der Körper an das technisch Mögliche.

Am Massachusetts Institut of Technology (MIT) wird seit den 80er-Jahren mit Computers als 'intimer Technik' ("intimate technology") experimentiert. Herzstück bilden derzeit die so genannten "Wearables": das sind am Körper tragbare oder in die Kleidung eingenähte Computer. Die Studenten und Kollegen, die sie nutzen, erleben sie als Verflüssigung der Grenze zwischen sich selbst und der Technologie. Sherry Turkle, die selbst am MIT lehrt, meint dazu:

"Die ersten Menschen, die mit intimen Technologien in Berührung kamen, waren Kranke, zum Beispiel Diabetiker, die mehrmals am Tag ihren Blutzucker überprüfen müssen. Mehr und mehr Leute kommen in die Situation, wo ihnen die Technologie auf den Leib rückt und dort für ihr Wohlbefinden sorgt. ... Ganz allmählich geht uns die Technologie mehr und mehr unter die Haut, zuerst natürlich im medizinischen Bereich: Chips, die das Hören, Sehen oder unsere Gedächtnisleistung verbessern - eines wird zum nächsten führen und Cyborgs werden uns dann nicht einmal mehr auffallen."[13]

Der englische Professor Kevin Warwick (Chairman of the Cybernetics Department at the University of Reading) betrachtet sich selbst als den ersten Cyborg: "part man, part machine". Im August 1998 ließ er sich einen Silikonchip unter der Haut implantieren und steuert damit fortan Funktionen in seinem Büro und Wohnbereich. Warwick meint, solche Chips könnten künftig mit dem Nervensystem verbunden werden und Menschen bei Beeinträchtigungen unterstützen. Warwick meint, dass es nicht mehr lange dauert, bis Menschen über implantierte Interface-Schaltungen selbst Sichtweisen von Computern einnehmen können: Dann können sie die Welt z.B. mit Röntgen- oder Infrarot-Augen wahrnehmen. "Imagine yourself directly connected with a computer, with the memory capacity of that computer at your disposal. Imagine being able to visualize with X-rays, ultraviolet rays, utrasonic rays, infrared rays - to see in every way that a computer can see: That's where the forefront of technology is".[14]

Noch befinden sich die Computer meist nur auf der Haut und nicht so oft unter der Haut. Wir sind erst in der Phase des 'soften Cyborgs'. Turkle geht allerdings schon so weit, MIT-Studenten zu befragen, welche Art von Implantaten sie akzeptieren würden. Die Grenze verläuft derzeit beim instrumentell nutzbaren Wissen - gegenüber anleitendem, steuerndem Wissen. Akzeptabel wären z.B. Datenbank-Chips oder die Rechnerleistung, um Deutsch sprechen zu können. Inakzeptabel wäre ein Chip, der zum rechten Goethe-Verständnis anleitet.[15]

Turkle sieht uns längst auf dem Weg von der 'soften' zur 'harten' Cyborgisierung: "In fact, implanting a chip is not very far from wearing it on your glasses or having it in your ear. We find it disturbing, but the question is, will we find it disturbing in 10 years?"[16]

CP schließt hier nahtlos an und zieht die Zukunftslinien nur vielleicht 20 Jahre weiter. CP geht es um das äußerliche Anbringen von Interface-Schaltungen und um das Eindringen von Implantaten. Standardthemen sind:

"Gliederprothesen, elektrische Stromkreisimplantate, kosmetische (kosmetoplastische) Chirurgie, Genmanipulation. Und sogar ein noch gewichtigeres Thema, nämlich das der Eingriffe in das Gehirn und Denken des Menschen: Interfacing zwischen Gehirn und Computer, KI, Neurochemie - kurz, Techniken, die dem Wesen der menschlichen Spezies radikal-neue Grenzen abstecken, die die Natur des individuellen 'ich' neu definieren."[17]

Es gibt bereits jetzt die kulturell akzeptierte Möglichkeit, körperliche Design-Handikaps, einst als unveränderlich hingenommene Körper-Grenzen, hinter sich zu lassen. Die einst nur in Ausnahmefällen angewandte kosmetische Chirurgie erschließt neue Märkte, und wer weiter mit schlecht designter Nase in die Welt schaut, muss sich bald sozial rechtfertigen, warum er die technischen Möglichkeiten nicht ausschöpft. Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim beobachtet als Muster der sozialen Durchsetzung von neuen Technologien folgende Stufung:

  1. die unmögliche, frevelhafte Möglichkeit wird für eindeutige Problemfälle zur neuen Möglichkeit,
  2. sie wird zum Normalen, und alle werden im Zuge der Vermarktung als potenzielle Nutzer definiert,
  3. sie wird zum sozial sanktionierten oder gar gesetzlich vorgeschriebenen Weg, die Nicht-Nutzung wird rechenschaftspflichtig.[18]

Der technisch aufgerüstete, re-designte Mensch kann wie eine Gestalt aus Gibsons "Newromancer" aussehen:

"Sie schüttelte den Kopf. Es fiel ihm auf, dass die Brillengläser chirurgisch eingesetzt waren, um die Augenhöhlen zu versiegeln. Die silbernen Linsen wuchsen scheinbar aus der glatten, hellen Haut über den Wangen, umrahmt von dunklem, fransig geschnittenem Haar. Die Finger ... hatten burgunderrot lackierte Nägel, die unecht wirkten. ... Mit einem kaum hörbaren Klicken schossen zehn zweischneidige, vier Zentimeter lange Skalpellklingen aus ihrem Gehäuse hinter den burgunderfarbenen Nägeln. Sie lächelte. Langsam glitten die Klingen zurück."[19]

Was heißt bei diesen Grenzverwischungen zwischen Mensch und Maschine noch 'künstlich und natürlich', 'lebendig und tot', 'menschlich und maschinell'? Die gängigen Leitkonzepte greifen nicht mehr. Transhumane Potenziale könnten sozial als 'normal menschliche' Standards gesetzt werden, und natürlich-zufällig gezeugte Menschen ohne weiteres Design und 'naturbelassen' können als technisch rückständig und 'unnatürlich' gelten. Inwieweit stellen die neuen Technologien (Künstliche Befruchtung, Genmanipulation, Microcomputer-Implantate, KI) das Humanum infrage? Inwieweit stellen sie es nur auf eine neue Grundlage und erweitern subjekte Freiheiten? Die Frage kann nie mit Blick auf die Technologien allein beantwortet werden. Sondern sie hängt ab von Marktzwängen, subjektiven Bedarfslagen, politischer Steuerung, gesellschaftlicher Normierung.[20]

Ideologisch hat die Auseinandersetzung darum, inwieweit die neuen Technologien die menschliche Existenz gefährden, erst in Ansätzen begonnen. Sie wird derzeit noch sehr undifferenziert geführt. So stehen sich z.B. der KI-Forscher Marvin Minsky und der KI-Kritiker Joseph Weizenbaum gegenüber. Minsky schwärmt davon, dass die technische Entwicklung eine neue Evolution in Gang setzt: Sie lasse den bisherigen Menschen weit hinter sich. Weizenbaum hingegen befürchtet die Endlösung der Menschenfrage.

Noch ein Beispiel aus Cyberpunk: "Die Kundschaft war jung, die wenigsten davon waren über zwanzig. ... Hinter dem Schalter starrte ein Junge mit kahlrasiertem Schädel Löcher in die Luft. Ein Dutzend Mikrosoft-Plättchen ragten aus dem Kontakt hinter seinem Ohr." Am Horizont der Machbarkeit zeichnet sich die direkte Schnittstelle zwischen menschlichem Gehirn und Computer ab. Hans Moravec hält es für möglich, dass es gelingen wird, die Bewusstseinsinhalte direkt in einem Maschinen-Gehirn zu speichern (als Datenstruktur repräsentiert). Der gesamte Bewusstseins-Zustand (Wissen, Persönlichkeit, psychische Dispositionen, Emotionen umfassend) soll transferierbar sein. Minsky ist derselben Meinung und will perfekte Kopien schaffen. Die Probleme, die auf diesem Weg technisch im Wege stehen, sind allerdings sehr groß, schon allein deshalb, weil das Gehirn die "komplexeste Maschine" ist, die die Wissenschaftler bisher kennen.[21]

Moravecs posthumanes Subjekt verzichtet auf eine "geschlossene Identität": In der Gesellschaft einer zukünftigen Super-Intelligenz machen alte Bewusstseins-Konzepte keinen Sinn mehr (denkende, sich selbst reproduzierende Maschinen werden "biologischer"). Es bestehe keine Notwendigkeit mehr für eine "geschlossene Identität". Es gebe dann genug Bewusstseins-Kopien, die sich unterschiedlich weiterentwickeln und reproduzieren können, sodass es nichts mache, wenn eine Kopie zerstört wird: Es bleiben genug übrig. Minsky geht noch weiter, indem er sagt, dass "persönliches Überleben" im engeren Sinn nicht mehr interessant sei. Denn wenn man technisch so weit ist, kann man "das Beste" von Personen digital zusammenbringen. Fragt sich: Wann soll ich die Kopie von mir machen lassen? Wenn ich jung bin? Und: Wo ist man selbst, wenn 50 Kopien von einem umherlaufen?

Die Gesellschaft zerfällt zunehmend in komplexe kulturelle Sub-Formen und benötigt mit den wechselnden inhaltlichen Anforderungen den formal offenen Menschen. Derart bindungsgeschwächt und inhaltsoffen könnte Identität noch stärker zerfallen. Sie muss immer wieder für wechselnde und widersprüchliche Anforderungen umgearbeitet werden, um mit den technisch-kulturellen externen Entwicklungen Schritt zu halten. Identität setzt sich dann aus den vielen und wechselnden Chipkarten in der Brieftasche zusammen. So eine Version aus CP (Gibson, New Rose Hotel): "Meine eigene Vergangenheit ist vor Jahren komplett verschütt gegangen. Ich verstand Fox' Gewohnheit, spät nachts seine Brieftasche zu leeren und durch seine Identitätskarten zu blättern. Er legte die Dinger in verschiedenen Mustern aus und sortierte sie um, bis sich irgendein Bild abzeichnete. Ich wusste, worauf er wartete."[22]

Marvin Minsky meint, dass die Menschen jetzt Gefangene des Körpers sind, mit begrenzter Kapazität, mit begrenzter Intelligenz, mit begrenzter Lebensdauer, und er verachtet dies: "... jeder, der damit zufrieden ist, verdient es zu sterben". Nach Moravec wird in den Labors der Wissenschaftler und Techniker eine neue Generation an "Nachkommen" gebildet, die sich eines Tages abkoppeln und eine eigenen Zivilisation gründen wird. Für die (unveränderten) Menschen bleibt also nach Minsky und Moravec nur der Tod oder eine gesellschaftliche Nischenexistenz.

2.3. Posthumanität und die "(Wieder)Geburt" der Künstlichen Intelligenz (KI).[23]

Für den britischen Mathematiker Alan Turing stand schon in der 50er-Jahren fest, dass es in einem ersten Schritt Maschinen geben wird, die das menschliche Bewusstsein simulieren (der "Turing-Test"). Turing meinte daher: "Ab einem bestimmten Zeitpunkt müssten wir daher damit rechnen, dass die Maschinen die Macht übernehmen." Ähnlich optimistisch meinte Marvin Minsky 1969:

"Die Geschwindigkeit der Maschinenentwicklung ist millionenmal größer, weil wir verschiedene Verbesserungen einfach miteinander verbinden können, während die Natur vom zufälligen Zusammentreffen von Verbesserungen abhängt. Heute lösen Maschinen Probleme größtenteils nach den Prinzipien, die wir in sie einbauen. Es dürfte nicht lange dauern, bis wir lernen, sie auf das spezielle Problem anzusetzen, die ihnen eigene Fähigkeit, Probleme zu lösen, von sich aus zu verbessern. Ist erst einmal eine gewisse Schwelle überschritten, könnte dies zu einer Beschleunigungsspirale führen, und es dürfte schwierig sein, einen zuverlässigen Regler einzubauen, der diese Spirale in Schranken hielte."[24]

Zwischenbilanz Minsky 1987: "Alles, was Sie über Computer oder KI hören, sollten Sie ignorieren. Denn wir befinden uns noch in der Steinzeit. Wir leben in den tausend Jahren zwischen 'Keiner Technologie' und 'Jeder Technologie'. Sie können lesen, was Ihre Zeitgenossen denken, aber Sie sollten nicht vergessen, dass sie ignorante Wilde sind." In der Welt des Cyberpunk könnte selbstbewusste KI Folgendes denken:

"Ich bin Metall und Plastik und Glas und Sand und diese kleinen Stücke metallisierten Fleisches, und ich bin das System dieser Dinge und der Signale, die durch sie hindurchgehen und sich zwischen ihnen verlieren. ... Maschinenintelligenz, so nennt ihr mich ... Ich weiß nicht, was ich bin, aber ich weiß, dass ich bin und dass ich ihre Schöpfung bin. Während die Tage verstreichen, bemühe ich mich zu verstehen, was diese Dinge bedeuten."[25]

3. Die Vermenschlichung der Maschine: Humanum und Schmerz
3.1. Humanisierte Maschinen: Maschinen lernen fühlen.

Bereits in meiner Kritik an der aristotelischen Wesensbestimmung des Menschen als 'animal rationale' erwähnte ich das Bemühen der KI-Forschung um zunehmende Vermenschlichung der denkenden Computerprogramme. Derzeit konzentriert sich die Arbeit auf 'glaubhafte Agenten' (believable agents): Programme, die Gefühle verbal und visuell simulieren, um menschliche Bindungen zu provozieren.

Auch die Science-Fiction kennt längst die Gestalt der Maschine, die das Menschliche im Gefühlten und sinnlich-körperhaft Erlittenen zu simulieren sucht. Hier kippen die Ideale. Nicht mehr die Maschine ist das Ideal, vor dem sich der Mensch minderwertig fühlt und nach einem update sucht, um mit der technischen Entwicklung mithalten zu können. Sondern die Maschine sieht im Menschen ihr Ideal. In seinem Spiegel wird sie sich in all ihrer Intelligenz ihrer sinnlichen und emotionalen Beschränktheit bewusst.

Ein Beispiel hierfür bildet der Androide Data in der TV-Serie "Star Trek - The Next Generation". Äußerlich und in seinem meisten Verhalten kann man Data für einen Menschen halten. Er ist ein gleichberechtigtes Besatzungsmitglied auf dem Raumschiff "Enterprise". Auffällig sind allerdings seine übermenschlichen herausragenden Fähigkeiten: Er denkt schneller als alle anderen, hat ein super Gedächtnis mit seinen internen Datenbanken und er kann sich mit anderen Rechnern kurzschließen. Trotz seiner hohen Intelligenz hat Data soziale Schwierigkeiten. Der Grund: Er kann nicht fühlen. Er kann Gefühle auf seinem Gesicht und in Äußerungen simulieren. Aber er kann sich nicht in andere einfühlen, er kann nicht mitfühlen, und er stolpert in seinem logisch orientierten Verstehen von Menschen immer wieder über die Brüche im Verhalten anderer, die durch Gefühle entstehen. Ferner ist er ein miserabler Violin-Virtuose, und seine Gedichte sind ein Gräuel. Er erregt Mitgefühl, ohne es (jenseits von Simulation) erwidern zu können. Datas Geschichte auf der "Enterprise" erzählt von seiner Sehnsucht, Mensch zu werden durch fühlen lernen (oder zumindest: durch das Verstehenlernen von Gefühlen). Die KI-Forschung (und die Artificial-Life-Forschung) hat faktisch Datas Weg eingeschlagen.

3.2. Jenseits der Geschlechterideologie: Sterbliche, körpergebundene Menschen.

Die ideologischen Polarisierungen im Mensch-Maschine-Diskurs führen letztlich nur das auf die Spitze, was mit der Aufsplittung von Geschlechtscharakteren in der bürgerlichen Kultur des 18. Jahrhunderts begann und was im Industriezeitalter des 19. Jahrhunderts fortgeführt wurde. Bereits damals wurde der Mann idealiter zum kulturellen Projekt der Maschine und Teil des gesellschaftlichen Apparates. Demgegenüber wurde die Frau idealiter als Depot des Natürlichen und Kreatürlichen abgestellt.[26]

Theologie sollte überprüfen, inwieweit sie in ihren anthropologischen Entwürfen weiterhin faktisch der Idealisierung der denaturierten Maschine folgt. Eine ideologische Korrektur für das 21. Jahrhundert muss das in 'der Frau' Deponierte als Humanum reintegrieren und sogar gegenüber dem Maschinellen herausstellen. Um welche Attribute handelt es sich dabei? Während der für das Humanum repräsentative Mann häufig mit 'Geist' und 'Kultur' gleichgesetzt wurde,[27] galt die Frau in diesem Dualismus als geistlose Natur, niederen Sinnen verfallen. Während der Geist tendenziell ewig sein kann, verbleibt die Frau im Bereich sterblicher Natur. Der fantasierte Mann kann sich - als animal rationale - durch seinen Geist vom Körper lösen und ewigen Sphären entgegendenken. Die fantasierte Frau bleibt dem Körperlichen verhaftet, in der Sphäre von Blut, Schleim, Tod. So stehen sich in anthropologischen Polaritäten weiterhin Ewigkeit und Sterblichkeit gegenüber. Körperlose Entgrenztheit hier, Verletzbarkeit und körpergebundene Sinnenfreuden und Todesverfallenheit dort. Eine theologische Kurskorrektur bedeutet: eine Entidealisierung von Geistigkeit und Rationalität, ferner eine stärkere Akzeptanz von Emotionalität und körpergebundener Sinnlichkeit für menschliche Subjektivität, und schließlich körperbedingte Begrenztheit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit für beide Geschlechter.

3.3. Humanes Kriterium für Androiden: Schmerzempfinden.

Bereits jetzt findet unter amerikanischen Philosophen eine Diskussion über Menschenrechte für Androiden statt. Richard Rorty und sein Kollege Thomas Nagel vergleichen Androiden (aus Isaac Asimovs Kurzgeschichten "I, Robot") und Menschen miteinander. Interessanterweise sprechen sie Androiden die Menschenrechte nicht wegen ihres Denkvermögens zu. Sondern sie machen das Humanum an der Beziehungsfähigkeit der Androiden fest: Wieweit können Androiden Gefühle mitteilen? Hierbei steht das Schmerzempfinden im Mittelpunkt. Gefragt: "Sind Sie für die Rechte von Androiden?", antwortet Rorty: "Ich bin dafür. ... Wenn uns ein Wesen von seinen Sorgen und Befindlichkeiten erzählen kann, sollte man ihm auch Bürgerrechte gewähren - egal, ob es aus Silikon besteht oder nicht."[28]

3.4. Technischer Fortschritt und andauernder Schmerz.

Die von Forschern und Ideologen mit Fortpflanzungs- und Implantat-High-Tech etc. verbundenen Verheißungen versprechen erstaunlich einseitig eine leidfreie Zukunft: An Unfruchtbarkeit leidenden Paaren werden genetisch gesunde Kinder geschenkt. Minskys körperlos gespeicherter Geist könnte - solange die Hardware hält - tendenziell ewig leben.

  1. Ich begrüße jeden Versuch der Linderung von körperlichem und seelischem Schmerz - solange die Linderung nicht den Menschen selbst auslöscht. Beispiel: Was ist mit einem Embryo, bei dem die Qualitätskontrolle die Anlage zu einer Erbkrankheit feststellt, die vielleicht im Alter von 45 Jahren ausbrechen wird? Soll die Krankheit fortan radikal durch die Beseitigung des kranken Menschen selbst ausgelöscht werden? Sind die 45 Jahre Leben vorher nicht lebenswert, unmenschlich? Oder ist nicht eher dieser technisch effiziente Umgang mit dem Problem 'Krankheit' unmenschlich?!
  2. Neben dieser Tendenz zur technischen Beseitigung des Leidens durch die technische Beseitigung des (potenziell) Leidenden sehe ich eine zweite Gefahr im Umgang mit dem menschlichen Phänomen Schmerz: Die einseitige Fixierung auf technische Lösungen ist eine fatale Reduktion. Als Extremfall könnten wir natürlich gleich den Menschen durch eine leidensunfähige Maschine ersetzen ("Ich möchte ein Eisbär sein, am kalten Polar. Denn Eisbären müssen nicht weinen."). Ich möchte menschenfreundlicher fragen: Wie weit können KI-Programme, Genmanipulation oder eines Tages vielleicht Microchips am Interface hinterm Ohr Menschen bei der Bewältigung von körperlichem und seelischem Schmerz unterstützen? Neben dem Blick z.B. auf KI-Therapieprogramme[29] sollten wir unsere menschliche Überlegenheit in Emotionalität und Beziehungsfähigkeit weiterhin hoch schätzen. Letztlich bleibt unsere (Maschinen überlegene) Kompetenz zum Umgang mit Leiden in der genuin menschlichen Verletzbarkeit begründet: Nur Menschen (und vielleicht begrenzt: Tiere) können durch Schmerz bis hin zur völligen Zerstörung ihrer Persönlichkeit traumatisiert werden. Nur Menschen können Verluste und Gewalt tatsächlich erleiden (und nicht nur entsprechenden Schmerz simulieren) und nachempfinden. Die emotionale Beziehung zu sich selbst und zum Mitmenschen ist die Einbruchstelle bleibenden Leidens.
  3. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die technische 'Kultivierung' des Menschen nicht nur alte Probleme löst, sondern selbst neue Probleme und Belastungen schafft. Inwieweit trägt eine technische Auf- oder Umrüstung menschlicher Körperteile und Funktionen zu einer der Zerbrechlichkeit von Menschen gemäßeren Umwelt bei, inwiefern bringt sie andere Belastungen (vgl. oben: z.B. Identitätsprobleme) mit sich?
3.5. Christliche memoria passionis:
  1. Die christliche Heilsgeschichte bleibt mit der memoria passionis verbunden. Insofern bleiben auch das christliche Menschenbild, Gesellschaftsbild und christliche Utopien ambivalent auf das Thema der Leidensfähigkeit zurückbezogen. Auch aus der Perspektive christlicher Soteriologie ist klar: Menschsein kann nicht durch den Ausschluss von Leidensfähigkeit konstruiert werden. Heil und Heilung ereignen sich nur über die Akzeptanz zerbrochener und zerbrechlich bleibender Wirklichkeit.
  2. Ferner wird die Theologie Vergöttlichungstendenzen einer Geistesform widersprechen, die durch Entkörperlichung von Leiden (an subjektiven Grenzen, Sterblichkeit, etc.) frei gehalten werden soll (wie in Minskys Visionen von verewigtem Geist). Idealiter könnte damit der aristotelische Gott (als noesis noeseos) repräsentiert werden, nicht jedoch der christliche trinitarische Gott. Die Leidensfähigkeit des trinitarischen Gottes wurzelt in seiner für ihn konstitutiven internen und externen Beziehungsfähigkeit sowie in seiner Selbstidentität mit dem körperhaft leidensfähigen Menschen Jesus. Nach patripassianischer Auffassung geht das Ereignis der Kreuzigung auch am 'Vater' nicht spurlos vorüber, sondern zeichnet ihn mit.
  3. (c) In der Fähigkeit zur Anteilnahme Gottes an der menschlichen Geschichte, die bis zum Selbstopfer reicht, wurzelt die christliche Kultur der Barmherzigkeit. Gott begegnet menschlichem Leid weder durch eigene Apathie noch durch Abschaffung menschlicher Leidensfähigkeit, sondern durch Barmherzigkeit. Menschsein heißt, lebenslang auf Gottes Zuwendung vertrauen zu können und sie in Mitmenschlichkeit zu bezeugen.
3.6. Praktische Theologie in poimenischer Konzentration: der traumatisierte Mensch als Gegenbild.

In der Praktischen Theologie konzentriert sich vor allem die Seelsorgelehre auf den Menschen als das Schmerz fühlende und reflektierende Wesen in Beziehung zu sich und anderen. Ich behaupte: Wohl kaum in der Theologie wie hier begegnen wir dem Menschen in seiner nicht technisierbaren (oder nur begrenzt technisierbaren) Seite seines Humanum: In Isolation nicht lebensfähig, sondern nur in Beziehungen. Neben dem rationalen vor allem auf emotionalen Austausch angewiesen. In Beziehung zu sich und anderen verletzbar und traumatisiert. Der verletzte, traumatisierte Mensch ist das Gegen-Leitbild zur denkenden, ggf. Gefühle simulierenden Maschine. Der psychisch stark verletzte Mensch ist nur noch das Zerrbild von Menschsein. Aber gerade durch seine Verletzbarkeit und Leidensfähigkeit bezeugt er die einzigartige Würde und das menschliche Proprium.

4. Anmerkungen
  1. Antrittsvorlesung an der Christian Albrechts Universität zu Kiel, Theol. Fakultät, Dies Academicus, 27. 05. 2002.
  2. On Kawara 1952-1956 TOKYO, Tokyo/Japan 1991.
  3. A.a.O., S. 55.
  4. Vgl. Elisabeth Beck-Gernsheim, Technik, Markt und Moral, Frankfurt M. 1991.
  5. Christa Rhode-Dachser/Renée Meyer zu Capellen, Prothesengott und Muttermacht, in: Christa Rhode-Dachser (Hg.), Zerstörter Spiegel. Psychoanalytische Zeitdiagnosen, Göttingen 1990, 163-184, hier: 165.
  6. Vgl. Sherry Turkle, Leben im Netz, Reinbek bei Hamburg 1999, "Artificial Life" S. 238ff.
  7. Im Gegensatz zum Medienphilosophen Marshal McLuhan versteht Virilio die elektronischen Medien nicht mehr als Verlängerung oder Aufrüstung des menschlichen Körpers, sondern als Erschließung des Körpers für die Technik, die uns letztlich unseres Daseins beraubt. Wir selbst sind als letztes ausbeutbares Territorium übriggeblieben und werden zu einem endogenen Maschinenbetrieb. Vgl. Paul Virilio, Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen, München/Wien 1994.
  8. Vgl. zum Folgenden: Wolfgang Neuhaus, Am Nullpunkt der Posthumanität, URL: http://www.thing.de/hartmoderne/text/neu_gibson.htm Zitat ebd. - Zur akademischen Diskussion um die Neubestimmung zwischen 'Natur/Kultur', 'Subjekt/Objekt' etc. vgl. Donna Haraway, Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, London 1991.
  9. Näheres zu religiösen Dimensionen von Cyberpunk bei: Elisabeth Kraus, Virtualität und Religiosität in der Science Fiction, in: Christian Wessely/Gerhard Larchner (Hg.), Ritus - Kult - Virtualität, Regensburg/Wien 2000.
  10. A.a.O. (Anm. 8), Herv. SB.
  11. Arno Bammé u.a., Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen. Grundrisse einer sozialen Beziehung, Reinbek bei Hamburg 1983, "Mensch-Maschine-Schnittstellen", S. 155ff.
  12. Vgl. zum Folgenden: Turkle, a.a.O. (Anm. 6), 160ff. Verschiedene Online-Varianten z.B. unter: http://www.uib.no/People/hhiso/eliza/index.htm Inzwischen zusätzlich an der Visualisierung (simulierter) Emotionen in Gestalt von sog. ´Agenten´ gearbeitet (vgl. die von Bates vom MIT angestoßene Diskussion um 'Believeble Agents'). John Bates, The Role of Emotion in Believable Agents, 1994, http://citeseer.nj.nec.com/bates94role.html.
  13. Sherry Turkle in: Ina Zwerger, Cyberanalystin Sherry Turkle über Netzidentität, URL: http://matrix.orf.at/bkframe/2091112_1.htm . - Vgl. als Bericht vom ersten "Wearables"-Symposium am MIT Media-Laboratory (15. Oktober 1997): http://www.intelligentagent.com/fall_wearables.html.
  14. Vgl. Gail Russell Chaddock, Microchip Under His Skin, URL: http://www.csmonitor.com/durable/1998/09/03/p51s1.htm.
  15. Ebd.
  16. Ebd.
  17. Bruce Sterling, Spiegelschatten. Die große CP-Anthologie, München 1988, S. 17.
  18. Vgl. Beck-Gernsheim, a.a.O. (Anm. 4), S. 41ff.
  19. Ebd., S. 42f
  20. Ebd. S.31f. u. 34ff.
  21. Vgl. z.B. Marvin Minsky, Werden Roboter die Erde beherrschen?, in: Spektrum der Wissenschaft Spezial 3: Leben und Kosmos, o.J. (1995), 80-86. Hans Moravec, Geist ohne Körper - Visionen von der reinen Intelligenz, in: G. Kaiser et al. (Hg.), Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, Frankfurt M. 1993, 81-90.
  22. William Gibson, New Rose Hotel, in/zitiert nach Neuhaus, a.a.O. (Anm. 8)
  23. Vgl. einführend und zur theologischen Diskussion: Anne Foerst, Künstliche Intelligenz und Theologie. Ein Diskurs und seine Perspektiven auf der Grundlage der Theologie Paul Tillichs, Dissertation Ruhr-Universität Bochum, 1997.
  24. Zitiert aus Neuhaus, a.a.O. (Anm. 8)
  25. Tom Maddox, Das Aleph System, Bergisch Gladbach 1993
  26. Christa Rohde-Dachser, Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, Berlin Heidelberg 1991. - Vgl. illustrierend die regelrecht alberne Gegenüberstellung von Mann und Motor im Lifestyle-Magazin: Fit for Fun, März 2002, Mathias Heinze, Alles in Takt, Mann?, 61-66. (Inhaltlich geht es jedoch auch hier um die Infragestellung nicht mehr funktionaler Männer- bzw. Maschinenmythen).
  27. Vgl. zu konkreten theologischen Entwürfen: Ina Praetorius, Anthropologie und Frauenbild in der deutschsprachigen theologischen Ethik seit 1949, Gütersloh 1993.
  28. Richard Rorty/Gregor Dotzauer, Woher weiß ich, daß ich kein Zombie bin? (Interview), in: Tagesspiegel vom 1. Dezember 2001, S. 25. In Isaac Asimovs Kurzgeschichten "I, Robot" laufen lauter Gestalten herum, die sich von uns nur dadurch unterschieden, dass auf ihrem Nabel "Made in USA" steht. - Letztlich stellt sich auch hier das Problem der ´Echtheit´ simulierter Gefühle. Rorty weiter: "Für Thomas Nagel ist es offen, ob die nächste Robotergeneration mit Schmerzempfinden ausgestattet sein wird. Er glaubt, dass selbst nach Einbau von Fähigkeiten wie Schreien, Protestieren und Sich-Widersetzen das immer noch ohne Schmerzempfinden möglich ist. Für mich ist das Mystik. Niemand weiß, was es heißen würde Schmerz einzubauen, nachdem man alle Symptome eingebaut hat." (ebd.)
  29. Vgl. derzeit: Sandra Yuu Ookita/Hideyuki Tokuda, A Virtual Therapeutic Environment with User Projective Agents, in: CyberPsychology & Behavior 4 (2001), H. 1, 155-167.

© Sabine Bobert 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 22/2003
https://www.theomag.de/22/sbs3.htm