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Magazin für Theologie und Ästhetik


Gut ist nur Einer, aber mit dem Zweiten sieht man besser

Die Enden der Populärkultur

Andreas Mertin

Was verbindet Dieter Bohlen, Thomas Gottschalk, Heino, Siegfried und Roy, Peter Kraus, Gojko Mitic, Nena, Claudia Schiffer, Frank Schöbel und Katarina Witt miteinander? Sie gehören zu Deutschlands Besten! Und was verbindet Friedrich von Hardenberg (Novalis), die Gebrüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Schelling, Mathis Grünewald, Friedrich Gottlieb Kloppstock, Christoph Martin Wieland, Arno Schmidt und Erich Mühsam? Sie sind es nicht. Jedenfalls nicht nach Meinung der ZDF-Redaktion, die die Vorschlagsliste der 300 Besten Deutschlands zusammenstellte. Nun sind derartige Zusammenstellungen immer lächerlich und nicht einmal dem Kompass der besten Künstler (der doch nur ein Kompass des Kapitals ist) vergleichbar, sondern allenfalls willkürlich und populistisch. Denn letztlich geht es ja nicht um Deutschlands Besten, sondern seinen Populärsten. Und der ändert sich von Zeit zu Zeit. Mal ist es der Führer, mal ein Superstar, mal ein Wendepolitiker. Die Frage, was Nena denn wohl auszeichnen könnte, zur Besten seit Beginn des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu gehören, bleibt einem im Halse stecken.

Bemerkenswert ist an dieser durch und durch unsäglichen Aktion des ZDF, dass sie jenen folgt, die schon immer behauptet haben, zwischen Immanuel Kant und Dieter Bohlen, zwischen Goethe und Claudia Schiffer, zwischen Friedrich Schleiermacher und Nena seien allenfalls szenetypische Geschmacksdifferenzen feststellbar und die Bedeutung der einen in der Hochkultur sei der der anderen in der Populärkultur komplementär. Wer die Apologie der Populärkultur so betreibt, dass sie auf die Nichtunterscheidbarkeit kultureller Differenzen hinausläuft, wird zum Totengräber jeglicher Kultur.

Aber auch jenseits aller Differenzierungen zwischen Hoch- und Unterhaltungskultur ist jene totalitäre Ideologie des sportifizierten Geschmacksurteils barbarisch. Man braucht sich nur einmal selbst - gegen allen intuitiven Widerwillen - die Frage stellen: Wer ist besser - Kant oder Goethe? um das absolut Widerwärtige der Aktion des ZDF geradezu physisch an sich selbst zu verspüren. Verdinglichtes Denken, wie die kritische Theorie dies immer bezeichnet hat, ist ein noch zu positives Wort dafür. "Cafeteria-Fragen aus Questionnaires" hat Adorno einmal diese Reduktion des Denkens auf ein Nichts genannt.

Beim ZDF läuft dies alles auch noch unter dem Stichwort der Demokratisierung der Kultur: "Die Frage nach dem größten Deutschen kann weder von der Duden-Gesellschaft noch vom Deutschen Historischen Museum beantwortet werden, sondern nur demokratisch von allen Deutschen. Deutschland ist reich an 'Besten': ob Könige, Politiker, Sportler oder Künstler. Die Leistungen will das ZDF mit der Aktion "Unsere Besten" würdigen." [ZDF-Videotext zur Aktion] Der argumentative Austausch, wer denn mit welchen Gründen der Beste ist, erfolgt "per Internet, Postkarte, SMS oder Telefon." "Die am häufigsten genannten Namen ergeben die Top 100, die Johannes B. Kerner in der Eröffnungsshow am 7. November präsentieren wird." [Das ist jener ZDF-Moderator, der schon aus dem Erfurter Amoklauf eine Talkshow machte.]

Die Sportifizierung des Denkens, die seit Jahren die so genannte Kultur der westlichen Zivilisation prägt, treibt so weitere Stilblüten. "In fünf Doku-Shows werden im November die zehn Bestplatzierten vorgestellt, unterstützt von prominenten Paten, die für ihre Kandidaten streiten. Der Kampf der Gladiatoren endet mit der Finalshow am 28. November." Manchmal wünschte man sich, die Leute meinten wirklich, was sie schreiben, dann wären wir ein paar Prominente los. Der Brockhaus erklärt nämlich, die Gladiatoren waren "berufsmäßige Fechter, die in öffentlichen Schaustellungen auf Leben und Tod miteinander oder gegen wilde Tiere kämpften". Diese Kämpfe "wurden ursprünglich bei Totenfeiern veranstaltet, seit Beginn des 1. Jahrhunderts v.Chr. auch im Rahmen der von den Behörden veranstalteten Spiele. Die Gladiatoren waren Sklaven und verurteilte Verbrecher". Im Rahmen der Totenfeier deutscher Kultur wären also finale Gladiatorenkämpfe der Sklaven und Verbrecher unserer Mediengesellschaft durchaus angemessen.

In einem Videoclip der amerikanischen Sängerin Joan Osborne sieht man eine Jahrmarktsattraktion vor den Toren New Yorks, im Rahmen derer jeder für einen fotografischen Moment "Gott" sein kann, indem er den eigenen Kopf durch das freigelassene Loch in der Darstellung des Kopfes Gottes einer Reproduktion von Michelangelos Darstellung der Erschaffung Adams stecken kann. Aber so wenig jemand durch diesen Akt Gott wird, so wenig wird jemand zu einem Großen der Kulturgeschichte, nur weil für einen Moment sein Kopf in jenem geistigen Loch erscheint, das wir Fernseher nennen.

Und als er sich auf den Weg machte, lief einer herbei, kniete vor ihm nieder und fragte ihn: Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Aber Jesus sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. Du kennst die Gebote: "Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; ehre Vater und Mutter." Er aber sprach zu ihm: Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach! [Markus 10, 17ff.]

Dass bisher keiner der vom ZDF Nominierten gegen seine Nominierung protestiert hat, zeigt darüber hinaus eindringlich, wie tief die bundesrepublikanische Kultur-Szene bereits in die Mediatisierung der Kultur verstrickt ist, wie sehr sie schon daran gewöhnt sind, beim Gladiatoren-Spiel mitzuspielen. Die Toten können sich gegen ihre Nominierung nicht wehren, aber die Lebenden hätten zugunsten der Toten gegen dieses Massenspektakel protestieren können.

Ganz traut das ZDF der Demokratie aber dann doch nicht, schließlich könnte die Bevölkerung wie schon einmal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem Falschen zujubeln. Daher heißt es ausdrücklich: "Die Redaktion behält sich vor, Nominierte, die nicht in den Kontext "Unsere Besten" passen - Massenmörder oder Kriminelle - aus der Liste zu streichen." Nur Mörder oder Totschläger zu sein, reichte dem ZDF als Ausschlusskriterium jedoch nicht, denn nicht nur eingedenk des Spruches "Soldaten sind potentielle Mörder" befindet sich der eine oder andere der Nominierten durchaus in dieser Schnittmenge.

Die Briten haben, so wird vermeldet, in der in Großbritannien bereits erfolgreich abgeschlossenen analogen Liquidierung der Kultur durch vergleichende Befragung, Winston Churchill zum besten Briten erklärt, mithin zur größten Persönlichkeit, die Großbritannien je hervorgebracht hat. Das wird die beruhigen, die heute unter Tony Blair leiden, ist aber ein ungeheurer Vorgang im Blick auf das, was die britische Literatur- und Philosophiegeschichte hervorgebracht hat. Tun wir es den Briten also nach.

Letztlich gibt es auf die ZDF-Aktion nur eine Antwort im Sinne der Verschärfungstheorie der RAF: Dieter Bohlen wählen. Das wäre Kulturkritik im radikalen Sinne, wenn das ZDF ihn zum Besten erklären würde, was Deutschland je hervorgebracht hat. Aber Verschärfungstheorien haben so ihre Schattenseiten. Manchmal sind sie wahrer, als es einem lieb sein kann. "Der Niedergang des gebildeten Menschen im europäischen Sinn", den Adorno mit Verweis auf Amerika schon 1968 prognostizierte, ist mittlerweile längst abgeschlossen.


Die Liste des Schreckens

Abs, Hermann Josef * Adenauer, Konrad * Adorno, Theodor W. * Albers, Hans * Albrecht, Karl und Theo * Almsick, Franziska van * Ardenne, Manfred von * Arendt, Hannah * Augstein, Rudolf * Bach, Johann Sebastian * Bebel, August * Beckenbauer, Franz * Becker, Boris * Beethoven, Ludwig van * Benn, Gottfried * Benz, Carl * Berlichingen, Götz von * Beuys, Joseph * Beyer, Frank * Biermann, Wolf * Bismarck, Otto von * Black, Roy * Bloch, Ernst * Blücher, G. L. Fürst B. von Wahlstatt * Bohlen, Dieter * Böhm, Karlheinz * Böll, Heinrich * Bonhoeffer, Dietrich * Brahms, Johannes * Brandt, Willy * Braun von, Wernher * Brecht, Bertolt * Bubis, Ignaz * Büchner, Georg * Burda, Franz * Busch, Wilhelm * Campino * Cranach der Ältere, Lucas * Daimler, Gottlieb * Diesel, Rudolf * Dietrich, Marlene * Dix, Otto * Domröse, Angelica * Dönhoff, Marion Gräfin * Drechsler, Heike * Drewermann, Eugen * Drosttve-Hülshoff, Annette von * Duden, Konrad * Dürer, Albrecht * Dutschke, Rudi * Ebert, Friedrich * Ecker-Rosendahl, Heide * Eichendorff, Joseph von * Einstein, Albert * Elisabeth I. ("Sissi") * Elser, Georg * Emmerlich, Gunther * Engels, Friedrich * Erhard, Ludwig * Erhardt, Heinz * Ernst, Max * Eulenspiegel, Till * Fassbinder, Rainer Werner * Fichte, Johann Gottlieb * Fischer, Joschka * Fischer-Dieskau, Dietrich * Fontane, Theodor * Frankenfeld, Peter * Freud, Sigmund * Friedrich I. Barbarossa * Friedrich II., Kaiser v. 1220-1250 * Friedrich II., König von Preußen * Friedrich, Caspar David * Friedrichs, Hanns Joachim * Fröbe, Gert * Fromm, Erich * Fugger, Jakob * Gagern, Heinrich von * Galen, Clemens August Graf von * Genscher, Hans-Dietrich * Gneisenau, August Graf Neidhardt von * Goethe, Johann Wolfgang von * Gottschalk, Thomas * Graf, Steffi * Grass, Günter * Grimm, Jakob und Wilhelm * Grimmelshausen, J.J. Christoffel von * Grönemeyer, Herbert * Gründgens, Gustaf * Grundig, Max * Grzimek, Bernhard * Gutenberg, Johannes * Habermas, Jürgen * Hagen, Nina * Hahnemann, Helga * Hahnemann, Samuel * Hamm-Brücher, Hildegard * Händel, Georg Friedrich * Hannawald, Sven * Hary, Armin * Hauptmann, Gerhart * Haydn, Joseph * Hegel, Georg Wilhelm Friedrich * Heidegger, Martin * Heine, Heinrich * Heino * Heinrich der Löwe * Heisenberg, Werner * Henlein, Peter * Herberger, Sepp * Herder, Johann Gottfried von * Hesse, Hermann * Heuss, Theodor * Hildebrandt, Dieter * Hildegard von Bingen * Hoffmann, E.T.A.(Ernst Theodor Amadeus) * Hoffmann, Heinrich * Höfle, Frank * Hofmann von Fallersleben, August * Heinrich * Hölderlin, Friedrich * Horn, Siegfried und Roy * Humboldt, Alexander von * Immendorff, Jörg * Jahn, Friedrich Ludwig ("Turnvater") * Jahn, Helmut * Jähn, Sigmund * Jaspers, Karl * Jauch, Günther * Joop, Wolfgang * Juhnke, Harald * Jünger, Ernst * Jürgens, Curd * Kant, Immanuel * Kästner, Erich * Kelly, Petra * Kepler, Johannes * Kiefer, Anselm * Kinski, Klaus * Kirchner, Ernst Ludwig * Kleist, Heinrich von * Knef, Hildegard * Kneipp, Sebastian * Knigge, Adolf Freiherr von * Koch, Robert * Kohl, Helmut * Kolle, Oswalt * Kollwitz, Käthe * Kolping, Adolph * Köpenick, Hauptmann von * Kopernikus, Nikolaus * Kraus, Peter * Krug, Manfred * Krupp, Alfred * Kues, Nikolaus von * Kulenkampff, Hans-Joachim * Lagerfeld, Karl * Lange, Helene * Langer, Bernhard * Lassalle, Ferdinand * Legien, Carl * Lehmann, Karl * Leibniz, Gottfried Wilhelm von * Lenz, Siegfried * Lessing, Gotthold Ephraim * Lessing, Theodor * Lichtenberg, Georg Christoph * Liebermann, Max * Liebig, Justus von * Lilienthal, Otto * Lindenberg, Udo * Loriot (Vicco von Bülow) * Lubitsch, Ernst * Ludwig II., König von Bayern * Luise, Königin von Preußen * Luther, Martin * Magnus, Albertus * Mangelsdorff, Albert * Mann, Thomas * Marc, Franz * Marx, Karl * Maske, Henry * Masur, Kurt * May, Karl * Melanchthon, Philipp * Mendelssohn Bartoldy, Felix * Metternich, Klemens Wenzel Fürst von * Mey, Reinhard * Meysel, Inge * Mies van der Rohe, Ludwig * Millowitsch, Willy * Minetti, Bernhard * Mitic, Gojko * Mittermaier, Rosi * Mohn, Reinhard * Mommsen, Theodor * Mozart, Wolfgang Amadeus * Müller, Heiner * Müller-Stahl, Armin * Münchhausen, Baron von * Müntzer, Thomas * Mutter, Anne-Sophie * Nasse-Meyfarth, Ulrike * Neckermann, Josef * Nena * Neumann, Johann Balthasar * Nietzsche, Friedrich * Nolde, Emil * Nowitzki, Dirk * Oetker, August * Offenbach, Jacques * Opel, Adam * Orff, Carl * Otto I., der Große * Otto, Nikolaus August * Palucca, Gret * Planck, Max * Porsche, Ferdinand * Quadflieg, Will * Quandt, Günther * Quasthoff, Thomas * Rathenau, Walther * Ratzinger, Joseph * Rau, Johannes * Reclam, Anton Philipp * Reich-Ranicki, Marcel * Reuter, Ernst * Richter, Gerhard * Riemenschneider, Tilman * Ries, Adam * Rilke, Rainer Maria * Ringelnatz, Joachim * Röntgen, Wilhelm Conrad * Rosenthal, Hans * Rühmann, Heinz * Sander, Jil * Sauerbruch, Ferdinand * Schickedanz, Grete * Schiffer, Claudia * Schiller, Friedrich von * Schindler, Oskar * Schinkel, Karl Friedrich * Schliemann, Heinrich * Schmeling, Max * Schmidt, Harald * Schmidt, Helmut * Schöbel, Frank * Scholl, Sophie und Hans * Scholl-Latour, Peter * Schopenhauer, Arthur * Schröder, Gerhard * Schumacher, Kurt * Schumacher, Michael * Schumann, Robert * Schur, Gustav-Adolf ("Täve") * Schwarzer, Alice * Schweitzer, Albert * Seeler, Uwe * Seghers, Anna * Semper, Gottfried * Siemens, Werner von * Sparwasser, Jürgen * Spitzweg, Carl * Springer, Axel * Stauffenberg, Claus Schenk Graf von * Stein, Edith * Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum * Stockhausen, Karlheinz * Störtebeker, Klaus * Strauß, Franz Josef * Strauss, Levi * Strauss, Richard * Stresemann, Gustav * Strittmatter, Erwin * Thurn und Taxis, Franz von * Thyssen, August * Tucholsky, Kurt * Uhse, Beate * Ullrich, Jan * Valentin, Karl * Völler, Rudi * Wagner, Richard * Wallenstein, Albrecht von * Walser, Martin * Walter, Fritz * Walther von der Vogelweide * Weber, Max * Weil, Grete * Weizsäcker, Richard von * Wenders, Wim * Wilhelm II., deutscher Kaiser * Winckelmann, Johann Joachim * Witt, Katarina * Wolf, Christa * Wolfram von Eschenbach * Zeiss, Carl Friedrich * Zeppelin, Ferdinand von * Zetkin, Clara * Zille, Rudolf Heinrich * Zuse, Konrad *


© Andreas Mertin 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 25/2003
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