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Magazin für Theologie und Ästhetik


Das Netz der Leinwand

Internet und Computer im populären Kinofilm

Inge Kirsner

Das Medium des 20. Jahrhunderts, der Film, trifft mit dem Computer auf ein neues Medium, dem des 21. Jahrhunderts, und ob und wie viel sie miteinander zu tun haben, darum soll es in den folgenden Überlegungen gehen.

Da erst der Medienvergleich eine Medienreferenz schafft, sollen vor der Betrachtung inhaltlicher einige strukturelle Referenzen bedacht werden.

Betrachtet man den Computer nicht vorwiegend als Hardware von Rechenoperationen, sondern als Bildermaschine[1], so stößt man in Hinblick auf die Genealogie seiner Ästhetik auf die visuellen Medien, hier vor allem die Fotographie und das Kino. Deren Darstellungsformen und -konventionen eignet sich der Computer an. Und in der Form dieser Aneignung liegt die Neuheit des Computers. Dass er ein 'Neues Medium' ist, bedeutet also nicht, dass er ohne Vorbild antritt. Die Neuheit liegt vielmehr in den erweiterten Darstellungsmöglichkeiten, denn der Computer ist eine Kombination verschiedener Medien und ihrer Wahrnehmungsformen. Er ist also etwas 'kombinatorisch Neues'. Es gilt in Zukunft, seine ästhetischen Potentiale zu aktivieren, in viel stärkerem Maße, als es die Computergrafik und das Kino bisher tat.

Da ist zum Beispiel die Speicher- und Verwendungsmöglichkeit von Bildmaterial aller Art - statt einer Schöpfung aus dem Nichts (aber gibt es eine solche überhaupt?) gibt es unendlich viele Möglichkeiten der Kompilation, Montage, Konstruktion.

Hier könnte sich zudem der Traum des russischen Filmemachers Dziga Vertov von der entfesselten Kamera verwirklichen: "Befreit von der Verpflichtung, 16 bis 17 Bilder in der Sekunde aufzunehmen, befreit von zeitlichen und räumlichen Eingrenzungen, stelle ich beliebige Punkte des Universums gegenüber, unabhängig davon, wo ich sie aufgenommen habe. Dies ist mein Weg zur Schaffung einer neuen Wahrnehmung der Welt. So dechiffriere ich aufs neue die euch unbekannte Welt" [2]. Vertov hatte mit seiner Filmpraxis und seiner Theorie vom Kino-Auge vor allem das Ziel der Aufhebung der Begrenzung menschlicher Seh- und Bewegungsfähigkeiten. Was jedoch der Film (mit seinen nun 24 Bildern pro Sekunde) nur unvollkommen leisten konnte, das ist nun das mögliche Potential des Computers.

Mit neuen Medien zu neuen Welten - da ist zum Beispiel die Abschaffung der Herrschaft linearen Denkens durch die Digitalisierung. Doch ist der Film wirklich (nur) linear, also einseitig im vergleich zu den Möglichkeiten des Digitalen im Computer?

Denn auf den ersten Blick unterscheiden sich die Medien Film und Computer besonders in einem Punkt voneinander: dem der Rezeptionshaltung. Äußerlich betrachtet ist der Computer und eines seiner wichtigsten Anwendungsgebiete, das Internet, ein interaktives Medium, das Netz webt sich immer neu, je nach User-'Spiel'. Der Spielfilm hingegen erscheint als 'fertiges Produkt', ein ready-made ohne Zutun des Betrachtenden. Versuche, diese Rezeptionshaltung aufzubrechen (Ermöglichung alternativer Schlüsse bzw. der Möglichkeit, an unterschiedlichen Perspektiven teilzunehmen per Zapping, ein Versuch der beiden öffentlichen Sender vor einigen Jahren), fanden bisher keine konkreten Fortsetzungen.

Der Genuss daran, einmal nichts tun zu müssen und sich einfach nur so unterhalten lassen zu können, beruht jedoch auf einer Illusion. Das Gehirn ist bei der Filmrezeption höchst aktiv: es füllt die Leerstellen zwischen den 24 Bildern pro Sekunde und fügt die stand stills zu einem Fluss bewegter Bilder zusammen, der Film entsteht im Kopf. Dieser Kopf ist mit unterschiedlichen Vorinformationen, Lebensgeschichten, Wissensstrukturen angefüllt, was wiederum dazu führt, dass jede/r ihren/seinen eigenen Film sieht. Also webt auch hier jeder seinen Film zusammen.

Was geschieht nun, wenn diese beiden Medien miteinander aktiv, im Film miteinander verknüpft werden? Solches kann auf unterschiedlichste Weise erfolgen.

Die herkömmlichste Verknüpfung ist zugleich die langweiligste: das Internet wird mit seinen ungeheuren Möglichkeiten zum Thema eines Films, bestimmt diesen also lediglich inhaltlich, nicht formal. Die technische Herausforderung liegt dann darin, die Gesichter, die vor dem Bildschirm hängen, möglichst interessant abzufilmen. Am besten, man nimmt dazu schöne Antlitze, wie das von Sandra Bullock, so geschehen in "Das Netz" von Irwin Winkler (USA 1995). Sie spielt in dieser Verfilmung des gleichnamigen Romans von John Grisham eine Computerspezialistin, die einer verbrecherischen Organisation auf die Spur kommt, die mit einem manipulierten Sicherheitsprogramm Daten geschützter Großrechner knacken will. In diesem actionreichen High-Tech-Thriller wird die wirkliche Faszination der Datenwelten lediglich angedeutet.

Lust am Experimentieren mit dem damals noch jungen Medium hingegen beweist "Der Rasenmäher-Mann" von Brett Leonard nach einer Kurzgeschichte von Stephen King (USA 1991). Da steigen der Film und seine Hauptfiguren in das Netz ein - und es sind die ersten Computeranimationen entstanden, die zumindest einen Eindruck von der virtuellen Realität geben. Die Rahmengeschichte ist eine sehr konventionelle: der Wissenschaftler Dr. Angelo, gespielt von dem damals noch unbekannten Pierce Brosnan, verliert auf tragische Weise einen Affen, an dem er intelligenzsteigernde Computer-Experimente mit Erfolg ausprobiert hat. Als Ersatz nimmt er einen Menschen, dessen IQ unter dem des Affen liegt, den Hilfsgärtner Jobe - eine moderne Version des Frankensteinthemas. In kürzester Zeit wird durch computergesteuerte Gehirnmanipulation aus dem tumben Toren eine Intelligenzbestie mit unbezähmbarem Willen zur Macht. Er speist sich und seinen Schöpfer in das Netz ein und es läuft ein spannender Show-down. Jobe erreicht sein Ziel, nach seiner endgültigen Einspeisung ins Netz die Welt von dort aus zu beherrschen ...

Zwar bleibt der Film hinter seinen geradezu metaphysischen Plakat-Ankündigungen (engl.: "It will blow your mind!" oder deutsch: "Gott schuf ihn einfach und simpel - Die Wissenschaft machte ihn zum Gott") weit zurück. Aber ihm gebührt das Verdienst, das Netz nicht nur inhaltlich, sondern auch formal in den Film zu integrieren und Computeranimationen nicht nur als Ersatz für Modelltricks anzuwenden.

"Ich bin Kinoglaz (ich bin ein mechanisches Auge), ich schaffe einen Menschen, der vollkommener ist als Adam, ich schaffe Tausende verschiedener Menschen nach verschiedenen, vorher entworfenen Plänen und Schemata. Ich bin Kinoglaz. Von einem nehme ich die stärksten und geschicktesten Hände, von einem anderen die schlankesten und schnellsten Beine, von einem dritten den schönsten und ausdrucksvollsten Kopf und schaffe durch die Montage einen neuen, vollkommenen Menschen"[3], so schwärmt Dziga Vertov von einer zweiten Menschwerdung durch die Möglichkeiten der zweiten Schöpfung Film. Der Computer macht diesen Traum möglich, und wie bei Vertov kann auch hier keine Rede sein von einer Schöpfung aus dem Nichts: Die Animatoren des Trick- wie des Realfilms benutzen nämlich als Vorlage die Anatomie - die echte.

Dies wird deutlich beim komplett im Rechner entstandenen japanischen Film "Final Fantasy" ("Die Mächte in dir", Hironobu Sakaguchi, USA 2001), der erste Film, der mit seinen computeranimierten Figuren alle Schauspieler ersetzt.

Sämtliche Bewegungen der digitalen Stars sind hier jedoch menschlichen Ursprungs. Sie wurden mit Kameras aufgezeichnet, anschließend digitalisiert und den Bewegungen der animierten Figuren zu Grunde gelegt. Die Gesichter wurden nach Videoaufnahmen der Sprecher gefertigt, die Muskelbewegungen, die ein bestimmter Gesichtsausdruck auslöst, genau kopiert.

Zum (nicht sehr bedeutungsvollen) Inhalt: In der Logik der in Japan sehr populären interaktiven Rollenspiele der "Final-Fantasy"-Serie muss die Erde, die kurz von ihrer finalen Verwüstung steht, gerettet werden. Ein Wissenschaftler kennt die Lösung: es muss eine spirituelle Energie-Welle geformt werden, welche die feindlichen, den lebenden Wesen ihre Seele raubenden Aliens vernichtet. Seine Assistentin Aki Ross macht sich zusammen mit einer Eliteeinheit auf die Suche nach den Komponenten für die Formel, die das Böse transformiert. Faktisch sieht die sich pausenlos wiederholende Aktion dann so aus: Fliegen, landen, suchen, schießen.

Das Ziel für Film wie für Spiel nennen die Programmierer "Fotorealismus". Wenn man sich diesen Film, der wie eine Warteschlaufe zwischen zwei Computerspieleinsätzen wirkt, anschaut, dann lediglich aus Neugier: Gelingt es den Machern wirklich, Personen zu schaffen, welche die Sinne als menschlich annehmen? Fast erleichtert stellt man fest: trotz des übertrieben-natürlichen Schwunges der Haare beim Kopfwenden, den feucht schimmernden Augen der ´attraktiven´ Hauptfigur wirken die Bewegungen hölzern.

(Wie seltsam, dass hingegen die Wesen aus "Ice Age" oder "A Bug's Life" - "Das große Krabbeln" so überaus lebendig wirken und ihr 'dreidimensionaler' Hintergrund echter und 'tiefenschärfer' wirkt als jede abgefilmte reale Umgebung. Wirkt Künstliches im künstlichen Umfeld realer als 'Natürliches'?)

Eine gelungene Synthese der genannten Verknüpfungen zwischen Netz und Film stellt der kanadisch-englische Film "eXistenZ" von David Cronenberg aus dem Jahr 1998 dar. Das Netz ist hier das Gehirn selbst; Soft- und Hardware, Maschine und Mensch gehen eine zeitweise Allianz ein, die jedoch immer mehr in die jeweilige Existenz eindringt.

Zum Inhalt: Die geniale Computerspiel-Designerin Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh) erfindet ein Spiel namens "eXistenZ", das mithilfe von Game-Pods direkt in das menschliche Nervensystem geladen wird und die Grenzen zwischen Virtualität und Wirklichkeit verwischt. Nach einem Anschlag auf ihr Leben flieht sie gemeinsam mit ihrem Leibwächter Ted Pikul (Jude Law) vor ihren Gegnern, fanatischen Realitätsanhängern. Ihr Game-Pod (und damit Hard-und Software) wird dabei beschädigt; um den Schaden zu beheben, müssen sie und Pikul selbst in das Spiel einsteigen. Sie geraten in ein undurchdringliches Geflecht realer und irrealer Wahrnehmungen, die Spielebenen vermischen sich, am Ende bleibt die Frage "Sind wir jetzt drinnen oder draußen"? ungelöst.

Cronenbergs Film ist eine Metapher über den Verlust der Körperlichkeit und zugleich ein radikales Plädoyer für eben diese. Die Menschen absorbieren die Technik zu einem Teil ihres Körpers, sie saugen sie auf und werden selbst davon absorbiert.

"eXistenZ" ist ein medienkritischer Film mit einem Reflexionspotential, das zu erarbeiten im Religionsunterricht reizvoll sein könnte. "eXistenz" war - zeitgleich mit "Matrix" - weniger populär, aber seine 'Wiederentdeckung' lohnt sich.

Anmerkungen
  1. So sieht es der Medientheoretiker Lev Manovich, siehe ders., The Language of New Media, Cambridge/Mass. 2001
  2. Dziga Vertov, Kinoki - Umsturz, 1923, in: Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1990, S.25-40, hier S. 34, zu Vertov s.a. Verf., Erlösung im Film, Stuttgart 1996, S.121f
  3. Vertov, a.a.O., S.33

© Inge Kirsner 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 23/2003
https://www.theomag.de/23/ik4.htm