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Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Realität als Baukasten

Zur Wirklichkeit (inszenierter) fotografischer Bilder

Christian Kaufmann

Im Folgenden soll es um drei (Kunst)Bilder gehen, die mir in den vergangenen Wochen (wieder)begegneten. Alle drei entstammen dem Bereich der Fotografie. Auf dem ersten, einer Arbeit von Beate Gütschow, einer jungen Künstlerin aus Berlin, blickt der Betrachter in eine weite sanfte Auenlandschaft, in der diagonal von links nach rechts ansteigend, ein lockerer Waldrand eine niedrige Horizontlinie bildet. Den linken Bildabschluss markiert eine mächtige Baumgruppe auf einer kleinen Anhöhe. Zwei hohe Bäume rechts und einer in der Bildmitte ziehen den Blick des Betrachters auf sich und bilden kompositionell ein Zentrum. Ganz am Rande des Bildes stehen unterhalb des rechten Baumes zwei Frauen, die in die Weite der Auenlandschaft zu blicken scheinen. Trotz ihrer randständigen Position im Bild sind die beiden Frauen auffällig betont , da sie durch einen Lichtschein angestrahlt werden, der aus der Tiefe der Landschaft zu kommen scheint. Merkwürdig ist nicht nur die städtisch anmutende Kleidung der Frauen, merkwürdig sind vor allem die seltsamen Lichtverhältnisse auf dem Bild. So ist die gesamte Landschaft wie auch der Himmel von einem einheitlichen silbrigen Schleier überzogen.

Die zweite Arbeit stammt von Nasan Tur, einem in Offenbach lebenden jungen Künstler. Auf dem Bild ist die Nahansicht eines Gesichtes zu sehen. Das Porträt eines jungen Mannes füllt das quadratische Bildformat dergestalt aus, dass Stirn und Kinnpartie vom Bildrand abgeschnitten sind und das Gesicht fast quadratisch wirkt. Das Gesicht weist keine auffälligen physiognomischen Besonderheiten auf. Es ist ein Gesicht, das man bereits einmal getroffen zu haben glaubt, so allgemein ist seine indifferente Ausstrahlung.

Das dritte Bild - eine Arbeit des in Fürth lebenden Künstlers Oliver Boberg - zeigt die Ecke eines Hauses, das als Reihenhaus in irgendeiner x-beliebigen Neubausiedlung stehen könnte. Neben dem Haus die obligatorische Fertiggarage, vor dem Haus einige Kiesel als Vorgartenersatz, ansonsten die Bodenflächen fein säuberlich mit Betonpflaster versiegelt. Die Tristesse der Szenerie wird durch die lieblose Baumarktästhetik der verwendeten Materialien noch gesteigert: Über einer schlichten Haustür aus weißem Kunststoff befindet sich ein knappes metall-eloxiertes Vordach, hinter dem kleinen Kunststofffenster daneben könnte sich das WC verbergen. Und die zinkfarbene Regenrinne korrespondiert mit dem Balkongeländer aus Metall. Gestalterische Wüste - Architektur von der Stange. Einzig mit dem Anstrich hat der Eigentümer Mut bewiesen, mit seinem schreiend lavendelfarbenen Kleid wird sich das Haus von den übrigen in der Reihe absetzen.

Eigentümlich vertraut mutet uns die Szene an: Ein Bild, das sich als Bild prototypischen Wohnens in Neubauvierteln ins kollektive Gedächtnis eingegraben zu haben scheint.

Gemeinsam ist den Arbeiten, dass sie eine Wirklichkeit zeigen, die es so nicht oder bestenfalls als Modell gibt. Im einzelnen: Beate Gütschows Bild, das so stark an ein Landschaftsgemälde des 18. oder 19. Jahrhunderts erinnert, ist in der Tat eine Remineszenz an diese Gattung und aus Fotomontagen zusammengebaut. Nasan Tur zeigt ein Porträt, das es nicht gibt, sondern das virtuell am Computer aus verschiedenen Gesichtern zusammengesetzt wurde. Und Oliver Bobergs Fotografie einer banalen Hausecke entpupt sich als eine Art doppeltes Potemkinsches Dorf. Der Künstler baut in seinem Atelier kleine Modelle unscheinbarer Orte und fotografiert sie.

Alle drei beschrieben Arbeiten spielen mit unserer Erinnerung, indem sie Bilder nachbauen, die in unserem kollektiven Gedächtnis verhaftet sind. Das Vertraute, welches uns in den Bildern begegnet, das Wiedererkennen prototypischer Alltäglichkeit, kippt erst mit der Enttarnung der Täuschung ins Unbekannte.

Illusion, Täuschung, Realität und Virtualität, Konstruktion und Dekonstruktion wären einige der Begriffe, die im Zusammenhang mit diesen Bildern zu diskutieren sind. Merkwürdigerweise gesteht man der Kunst-Fotografie immer noch einen höheren Grad an Künstlichkeit zu, als Bildern mit dokumentarischem Charakter. Wir sind gewohnt, dass Kunstwerke unseren Wirklichkeitsbegriff hinterfragen (vom Begriff des 'Artefakt' zum Begriff des 'Fake' ist kein großer Schritt), während wir der Dokumentarfotografie immer noch einen realitätsbezogenen Aussagewert beimessen. Dabei bringen, so würde ich sagen, die Kunstbilder den Realitätsbezug der Bilder allgemein auf den Punkt. Denn ähnlich, wie die Postmoderne zurückliegende Stilepochen als formalen Steinbruch benutzte, ermöglicht die digitale Technik heute ein müheloses Zusammensetzen nach dem Baukastenprinzip. Welche Informationen also vermitteln die Bilder, die uns umgeben?

Die Modelschönheit auf dem Plakat, das für ein Parfüm wirbt - ist sie ein Computer generierter Klon? Das Bild des toten Hussein-Sohnes, wen oder was zeigt es? Welchen Beweis liefert es? Oder anders ausgedrückt: wer sagt uns, dass es nicht ebenso gefakt ist wie das Bild von Nasan Tur? Ein letztes Beispiel: Noch bevor am 11. September 2001 das Entsetzen über das Gesehene einsetzen konnte, war man versucht, das Ganze für einen Film zu halten - zeigten die Bilder doch aus Katastrophen- und Sciencefictionfilmen vertraute Szenen. Die Bilder der einstürzenden Twin-Towers - in der Folge millionenfach ausgestrahlt - waren ein letzter Beweis, wie sehr die Realität bereits von der Fiktion überrollt worden ist.

Die Fotografie zeigt etwas, das der Wirklichkeit ähnlich sieht, so hat es einmal der Fotokünstler Wolfgang Tillmans formuliert.

Fotografische Bilder sind manipuliert worden, seitdem es sie gibt. Die fotografischen Bilder können missbraucht, missverstanden, missinterpretiert werden. Das alles ist längst bekannt und von Theoretikern wie Vilem Flusser oder Roland Barthes immer wieder dargelegt worden. Noch nie aber in ihrer Geschichte haben sich fotografische Bilder so weit von Vor- oder Abbildern gelöst wie heute. Die zunehmende Eigenständigkeit der uns umgebenden Bilder sowie das endgültige Verstehen des fotografischen Bildes als ästhetischem Medium, das seine eigene Realität konstruiert, wird das 21. Jahrhundert prägen.


© Christian Kaufmann 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 25/2003
https://www.theomag.de/25/ck1.htm