Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


(Er)zähl mir was!

Erste Retrospektive der "Bücher" Hanne Darbovens in Wien

Karin Kontny

Still ist es auf der Ebene 6 des Museums für Moderne Kunst. Kein in Museen übliches Geraune, nirgends ein Drängeln. Geordnet hängen die Mäntel an der Garderobe. Fast unsichtbar huschen Besucher durch die Räume. Ab und an dringt ein eifrig blätterndes Rascheln aus Richtung der im ersten Saal aufgestellten und mit zahlreichen Ordnern gefüllten Regale durch die Ruhe. Ein silberfarbener Aktenkoffer, vollgestopft mit Taschenkalendern, blickt am Eingang mit aufgeklapptem Maul dem herein tretenden Besucher streng entgegen. Bücherstapel und mit Zetteln behangene Wände so weit das Auge reicht. Die Lesesaal-Atmosphäre scheint perfekt. Doch das Wiener Museum für moderne Kunst (MuMoK) bietet keine gewöhnlichen Lesefreuden. Weder Romane, noch Krimis finden sich in den Regalen und Vitrinen, auch keine Anekdoten oder sonstigen schriftstellerischen Spiegelungen des Lebens. Denn die deutsche Künstlerin Hanne Darboven ist Autorin, ist Erzählerin der besonderen Art. Ihre seit Mitte September bis Ende November in Wien ausgestellten Schriftstücke interpretieren nicht. Sie sind keine bloßen Vermittlungsmedien, sondern Ausdruck des Schreibprozesses und der dabei entstehenden, Zeit- und Denkräume schaffenden Materialität der Schrift. Bereits nach Absolvierung der Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg und einem darauffolgenden Aufenhalt in New York (1966-1969) - hier erhielt sie durch Sol LeWitt Kontakt zu den Künstlern der amerikanischen Minimal Art und der Konzeptkunst - beschäftigte sich Hanne Darboven kritisch mit dem traditionellen Werkbegriff in der Kunst und kam dadurch zum Schreiben - zur Versprachlichung als Kunst.

Durch die Abwendung vom Kunstwerk als reine Visualität bzw. als Sammmler-Fetisch sowie durch die Hinwendung zur Notation von Tagesgeschehen als Basis für künstlerische Ideen, führte Hanne Darboven damit die in der Minimal Art bereits vollzogene Trennung von Idee und Ausführung des Kunstwerkes fort. Sprache und Schrift werden in ihren Arbeiten so zu einem gleichberechtigtem Medium in der Kunst und sind dennoch keine Literatur mit rein kommunikativem Zweck. Ende der 60er Jahre schafft Hanne Darboven ihre ersten sinnlich erfahrbaren Sprachgesten wie z.B. das im MuMoK zu sehende Bücherregalmonument "Ein Jahrhundert (Bücherei)" (1970-1971). Von hierher drang das Rascheln...

Genau 365 schwarze Ordner füllen die einfachen Holzregale. Jeder Tag ein Ordner. Angefüllt mit akribischen Notizen und Kalenderdaten in Zahlen, die die Anschaulichkeit der Zahlenwerte selbst zum Thema machen. Auf einzelnen, in die Ordner eingehefteten DIN A4 Bögen breitet Hanne Darboven auf diese abstrakte Weise die jeweils an einem bestimmten Tag erlebten Zeitspannen aus, fasst deren Zahlenwerte in der entsprechenden Kästchenzahl auf Millimeterpapier und gibt so den Ereignissen ihren eigenen Zeitraum zurück. Ein Nachschlagewerk, das den Besucher auffordert, sich durch Blättern, subjektives Lesen oder schlichtes Abschreiten der Regale selbst gegenwärtige Zeit anzueignen.

Auch die 34 fein säuberlich mit rotem Gummiband zusammengehaltenen Taschenkalender aus Leder im nüchternen Aktenkoffer mit dem Titel "Existenz" (1966-1999) verbreiten nicht strenge archivarische Lesesaalstille, sondern erzählen zählend und dennoch nicht mathematisch von einer eigenen künstlerischen Möglichkeit, das Leben zu dokumentieren und ordnend zu erfassen. Denn mit jeder niedergeschriebenen Zahl eignet sich die Künstlerin in dieser und anderen Arbeiten ein Stück ihrer und auch fremder Gegenwart an. So verbindet sie persönliche Daten mit denen der Geschichte ("Kulturgeschichte 1880-1983", 2003) und integriert in diese eigene disziplinierte Zeitrechnung Bilder, Fotos und Texte aus Magazinen. Kombinatorisch setzt sie eigene Überlegungen mit Versatzstücken aus Gedicht- und Sammelbänder wie Puzzleteile zusammen, konstruiert dadurch teils assoziativ ihre je eigene Geschichte. Füllt am Ende sogar Zahl und Schrift paraphrasierend Schulhefte mit Linien und Erstklässler-U-Bögen ("Kinder dieser Welt", 1990-1996) und gibt so der Kindheit ihre buntstiftfarbene Zeit zurück. Ergibt sich ganz dem Fluss der eigenen "Schreibzeit" (1975-1981, 32 Bände und ein Indexband, editiert 1999) und schreibt ihr Schreiben ohne inhaltliches, jedoch mit (zeit)räumlichem Resultat. Wichtig beim Schreibakt ist der Künstlerin allein die bloße Setzung der numerisch logischen und linearen Regelhaftigkeit, die die Täigkeit des (Er)zählens ästhetisch, d.h. formschön weiterführt (vgl. Vilém Flussers Kommunikationstheorie, nach der logisches und lineares Denken von Ursache und Wirkung auf die Tätigkeit des Zählens und Erzählens zurück geht).

Seit 1979 übersetzt Hanne Darboven ihre geschichtssensiblen Schreibarbeiten auch in Musik, die sie als Zeiträume einnehmende Tonentfaltungen denkt. Im Hören ihrer ausgedehnten Schriftpartituren, die entlang einer Zeitachse strukturiert sind, wird Zeitlichkeit unmittelbar sinnlich erfahrbar: ganze acht Stunden dauert das Bände sprechende Bläserquintett Opus 42, das im Rahmen der Ausstellung zur österreichischen Erstaufführung gelangte - wenn auch in gekürzter, fünfstündiger Form. Ein wahrer Erzähl-, vor allem aber Hörakt. Vierunddreißig niedergeschriebene Lebensjahre, pro Jahr ein Kalender. Eine handliche Sache. Und doch ein Koffer voller Überraschungen. Fünf Regale, 365 Ordner. Ein überschaubares Nachschlagewerk von unermesslichem zeitlichem Ausmaß. Und eine zunächst selbst für geübte Leser befremdliche Art des Schreibens und Erzählens, zugegeben. Aber ist dieser nie enden wollende Schriftenstapel nicht Traum eines jeden Lesegierigen? Vielleicht packt sie einen gerade deswegen - die Erzähl- bzw. Zähllust...

Museum Moderne Kunst - Stiftung Ludwig Wien - 20. September bis 23. November 2003


© Karin Kontny 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 26/2003
https://www.theomag.de/26/kk2.htm