Badischer Landadel
Die Welt des späten Adels ist, wie überhaupt die Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, eine fremde, kaum literarisch erschlossene Welt. Während das Arbeitermilieu immerhin doch im Zentrum einiger bedeutender Werke stand und die bürgerliche Welt ausgiebig erschlossen und beschrieben wurde, gilt das für die zu Ende gehende Welt des Adels nicht in analoger Weise.
Es ist das Verdienst von Sybille Bedfords Roman "Ein Vermächtnis", im Juli 2003 als 223. Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek erschienen, diese Lücke zu füllen. Ihr Gesellschaftsroman schildert die Atmosphäre der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, vermittelt eine Ahnung von den Konflikten und Perspektiven des Großbürgertums und des Landadels der damaligen Zeit.
Das alles ist interessant und auch amüsant geschrieben, eine lehrreiche Lektüre für abendliche Stunden.
Literarische Mathematik
Auch nach der Lektüre dieses Buches ist mir die nie sonderlich geliebte Mathematik nicht vertrauter als zuvor. Das Versprechen des Buches, auch für jene geschrieben zu sein, denen das Fach Mathematik schon auf der Schule wenig Erkenntnis brachte, löste sich bei mir nicht ein. Das liegt vermutlich aber mehr an mir und meinen Aversionen, als am Autor des Buches. Natürlich hat die Idee, sich auf vielfältigen literarischen Wegen den Pionieren der Mathematik des 20. Jahrhunderts zu nähern, sie zu literarischen Spiegeln ihrer eigenen Theorien zu machen, etwas Faszinierendes, aber auch Bizarres.
Dietmar Daths Buch "Höhenrausch", im August 2003 als 224. Band der Anderen Bibliothek erschienen, führt ein in Welt der Mathematik des 20. Jahrhunderts und das wohl auf durchaus zutreffende und erhellende Weise, wie mir ein befreundeter Professor der Informatik bestätigte. Am Beispiel etwa von Kurt Gödel (1906-1978) kann man unter der Überschrift "Das Gespenst der Luce Library" nachlesen, was wäre, wenn Theorien Wirklichkeit würden, was, wenn Theologen entmythologisierungssüchtiger als Physiker wären: "An was für ein Jenseits Gespenster wie er glauben, hat man den Wiedergänger-Gödel bislang nicht gefragt. Man kann sich trotzdem vorstellen, was er antworten müßte. Denn in einem seiner späten, zu Lebzeiten unveröffentlichten Manuskripte hat der Gödel aus unserer Vergangenheit einen Fingerzeig dazu gegeben: "Ich habe den Eindruck, daß man nach ausreichender Klärung der fraglichen Vorstellungen und Begriffe dazu kommen wird, daß diese ganze Diskussion mit der erforderlichen mathematischen Strenge geführt werden kann und daß das Ergebnis dann sein wird - vorausgesetzt, man teilt bestimmte Annahmen, die man schwerlich wird bestreiten können; unter anderem die Annahme, daß es überhaupt so etwas wie ein mathematisches Wissen gibt -, daß die platonische Anschauung die einzige zutreffende ist. Damit meine ich diejenige Anschauung, die davon ausgeht, daß die Mathematik eine nicht unmittelbar sinnlich erfahrene Realität beschreibt, die unabhängig von den Akten und Dispositionen des menschlichen Geistes existiert und von diesem Geist lediglich wahrgenommen wird; und zwar vermutlich gegenwärtig noch sehr unvollständig." (S. 130) Für mathematisch Interessierte und Kenner der Materie eine äußerst empfehlenswerte Lektüre.
Matthäus 11, 15
"Als Mediziner weißt du ja, Watson, dass es kaum einen Körperteil gibt, der so individuell ausfällt wie das menschliche Ohr. In der Regel ist jedes Ohr anders und unterscheidet sich somit von allen übrigen" (Arthur Canon Doyle, Ein unheimliches Paket). Über die Indizienkraft der Ohren ist schon viel geschrieben worden. Der Italiener Giovanni Morelli hat sie schon 1874/76 als ausgezeichnetes Instrument der Spurensicherung der Urheberschaft historischer Gemälde herausgestellt. Ein ganz anderes Modell der Indizienschaft der Ohren für die Zeitgeschichte bietet Per Højholts Roman "Auricula", der als 225. Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek erschienen ist. Und weil der Klappentext den Roman so unnachahmlich zusammenfasst, sei er extenso zitiert: "Die Hauptpersonen dieses unverschämten Romans sind keine Menschen, sondern auriculae, zu deutsch: Ohren. Højholt hat die Stirn, zu behaupten, in Europa habe am 7. September 1915 die Zeit stillgestanden, einen Moment lang, zu kurz, dass es jemandem aufgefallen wäre. Die Kinder, die in dieser Zeitlücke gezeugt wurden, kamen neun Monate später nicht allein zur Welt. Mit ihnen erblickten zahlreiche Ohren das Licht. die sich selbständig machten und auf die Wanderschaft begaben. Heimlich durchstreiften sie in kleinen Trupps das zwanzigste Jahrhundert, beobachteten seine Katastrophen und inspirierten seine Kunst und seine Wissenschaft. Überall nisteten sich diese sonderbaren Wesen ein. Sie suchten Kafka und Einstein, Duchamp und Joyce heim und spionierten die gesamte Moderne aus. Der Autor weiht uns in die Biologie, die Psychologie und das Sexualleben der Ohren ein und lässt uns an ihren bizarren Abenteuern teilnehmen. Über seine literarischen Vorgänger lässt er uns nicht im unklaren; sie heißen Lawrence Sterne. Lewis Carroll und Jörge Luis Borges; seine Chuzpe aber gehört ihm allein. Højholt, das Enfant terrible der dänischen Literatur, erschreckt und amüsiert uns mit seinem Hauptwerk, an dem er zwanzig Jahre lang geschrieben hat." Wer das außerordentlich empfehlenswerte Buch kauft und liest, sollte sich für die 407 Seiten viel Zeit nehmen, denn es ist nicht unbedingt eine locker-leicht entspannende, sondern eine höchst konzentrierte Lektüre, die auf ihn wartet. Aber es ist eine Lektüre, die sich lohnt.
© Andreas Mertin 2003
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Magazin für Theologie und Ästhetik 25/2003 https://www.theomag.de/25/am101.htm
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