Videoclips XVIIAbgesang einer MadonnaAndreas Mertin |
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1. April 2003 - Miss Boy Toy kapituliertEin Wochenende mit einer Tagung über Madonna. Gut drei Wochen vorher hatte Madonna aus durchsichtigen Gründen ihr Video zu "American life" zurückgezogen. Nach einer langen Pressekampagne im Vorfeld mit Bildern, Gerüchten, Einblicken ins Making of entscheidet sich die Pop-Diva, ihr bereits fertig produziertes Video nach nur einem Tag Öffentlichkeit (ein Schelm, wer Böses dabei denkt) zurückzuziehen. Ihr Video, so meinte sie, könnte missverstanden werden und sie bete für die bewaffneten Streitkräfte im Irak-Krieg. Was aber könnte an der abschließenden Szene des Videos missverstanden werden? Nachdem spektakulär um Madonna herum Bilder von Tod und Vernichtung verbreitenden Bombern zu sehen waren, Pilze von Bombeneinschlägen, Schwarz-Weiß-Stills von traurigen und erschrockenen Kindern gezeigt wurden, wirft Madonna eine Handgranate, die durch die Luft wirbelt und von einer Männerhand aufgefangen wird, die den Zündhebel zieht und eine Flamme entfacht, die sich als Teil eines als Handgranate stilisierten Feuerzeugs erweist. Die Kamera zieht nach oben und man sieht das dümmliche Gesicht eines George. W. Bush Doubles, der sich eine Zigarre anzündet. Was konnte an dieser abschließenden Szene missverstanden werden? Konnte jemand glauben, dies habe nichts, aber auch gar nichts mit dem Irak-Krieg zu tun, sondern Madonna habe mit einem schief geratenen Bild zeigen wollen, dass der aktuelle Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika auch auf Modenschauen geht, wo er nicht hingehört? Unsinn! Hätten Jugendliche das Video dahingehend missverstehen können, dass es von vorneherein zur Teilnahme am Krieg aufruft und dass der Einsatz von Bomben und Handgranaten so ungefährlich sei, wie ein Feuerzeug? Blödsinn! Nein, diese Missverständnisse sind nicht denkbar, anders als bei vielen der Videoclips Madonnas gibt es für diesen Schluss des Clips nur eine Lesart. Selbstverständlich ist diese Lesart, blickt man auf den gesamten Clip und den Liedtext, nur eine sekundäre bzw. tertiäre Lesart. Die Hauptthemen sind andere. Dennoch wird man das Ende/den Höhepunkt des Clips nicht einfach mit Worten wegschieben können. Der Liedtext handelt vom American life, für das popkulturell Madonna wie keine andere ihrer Branche steht. Dieses, für das sie sich im Rahmen ihrer Karriere abgestrampelt hat, ist ihr nun fraglich geworden. In geradezu unglaublich naiver Weise verabschiedet sie sich textlich von einem oberflächlichen Lebensstil, den sie vorher populärkulturell en vogue gemacht hat. So einfach ist das also. "Nicht ich, sondern die Schlange Kapitalismus betrog mich, so dass ich aß" (nach Genesis 3, 13)? Gibt es für Madonna keine Verantwortung für das, was man jahrzehntelang vorher sagte und vertreten hat? "And I just realized that nothing is what it seems" sagt jene, die als Inkarnation Baudrillardscher Thesen gelten kann und die Scheinhaftigkeit der Existenz von Anfang an zur Erkenntnismaxime ihrer Fans bestimmt hat. Was soll man dazu sagen? "Ahh, fuck it" Auf der narrativen Bildebene des Videoclips, darin hat Madonna recht, geht es nicht um den Irakkrieg, nicht um das Zerfetzen der Körper von Zivilisten in Bagdad, nicht um die größte Zerstörung von Kultur seit dem Mongolensturm 1258 (warum eigentlich nicht, bei diesem Liedtext?). Auf der Hauptebene des Clips wird Madonna umgetrieben von der Sorge um die Gewichtsverteilung auf dem Laufsteg - gewiss das drängendste Problem einer an Sorgen armen Wohlstandsgesellschaft. Man sieht also gestylte Models, gertenschlanke Mannequins, alerte Dressmen, die auf dem Laufsteg wandeln und das perfekte Bild einer Oberflächengesellschaft repräsentieren - ganz so, wie es Madonna in den letzten 20 Jahren auch getan hat. Ihnen werden auf den Abort geschobene mollige Modells, die dem gängigen Oberflächendesign nicht entsprechen, gegenübergestellt, um dann, unterstützt von Madonna, ausbrechen und den Laufsteg und die laufende Show nun für sich usurpieren. Madonna dazu im MTV-Interview: "Ich wollte ein Statement darüber machen, wie sehr Leute vom Thema Schönheit und gutem Aussehen besessen sind und in einer Traumwelt leben." Deshalb habe sie explizit mollige Models ausgesucht: "Sie sind echt. Sie sind üppige Girls, wunderschön und können einfach spitze tanzen! ... Dieses Tabu wollte ich antasten, denn normalerweise werden Leute mit Speckrollen nicht oft ins Rampenlicht gestellt." Wie mutig! Und es wird noch tränenreicher: "Als ich anfing, meinten alle: Wow, sie ist pummelig, das ist cool! ... Und dann ging ich durch 'ne Phase, in der ich einfach Bock hatte viel zu trainieren. Es gab einige Leute, die enttäuscht waren. Ich glaube, ich war so was wie ein Vorbild für die molligen Mädels. Und jetzt bin ich wieder zu meinen Wurzeln zurückgekehrt! Schwarz macht ja schlank." Was soll man dazu sagen? "Ahh, fuck it" In diese Emanzipation der molligen Modells (welche gravierende Änderung des amerikanischen lifestyles, als ob nicht so schon ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung hoffnungslos verfettet wäre) sind die Bilder der Soldaten, der Bomber, der Kinder und eben des zigarrerauchenden Präsidentendoubles einmontiert: "I'm just living out the american dream". Was kann man daran missverstehen? Madonna aber zieht einen Tag nach(!) der Erstausstrahlung (wie geschickt!) das Video mit folgender Begründung zurück:
Wie kann man das verstehen? Da gibt es nun diverse Möglichkeiten.
Wie immer man es dreht und wendet, die Opfer in diesem Angriffskrieg gegen den Irak wurden zum Spielball kulturindustrieller Interessen gemacht. Ob nun Variante 1, 2 oder 3 - am wahrscheinlichsten ist Variante 3b -, immer aber sind der Madonna die Opfer offensichtlich gleichgültig, sie spielen schlichtweg keine Rolle im Rollenspiel der geldversessenen Pop-Diva, die aber eins auf jeden Fall der Öffentlichkeit kund tun wollte: respect to the armed forces, who I support and pray for. So wird das vorher vielleicht noch ambiguitär zu interpretierende Bild der uniformtragenden Madonna in diesem Video-Clip zu einem mehr als eindeutigen. "Ahh, fuck it". 2002/2003 erleben wir das Ende zweier Pop-Ikonen, die über Jahrzehnte den Markt bestimmt haben: der weinerliche Michael Jackson und die charakterlose Madonna werden im Gedächtnis bleiben. Ein Wochenende mit einer Tagung über Madonna. Gut drei Wochen vorher hatte Madonna aus durchsichtigen Gründen ihr Video zu "American life" zurückgezogen. Die versammelten Wissenschaftler diskutierten: Cultural Studies, Authentizitätszuschreibungen, Sexualität, kunst- und kulturgeschichtliche Vergleiche, Gender-Theorien, Kritik am kapitalistischen Kern der Ikone Madonna. Abends goutierte man das zurückgezogene Video und ordnete es in die Werkentwicklung von Madonna ein. Aber: keine Kritik am Verhalten der Madonna, an ihrem Verrat an den Opfern des Krieges. Eine Grenze war überschritten. Die Grenzen zwischen Humanität und Inhumanität, die Grenze angesichts derer von jedem Verantwortung und Stellungnahme gefordert ist. Die Versammelten schwiegen beredt. Applizierten lieber die Begriffsapparatur der Wissenschaften auf die Pop-Ikone, deskriptiv, affirmativ. "Do you think, I'm satisfied?" Es geht nicht darum, dass Madonna nicht auch positiv zum Krieg im Irak stehen dürfte. Es gibt veritable Positionen, die sich unter Abwägung der verschiedenen Güter für eine positive Haltung zum Krieg entschieden haben. Die elementare Verirrung Madonnas ist die, dass sie die Bilder der leidenden Kinder, der Bomber und der Bombenpilze in ihrem eigenen monetären Interesse bedenkenlos instrumentalisiert hat. "Ahh, fuck it". So gesehen ist es gut, dass Madonna im Liedtext sich von der jüdisch-christlichen Erzählgemeinschaft verabschiedet hat: I'd like to express my extreme point of view / I'm not a Christian and I'm not a Jew. Die kapitalorientierte Entscheidung, nicht weiter gegen das Töten von Menschen zu protestieren, verträgt sich nicht mit der jüdisch-christlichen Erzähltradition.
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