Über Natur
"Und die einzige Forschung, die [...] zunächst zu entwicklungsgeschichtlichen Erkenntnissen und Aussagemöglichkeiten berufen gewesen ist, ist die Geologie gewesen. Ihr verdanken wir die Erkenntnis, dass es grundverschiedene Zeitalter unserer Erde gegeben hat und dass es plötzliche Naturkatastrophen von unerhörten Ausmaßen gewesen sein müssen, die zwischen diesen Riesenzeitaltern ihre Scheidewände aufgerichtet haben. Die Berechtigung, von einer Plötzlichkeit dieser Naturkatastrophen zu sprechen, ist allerdings nur dann gegeben, wenn wir auch diesen Begriff in jenen riesigen Berechnungsmaßstab umrechnen, dessen Anwendung hier allein in Frage kommen kann. Es ist ähnlich wie bei der Astronomie. Auch sie muss ja ihre Bewegungsfeststellungen ständig umrechnen aus Zeitlupensichtzahlen in Zeitraffersichtzahlen, um sich verständlich zu machen." (W. Worringer, 1959)[1]
Über Landschaften und Städte
Michael Weselys (*1963) Fotografien integrieren beide Dimensionen der anschauenden Abstraktion: die geologische und die astronomische. Für die Serie "American Landscape" (1999-2000) fotografierte er im Südwesten der USA Landschaftsformationen, die wir aus Bildbänden und Hollywoodfilmen kennen. Was wir sehen, sind durch eine spezielle Optik der Schlitzkamera geraffte und gedehnte Szenerien, die ihr ursprüngliches Motiv nicht mehr preisgeben. Herausdestilliert erscheint die Horizontalität, die Weite und das reiche Farbenspiel von Wüsten-, Canyon- oder Küstenlandschaften: "Eine fotographische Rückgewinnung der medial ausgelaugten Motive".
Der Blick, der Landschaften erkundet, wandert in der Ebene, während wir uns Gebäude vornehmlich als vertikale erschließen. In der Serie "Palazzi Di Roma" (1999) sehen wir statt der Fassaden vertikale Streifen, changierend zwischen gelb, ocker, rotbraun, hellblau, türkis und grün. "Roms Paläste verwandeln sich mithin in abstrakte Pattern, in atmosphärische Lichtstreifen." Die Farbhommagen an die alten Palazzi befreien diese eindrucksvoll von der Verfallsnostalgie, mit denen italienische Metropolen gemeinhin beworben werden. Im Anschluss an diese Serie entstanden nach demselben Prinzip "New York Verticals", deren differierende Farbenskala mit einem Blick die völlig andere Lichtqualität einer modernen Großstadt sichtbar macht.
Über Menschen
Wie kann man Allgemeines und Besonderes an Gesichtern herausdestillieren? In "Schule" (1994) hat Michael Wesely die Gesichter aller Schüler einer Klasse mittels einer Mehrfachbelichtung übereinandergelegt. Ein Porträt enthält also etwa 30 fotografierte Gesichter. Es sind irritierende Porträts, die in sich verschwimmen, wie in Bewegung, die aber auch in der Tiefe mutieren, als würde der Blick einer Röntgenkamera in das Gesicht eindringen, es durchleuchten. Der Begriff der Generation wird in einer fast beklemmenden Weise konkret.
Über Bilder
Die Serie "Salzburg" (1990) zeigt Aufnahmen der zahlreichen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Das Motiv, Mozarts Geburtshaus etwa oder der Dom, ist jedoch jeweils durch eine ausgesparte Mitte "verdeckt": ein weißes Quadrat, das nach allen Seiten die umliegende Straßen und Gebäude überstrahlt. "Statt an der Rückseite hatte Michael Wesely den Film an den vier Seiten der Lochkamera befestigt, so dass nur die Umgebung, nicht aber das zentrale Motiv vom Film aufgezeichnet werden konnte. Nach der Entwicklung der Filme montierte Wesely die Bilder wieder in dieselben, nunmehr offenen Lochkameras, in denen sie ursprünglich entstanden waren." Wesely reagiert auf den inhaltlichen Verlust des Bildes, das zum "Motiv" geworden ist, indem er dem Betrachter den klaren Standpunkt vor dem Motiv nimmt und die Leinwand gleichsam um ihre ausgelöschte Mitte, d.i. das eigentliche Bild, rotieren lässt - ein Verfahren, das die russischen Suprematisten in der Malerei erprobt hatten. Ähnlich wie einer geographischen Landkarte wird hier das fotografische Bild ein "abstraktes Modell für den Raum" (El Lissitzky).
Über Belichtungen
Wie kann man Prozesse selbst veranschaulichen? In der Serie "Potsdamer Platz" (1997-1999) fotografierte Michael Wesely Veränderungen in der Zeit, indem er mit bis zu über zweijährigen Belichtungen die Bauarbeiten am Potsdamer Platz in Berlin dokumentierte. Die Aufnahmen von fünf verschieden positionierten Kameras verwandeln "das zeitliche Nacheinander der Bautätigkeit in eine Gleichzeitigkeit, in der sich unzählige Einzelmomente zu einer komplexen Struktur von Realitätsfragmenten überlagern. Die Tatsache, dass das Vorher und Nachher miteinander verschmelzen, der vormals unverbaute Horizont also noch durch die Neubauten hindurch sichtbar ist, stellt unsere Wahrnehmung auf den Kopf: Die massiven Baukörper nämlich erscheinen annähernd transparent, wohingegen die Sonnenbahnen am Himmel, die den unterschiedlichen Sonnenstand im Wechsel der Jahreszeiten dokumentieren, eine überraschende Materialität gewinnen."
Weselys abstrakte Fotografie holt einen Entwicklungsschritt der malerischen Abstraktion im Medium der Fotografie nach, die im Wechsel von der darstellenden Fotografie zu den Isolationstechniken und Fotogrammen der Moderne übersprungen worden war. Sie schließt von daher auch eine geschichtliche Lücke.
Anmerkungen
- Aufnahmen und Beschreibungen von allen Fotoserien, Ausstellungsbiographie und Katalog finden sich auf der Homepage des Künstlers: www.wesely.org/index-ie.html Alle nicht ausgewiesenen Zitate ebd.
- Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 2/1981, S. 20-21.
© Karin Wendt 2003
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Magazin für Theologie und Ästhetik 26/2003 https://www.theomag.de/26/kw29.htm
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