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Magazin für Theologie und Ästhetik


'A terrible beauty is born'

Groteske Metamorphosen der Postmoderne in Thomas Harris' Hannibal-Lecter-Trilogie

Laurenz Volkmann

Postmoderne Unterhaltungsliteratur: Die Ausweitung der Verkaufszone

Der kommerzielle Erfolg von Texten der Unterhaltungsliteratur wird von Literaturwissenschaftlern traditionell gerne als gekonnter, durchaus kreativer, bisweilen sogar innovativer Umgang mit den tradierten Konventionen der ihr eigenen Untergattungen erklärt. Patricia Highsmiths Aussage: "Murderers, psychopaths, prowlers-in-the-night are old hat, unless one writes about them in a new way."[1] stellt sich für Akademiker als gekonntes Recyclen der bekannten genretypischen "Bausteine" wie setting, characters & plot dar.[2] Als Neuerungsrichtungen postmoderner Unterhaltungsliteratur haben sich darüber hinaus zwei teilweise miteinander verbundene Tendenzen herausgeformt.

Zum einen ist dies der Vollzug der von Theoretikern der Postmoderne wie Leslie Fiedler ("Close the gap!") programmatisch geforderten Annäherung der in der Moderne auseinanderklaffenden Kulturbereiche des Populären und des Elitären. Verschränkungen hat es von beiden Seiten her gegeben, von der einen Richtung durch den Einsatz von Elementen des Sentimentalen, von Horror, Gewalt und Splatter bei so unterschiedlichen Autoren wie Alice Walker oder Ian McEwan; vom anderen Lager her durch Veredelungstendenzen mit Hilfe komplexer narrativer Stilmittel, vielfältiger intertextueller Anspielungen (etwa bei Romanen Stephen Kings wie Misery) und einem Zurücktreten der Handlungsbedeutung zugunsten von vielschichtigen Charakterstudien und Milieuschilderungen (etwa bei Elizabeth George). Derartige "Unterhaltungsliteratur mit Niveau" erlaubt im Sinne neuerer Theorien der Rezeptionsästhetik vielfältiges Lesevergnügen, sei es unreflektierter, sei es intellektueller Art.[3]

Zum anderen geschieht eine Ausweitung der Unterhaltungszone hinein in bislang dem Subkulturellen vorbehaltene Gebiete von detailliertem und exzessivem Ausmalen von Brutalität, Gewalt und Mord in bisher unbekanntem Ausmaß und unbekannter Intensität. Die U-Literatur dringt hierbei in Tabuzonen hinein, welche einem den Verkaufszahlen verpflichteten Genre bis vor kurzem noch Terra incognita waren. Es ist dies ein massenkulturelles Phänomen, dem die US-amerikanische Zeitschrift Newsweek 1991 (1. April) sogar eine Titelgeschichte widmete: "Violence goes Mainstream. Movies, Music, Books - Are There Any Limits Left?" Der Artikel berichtete vom drastisch angestiegenen body count in den Fortsetzungen von Filmen wie Die Hard, RoboCop und The Godfather bis hin zu den immer expressiver werdenden Gewaltphantasien in populärer Rap-Music. Se folgen weitere Beispiele, von breit ausgewälzten Bestialitäten in Stephen Kings Romanen bis zum blood & gore in den damals jüngsten Werken von Paul Theroux (Chicago Loop) und Bret Easton Ellis (American Psycho). Im Zentrum der journalistischen Aufmerksamkeit stehen die Gewalttaten in der mit fünf Oskars ausgezeichneten Verfilmung von Thomas Harris' The Silence of the Lambs.

Harris' Trilogie als Hyperbolik der Genrekonventionen

Harris' inzwischen zur Trilogie angewachsene Horrorgeschichten um den psychopathischen Serienkiller Dr. Hannibal Lecter mögen beispielhaft für die oben skizzierten Richtungen postmoderner Unterhaltungsliteratur sein, gerade in ihrem Verweben der bisher gegensätzlich erscheinenden Paralleltendenzen der Nobilitierung und Brutalisierung dieser "leichteren" Gattung. Nach seinem ersten Roman Black Sunday (1973), einem ebenfalls verfilmten Terroristen-Thriller, führte der ehemalige Reporter und Journalist Thomas Harris mit Red Dragon die Figur des Dr. Hannibal Lecter als Nebenperson einer Handlung ein, die auf der Verfolgung eines Serienkillers beruht. Beim Protagonisten des Romans, dem Einzelgänger-Detektiv Will Graham, findet sich bereits das Motiv der Einfühlsamkeit des Verfolgers, die sich bis in die Nähe der Selbstaufgabe und Selbstzerstörung steigert, im Bemühen, dem menschlichen Ungeheuer auf die Spur zu kommen.[4] Bereits in Red Dragon ist, mit der wichtigen Ausnahme der FBI-Novizin Clarice Starling, im Wesentlichen das Personenrepertoire der späteren Romane eingeführt. Es folgte der internationale Bestseller The Silence of the Lambs (1988) und schließlich, nach Jahren gespannten Wartens der Hannibal-Fangemeinde, 1999 der nach dem sinistren Protagonisten benannte dritte Teil Hannibal.[5]

Die Verbindung von Elementen von U- und E-Literatur geschieht in den Romanen Harris' weniger auf dem Gebiet des Formalen, von Stil und Erzähltechnik. Dennoch soll hier eine formale Kurzanalyse geschehen, zumal Harris' Stil dem seiner ebenfalls erfolgreichen Kollegen wie King oder Grisham nicht unähnlich ist. Abgesehen von gelegentlichen Ausrutschern in die Niederungen der purple prose, die sich als Folge seiner - weiter unten zu beschreibenden - grotesken Verknüpfungen auseinanderklaffender Bildfelder darstellen mögen,[6] bevorzugt Harris in seinen Romanen die seit Daniel Defoes Robinson Crusoe dominanten und gattungsprägenden Erzählformen des formalen Realismus. Er betreibt die von Coleridge so benannte suspension of disbelief, nimmt seinen neo-gotischen Fiktionen ihren Illusionscharakter mit exakt recherchiert erscheinender Detailgenauigkeit und Exaktheit der Schilderungen, welche - der breiten Tradition der Thriller und Krimis entsprechend - zudem Einblicke in sonst dem Durchschnittsbürger verborgene Lokalitäten (von den FBI-Headquarters bis zu den Kellerverstecken eines Massenmörders) gewähren. Ebenso spürt er den Gedanken von Psychopathen wie von deren Verfolgern akribisch nach. Zum Realismusprinzip ist auch die häufige Verwendung von Polizeijargon mit seinen Kürzeln und Derbheiten zu rechnen.[7] Im Sinne der Mimesis versucht Harris auch an besonders gewalttätigen Stellen mit elliptischen Stakkatosätzen, der Verwendung des Präsens oder sogar mit lang aneinandergereihten Partizipialkonstruktionen die besinnungslose Rauschhaftigkeit der Bluttaten zu spiegeln.[8] Zur Intensivierung der Leseerfahrung benutzt Harris auch bisweilen, über die Einnahme der Täter- oder Verfolgerperspektive hinaus, die erlebten Rede, wenn Investigatoren sich in die Gedankengänge des Täters hineinwinden oder wir kurze Einblicke in die perverse Mentalität der Killer erhalten.[9] In Teil III der Trilogie wird darüber hinaus auch das Stilmittel der direkten Leseranrede benutzt, um uns in die intimsten Bereiche des Protagonisten zu führen. Dem Rezipienten wird dabei von der auktorialen Stimme eine gesteigerte Aufmerksamkeit und Konzentration abverlangt. Es wird eine klammheimliche Sympathie wie ein gebannte Furcht schaffendes Eindringen in die Intimzone des Monsters erreicht - in Imitation einer langen Kamerafahrt, die schließlich den Fokus im close up auf den Protagonisten lenkt, der sich unbeobachtet wähnt und privaten Beschäftigungen nachgeht (vgl. H 134f. und 483ff.).

Auch Harris zeigt den für heutige Bestsellerautoren typischen Blick auf die spätere Verfilmbarkeit der Romane und das Eingehen auf die Lesegewohnheiten eines durch visuelle Medien geprägten Rezeptionsverhaltens. Er verwendet gerne die camera eye-Technik, schiebt bisweilen flashbacks zur Erklärung der kindheitlichen Traumatisierung seiner Charaktere ein und bevorzugt das Tempo der schnellen Schnitte - durch kurze Absätze und knappe Kapitel, meist schmucklose Schilderungen und knappe Dialogfetzen.

Die Besonderheit von Harris' Romanen liegt - gegenüber denen seiner literarischen Rivalen im Thriller-Genre - in der großen Bandbreite und Dichte ihrer literarischen und kunstgeschichtlichen Anspielungen. Die Verweise reichen von den anonymen Darstellungen des Wundenmanns bei mittelalterlichen Meistern bis zu den Kupferstichen eines William Blake (RD), von Anspielungen auf griechische Unterweltmythen über Dantes Inferno bis hin zu Bram Stokers Graf Dracula als literarischer Vorgänger Hannibals. Weniger als poeta doctus im Gewand des Erfolgsautors tritt Harris dabei auf, denn vielmehr als ein Schriftsteller, der eklektisch die Literatur- und Kulturgeschichte nach seinen Lieblingsmotiven durchforstet: den vielfältigen gewalttätigen Metamorphosen von Geschlecht, Mensch, Tier und Monstrum. Derartiges Plündern von Bildungsgut erscheint manchen Rezensenten entsprechend als penetrant: "[Es m]ag sein, dass man mit den Anspielungen [in H.] auf die florentinische Malerei des 15. Jahrhunderts ein Kunstgeschichtenseminar ein Semester lang auf Trab halten kann [...]".[10]

Noch stärker aber als die Bezugnahme auf Kunst und Literatur kennzeichnet die Trilogie ihre hohe Dichte von intermedialen Verweisen auf die Filmgeschichte aus. Inhaltlich hat dies Klaus Theweleit für die Verfilmung von SL beschrieben:[11] "Die Metamorphose, von der der Film handelt, beschreibt auch seine eigene Gestalt; er verwandelt sich permanent vor unserem Auge von Filmart zu Filmart." Die Genrebezüge erweisen sich als ein sich ständig wandelndes Konglomerat der Elemente des konventionellen Polizeifilms mit spektakulären Action-Szenen, des Psychatriefilms, des neo-gotischen Horrorfilms, des Detektivfilms in der Tradition der tales of ratiocination mit ihren mehrdeutigen clues, in Anlehnung an Poe und Doyle. Schließlich erlauben Filme wie Romane auch eine Deutungsweise, welche in ihnen die Metamorphosen der Protagonistin Clarice Starling als eine berufliche wie persönliche story of initiation erkennen.

Stellvertretend für jüngste Tendenzen hin zur "Unterhaltungsliteratur Plus" erlauben Harris' Romane entsprechend unterschiedliche Lesarten. Man mag den Thrill spannender Unterhaltung genießen; die Werke können darüber hinaus aber auch "von Intellektuellen als virtuoses Spiel mit kulturgeschichtlichen Codes goutiert werden",[12] wobei man im perversen Serienmörder Anspielungen an den Unterweltgott Hades erkennt und die gekonnt zwischen Mensch- und Tierebene gesponnene Textur des Metamorphosen-Motivs faszinierend findet. Die hohe "Zitierdichte" der Romane sowie ihre enge thematische und personelle Verzahnung erlaubt auch eine Erklärung ihres Erfolgs beim Lesepublikum. Der Semiotiker Umberto Eco hat "Kultfilme" wie Casablanca als Katalysationsstellen des kollektiven Gedächtnisses verstanden, die gerade aufgrund ihrer mannigfaltigen Verwendung von Konventionsmustern, Klischees, "intertextual frames" und "intertextual archetypes" -- im vielfältigen Recyclen literarischer, filmischer oder lebensrealer Situationen, Figurenkonstellationen, Charakterzeichnungen etc. -- erfolgreich sind. "Two clichés make us laugh but a hundred clichés move us because we sense dimly that the clichés are talking among themselves, celebrating a reunion."[13]

Das von der Kritik bisher erkannte Zentralmotiv der Metamorphose als Perpetuum mobile in SL lässt sich nicht nur auf die gesamte Trilogie übertragen. Es stellt sich auch als wesentliche Innovation der Trilogie für die oben erwähnten Gattungen dar, denen sie ihre Bauelemente verdankt: den Konventionen von Filmen und literarischen Texten, die dem Bereich Horror, Thriller, Detektivkrimi, Entwicklungsroman etc. zuzuordnen sind. Harris' wesentliche Innovation besteht, so sei hier thesenhaft formuliert, in der sich in der Trilogie steigernden Überspannung der konventionellen Elemente in die Bereiche des Grotesken hinein. Harris hat damit dem Genre des Unterhaltungsromans sukzessiv neue Dimensionen eröffnet. Er bricht in einer doppelten Stoßrichtung nicht allein in die letzten Tabuzonen der Anything-goes-Gesellschaft ein, sondern errichtet Brückenköpfe des bisher Ausgegrenzten in das Zentrum der Unterhaltungsindustrie hinein. Für die Entwicklung postmoderner Unterhaltungstexte hat er damit in seiner Trilogie folgende paradigmatisch erscheinende Umwandlungen der konventionellen Bausteine des Thriller-Genres vollzogen: 1. Die Erweiterung des hard-boilded Mainstream-Thrillers bzw. der akkurat das Grauen auslotenden Detektivgeschichte à la Poe durch bisher splatter-Produktionen vorbehaltenen Elementen von Gewalt, Horror, Perversionen und Ekel. 2. Die Hyperbolik erstreckt sich auf die Verkehrung von crimes of passion zu animalistisch-atavistischen Gewaltakten, von der Deduktionsbeherrschung der Detektive zur ziellosen Technikgigantomanie des staatlichen Verfolgungsapparats. 3. Harris erhöht die Figur des Mörders zum Serienkiller, zum existentialistischen Helden über Tod und Leben, als hypertrophe Verkörperung des amerikanischen rugged individualism. 4. Das traditionell oft als symbiotisch verstandene Verhältnis von Täter und Detektiv(in) steigert sich in das der Seelenverwandtschaft, dann gar ins inzestuös Erscheinende. 5. Die kollabierenden staatlich-gesellschaftlichen Normen, Werte und ihre ausgehöhlten Funktionsträger lassen die Gesellschaft als pervers erscheinen, nicht den perversen Triebtäter. 6. Die implodierenden disparaten Elemente können kompositorisch zunehmend nurmehr im danse macabre des Grotesken im Zaum gehalten werden.

Im folgenden sollen exemplarisch einige dieser Elemente eingehender betrachtet werden.

Funktionen von Gewalt, Horror, Perversionen und Ekel

"Few literary texts are likely to make it nowadays into the new historicist canon unless they contain at least one mutilated body."[14] Diese Bemerkung des marxistischen Literaturwissenschaftlers Terry Eagleton beschreibt die Obsession neuerer Theorierichtungen mit dem Körper - allerdings in seiner entstellten, abnormen, sich auflösenden oder zerstückelten Form. Die Literaturschaffenden scheinen den Theoretikern dabei nicht nachstehen zu wollen. Neben den oben erwähnten Romanen Theroux' und Ellis' weist eine Reihe höchst unterschiedlicher Fiktionen die minuziöse Beschreibung von Zerstückelungsszenen auf: In Saul Maloffs Heartland, Thomas Pynchons Gravity's Rainbow, Yukio Mishimas The Sailor Who Fellfrom Grace with the Sea, Bernard Malamuds God's Grace, Ian McEwans The Innocent oder Patrick Süskinds Das Parfüm werden Leiber in ihre Einzelteile zertrennt - im sinnentleerten literarischen Echo auf das antike Erneuerungsritual des Sparagmos. Ihnen gemein ist ein Sinndefizit: der fehlende Schock der Erkenntnis, der Anagnorisis. Für Robert Detweiler erscheint dies als Signum postmoderner Sinnentleerung und Fragmentarisierung: "The greatest tragedy of our age may be that we have so little sense of the tragic - perhaps a mutilated sense - because the dismemberment of everything from real, individual human bodies to whole societies (this is the century of the genocide) seems to have no point, no pattern, no myth." Entsprechend sei die Häufung von Körperverstümmelungen in fiktionalen Texten paradoxerweise gerade Ausdruck einer Sehnsucht nach Ganzheit - in "gestures of wholeness".[15] Körperabtrennungen, Menschenverspeisungen, Geschlechtsumwandlungen und andere Transgressionen erscheinen damit in der Fiktion, die nach der inzwischen etwas aus der Mode geratenen Interpretationsrichtung des archetypal criticism stets der Hort des kulturell Verdrängten ist, ein Ausdruck von holistischen Bedürfnissen. Zugleich erscheint die massierte Darstellung des Schaurigen und Blutigen in der Literatur, das Austesten der Grenzen des Erträglichen, eine so hohe Faszination auszuüben. Denn dies zerreißt abrupt den Schleier der neuen Unübersichtlichkeit, die Verhüllung der enthumanisierenden Machtverhältnisse in der Industriegesellschaft, und gibt den ebenso ersehnten wie gefürchteten Blick frei auf die letzte Authentizität der Postmoderne - den sterbenden Körper. Es ist dies eine Funktion von Gewaltdarstellung, die der Katharsis- wie der Eskapismusthese zugleich entspricht. In einer sterilen und risikolosen Gesellschaft, welche auf Triebverzicht aufbaut, ermöglicht Gewalt den Durchbruch des unter der Oberfläche schlummernden Destruktivpotentials als vitale und sinnstiftende Kraft. Fiktionale Szenarien und Identifikationsangebote wiederum erlauben Triebbefriedigung in Tagträumen, das seelische "Abreagieren" mit Hilfe nicht ausgelebter Phantasien.

Das häufig vernommene Stichwort von der Ästhetik der Gewalt stellt sich in fiktionalen Texten als Frage, wie das Grauenhafte abgebildet und damit gebannt werden kann. Harris hat hierbei eine Doppeltaktik entwickelt, die erneut sowohl aus dem Lager der U- wie der E- Literatur stammt. Den Hang vulgärer Gewaltästhetik zur Eskalation, zum exzessiven Schwelgen in Blutphantasmagorien geht er durchaus nach. Er peitscht sie aber bewusst in die Zonen von Ekel und physischem Abgestoßensein hinein, indem er nichts verschweigt und neben visuellen Eindrücken die des Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinns in die Beschreibung einfließen lässt. Dabei bedient er sich einer spätestens seit Edgar Allan Poe ("The Pit and the Pendulum") und Franz Kafka ("Die Strafkolonie") beliebten Diskrepanztechnik: Moralisch abstoßende Brutalität und Unmenschlichkeit stehen im Gegensatz zu der kontrollierten Akkuratesse der Schilderung. Inhaltlich hat dies seine Entsprechung im äußerst kaltblütigen, geradezu gelassenen Vorgehen Hannibals bei seinen diversen Zerstückelungen und seinem gezielten Abbeißen von Körperteilen.

Beauty and the Beast: Das Charisma des hochintelligenten Bösen

Vor allem im Porträtieren seines charismatischen Protagonisten Dr. Hannibal Lecter schlägt sich das hier erkannte Grundprinzip von Harris' Umgang mit literarischen und filmischen Konventionsmustern nieder: das Recyclen bisheriger Grundformen gerät durch die Hyperbolik in den Bereich des Grotesken. Hannibal Lecter ist die Reinkarnation einer vertrauten oxymoronischen Heldengestalt: Gehen doch in einer Person das menschlich Böse, Perverse, Grausame und Asoziale zusammen mit hoher Intelligenz und Rationalität eine explosive, zerstörerische und dennoch verführerische Verbindung ein, paaren sich in ihr raubtierhafte Bestialität und sublime Genialität, Barbarei und Hochzivilisation. Literaturgeschichtlich reiht er sich ein in die Ahnengalerie jener von der verführerischen Teufelsgestalt des Mittelalters, der vice figur der Moralitätenspiele, abstammenden säkularen Nachfolger. In der frühen Neuzeit tauchen diese machiavellistischen Schurken vermehrt auf, ihre kalte Rationalität für böse Zwecke instrumentalisierend, wie Shakespeares Richard III. oder Marlowes Jude Barabas - als Schattenfiguren der vorwärtsdrängenden Selbstentfesselung des Menschen aus der eigenverschuldeten geistigen Gefangenschaft. Später gesellen sich dazu Miltons durch Gottes Liebesentzug gequälter Satan, Thomas Hardys dekadent-verführerischer Alec D'Urberville und schließlich, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, der sich in "unspeakable rites" im belgischen Kongo auslebende Europäer Kurtz aus Joseph Conrads Kolonialerzählung Heart of Darkness. Schon mit Robert Louis Stevensons The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde von 1886 war die hochrationale menschliche Bestie ins Zentrum der Zivilisation und in den Fortschrittsbereich von Wissenschaft und Technik hineingerückt. Inzwischen ist sie, wie wohl bisweilen schon gemutmaßt wurde, auch an der Wall Street ausgemacht worden, inmitten der frenetisch dem puritanischen Arbeitsethos verpflichteten Yuppies der Reagan-Ära, wie bei Bret Easton Ellis' American Psycho. Und wenn wir den Romanen eines John Updike (The Witches of Eastwick, 1984) oder dem Leitthema eines Stephen King Glauben schenken wollen, hat es sich das Ungeheuer dort gemütlich gemacht, wo sonst Langeweile und Alltagseinerlei regieren: in den amerikanischen Vorstädten mit ihrer Mittelklasseuniformität - suburbia.

Im heartland von Amerika, dem gerne als bible belt bezeichneten uramerikanischen Mittleren Westen, geht auch Dr. Hannibal Lecter seinen "unspeakable practices" (RD 92) nach. Einst erfolgreicher Psychotherapeut und als wissenschaftliche Koryphäe anerkannt, ist er selber aufgrund seiner psychopathischen Neigung zur Menschenfresserei im Hochsicherheitstrakt des Baltimore State Prison for the Criminally Insane inhaftiert worden. Die in ihm Mensch gewordene Verbindung von Hochkultur und Atavismus spiegelt sich exemplarisch in der äußerst dramatisch gestalteten Befreiungsszene in SL. Während im Hintergrund die von ihm geschätzten, von Glenn Gould gespielten Bach'schen Goldberg-Variationen auf dem Kassettenrekorder erklingen, überwältigt er brutal seine Wärter und tötet bzw. verstümmelt sie, nicht ohne sich in aller Seelenruhe einen menschlichen Appetithappen zu gönnen. In dieser grausamen Passage wird Hannibal treffend indirekt charakterisiert. Der Psychobösewicht, Nebenfigur in RD, verdeckter Protagonist und Mitspieler Starlings in SL und schließlich Hauptperson und verfolgte Identifikationsfigur in H, ist zwar perverser Triebtäter und fürchterlicher Gewaltverbrecher. Er begeht seine Untaten aber äußerst kontrolliert, berechnend und ohne Erregung. Seine absolute Selbstkontrolle und stoizistisch anmutende Gleichgültigkeit steht im krassem Gegensatz zu den sinnlos erscheinenden Bluttaten, die er bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit zu begehen scheint. Es sei als Beispiel hierfür die Aussage des Gefängnisdirektors Chilton zitiert, der lakonisch einen unglücklichen Vorfall schildert:

On the afternoon of July 8, 1976, he complained of chest pain. His restraints were removed in the examining room to make it easier to give him an electrocardiogram. One of his attendants left the room to smoke, and the other turned away for a second. The nurse was very quick and strong. She managed to save one of her eyes. [...] His pulse never got over eighty-five. Even when he tore out her tongue. RD 60 (die Stelle wird in SL auf S. 11 erneut beschrieben)

Harris verwendet vor allem in Teil III viel Zeit mit der Charakterisierung Hannibals als kultivierter Ästhet und Kunstliebhaber mit Ambitionen zum Philosophen und Menschenkenner. Entsprechend mordet der Protagonist am liebsten stilvoll. So wundert es nicht, dass er in Teil III den Polizeichef der Stadt Florenz, der ihn enttarnt hat, in Imitation historischer Ereignisse aus dem Mittelalter vom Balkon des Palazzo Vecchio erhängt. An anderen Stellen wird mit dem Grauen gespielt, wenn die Gourmetgelüste des Kannibalen eingehend beschrieben werden: seine Vorliebe für Pariser Edelfeinkostgeschäfte, für weiße Trüffel, exquisite Weine, Gänseleberpastete und anatolische Feigen. Dieser doppelbödige kulinarische Tick des Protagonisten entwickelt sich durch I und II hindurch zum leicht wieder erkennbaren schwarzhumorigen comic relief. So etwa in der viel gepriesenen Szene in Teil III,[16] als Dr. Lecter als Fluggast die gereichte Kabinenmahlzeit verweigert, um sich später verstohlen im Dunklen seiner Gänseleberpastete zuzuwenden, wobei er unerfreulicherweise von einem penetranten Jungen gestört wird. Gerät hier der Humor eher in den Bereich des Slapstick, so ist an anderer Stelle die Ironie durchaus subtiler, wenn Hannibal den Killer-Schweinen seiner Gegner entkommen ist und nun einen von ihnen zu der getragen-zeremoniellen Musik des grausamen Tudor-Monarchen Heinrich VIII. verspeist - der übrigens pikanterweise einst von Martin Luther als "engelische Wildsau" betitelt wurde.

Mit seiner Sympathielenkung zugunsten von Hannibal erreicht Harris einen irritierenden Skandal. Er erhebt nach und nach den feinsinnigen und doch perversen Triebtäter Dr. Lecter zur Leit- und Identifikationsfigur seiner Trilogie und mutet dem Leser das Eingeständnis zu, dessen Gedankenwelt, die von den meisten Kulturen als abnormale Obszönität und als Tabubruch stigmatisiert wird, als Teil des eigenen Selbst zu erkennen. Der Leser urteilt über die Protagonisten wie über sich selbst, als Angeklagter, Kläger und Richter zugleich - und das Urteil entzieht sich den gängigen Normen. Es lautet, wie das Ende von Teil III aufatmend rezipiert wird, auf Freispruch. Der Leser wird sich damit eine Komplizenschaft eingestehen müssen, die weiter geht als die klammheimliche Schadenfreude, die noch am Ende von Teil II elizitiert wurde, als Hannibal auf dem Weg zum unsympathischen Dr. Chilton ist und sich in der Filmversion mit dem Wortspiel "I'm having an old friend for dinner" verabschiedet.

Serienkiller und rugged individualism

Der Serienkiller als Sympathieträger: Es ist dies eine kulturelle Obsession, zu der gerade die Verfilmung von SL beigetragen hat. In weiteren Filmen wie California oder Natural Born Killers, mit Lexika und Kartenspielen und entsprechenden Websites zu Medienstars avanciert, sind Serienkiller inzwischen zu verehrten und extrem vermarktbaren Kultfiguren des Geschäfts mit dem Grauen geworden. Ein neuer Heldentypus erscheint geboren, als Schattenfigur des amerikanischen Traums von unbegrenzter Freiheit und Mobilität, von rugged individualism. Ulrich Genzler hat dafür folgende mentalitätsgeschichtliche Erklärung gefunden:

Der Serienmörder [...] nimmt die ideale Freiheit wörtlich, und er zieht den radikalen Schluss, dass er sich die Freiheit nehmen muß, wenn sie ihm verweigert wird. [...] Aus dem kämpferischen Optimismus der Go-West-Bewegung ist die ruhelose Getriebenheit von Opfer zu Opfer geworden. Zuschlagen und Weiterziehen. Hit and run. [...] Geradezu in Reinkultur steht der Serienmörder für radikalen Individualismus und unbedingten Freiheitsdrang, er bringt aber andererseits den American Dream konsequent zu Ende. Vor diesem Hintergrund wird die Besessenheit Amerikas besser verständlich. Der Serienkiller trifft auf einen verborgenen wunden Punkt, weil er als pervertierte Ausgabe und finale Form des amerikanischen Helden zum tödlichen Vollstrecker der alten Ideale geworden ist.[17]

Ist der Serienkiller eine pervertierte Form des Individualismus, so fallen die in Harris' Romanen sich tummelnden Versionen durch die besonders bizarren Formen ihrer "Selbstverwirklichung" auf. Die neben Hannibal auftretenden Serienkiller bleiben freilich flat characters, trotz ihrer zerstörerischen Kraft. Jame Gumb, der Serienmörder aus SL mit dem Spitznamen Buffalo Bill, häutet seine molligen Opfer, um sich mit Frauenhaut zu bedecken. Er karikiert damit geradezu sonstige Formen des gender bending. Die Nähe von physischer und psychischer Deformation wird als Erklärungsmuster für die Perversität von Francis Dolarhyde aus RD geliefert, ebenso wird der Hinweis auf Wohlstandsverwahrlosung in der Kindheit gegeben. In der Tradition der Filme Hitchcocks und ebenfalls im Rückgriff auf die Freudianisierung der gebildeten US-Öffentlichkeit seit dem II. Weltkrieg liefert Harris zur Erklärung der Monstrosität seiner Bösewichter generell das Motiv der traumatisierenden Kindheitserlebnisse nach. Dies folgt auch - fast erwartungsgemäß - in Teil III, wenn Hannibals Wandlung zum Menschenfresser als Reflex auf ein grausames Kriegserlebnis mit seiner Schwester Mischa erklärt wird.

Spiel mit den Konventionen: Verfolger und Verfolgte

In seinen Romanen verwendet Harris Bausteine, die seit der Genese der Detektiverzählung in mannigfaltigen Variationen weiterentwickelt wurden, von E.A. Poes "The Murders of the Rue Morgue" bis zu Elizabeth Georges Geschichten um Inspector Lynley und Sergeant Havers: Die des Meisterdetektivs und seines Begleiters. Dazu gehören die Deduktionsfähigkeiten des Verfolgers, die es diesem ermöglichen, sich in die Vorstellungswelt des Täters hineinzuversetzen und die offen daliegenden clues geschickter als der staatliche Verfolgungsapparat zu enträtseln. Allerdings sind auch hier Harris' Übernahmen der Konventionen durch Grenzüberschreitung und Übertreibung gekennzeichnet. Das Paar Clarice Starling und Hannibal Lecter ist miteinander auf eine intrikate Weise verbunden, die beide - je nach Situation in den Romanen - zu Gegnern, Komplizen, Verfolgten, Verfolgern, Eingesperrten und Befreiten, Tätern bzw. Opfern werden lässt.

Auch die von Hannibal perfekt beherrschte und von Clarice Starling - die damit gewissermaßen in die Fußstapfen von Will Graham aus RD tritt - erst sukzessiv zu erwerbende Fähigkeit, sich in die Gedankenwelt des Täters hineinzuversetzen, greift auf eine essentielle Eigenschaft des Detektivs zurück, die bereits der Urvater aller Detektive, E.A. Poes Dupin aus "The Murder in the Rue Morgue" (1841)[18], verkörperte: Die Verbindung von Ratio und Emotion, von scharfer Analyse und schöpferischer Einbildungskraft. Erst vermittels dieser doppelten Fähigkeit gelingt es dem Detektiv, das komplexe Rätselgeflecht des Falls gleichsam mit Röntgenaugen zu durchschauen. Hannibals Charakterdualismus von Bestialität und Intelligenz tritt als pervertierte Form des intuitiven und rationalen Verstehens hervor, welches ihn dazu befähigt, Starling in SL als wichtiger Hinweisgeber zu helfen.

Die Affinität von Täter und Ermittler: Starling und Dr. Lecter

Um dem Täter auf die Spur zu kommen, muß der Verfolger seit Poes "The Purloined Letter" sich in ihn hineinversetzen.[19] Die Fähigkeit zur Empathie ist eine gefährliche Gabe, wenn es sich beim Täter um ein menschliches Monstrum handelt. Sie wird zur quälenden Schizophrenie beim Verfolger des ersten Teils der Trilogie, Will Graham. Am Anfang von SL erhält dann die FBI-Auszubildende Clarice Starling die Warnung mit auf den Weg, nicht nur körperliche Distanz zu dem Inhaftierten Dr. Lecter zu wahren: "[...] tell him no specifics about yourself. You don't want any of your personal facts in his head." (SL 6) Es scheint alles auf ein ungleiches Duell hinzudeuten, zumal der Serienkiller Dr. Lecter geradezu eine pervertierte Empathiefähigkeit besitzt, die sich bei ihm als Entmenschlichung und Appropriation - Einverleibung - des Gegenübers darstellt. Während allerdings das Objekt der Begierde bei den übrigen Serienkillern weiblich ist, stellen sich Hannibals Gegner - bei seinen Verteidigungs- bzw. Befreiungsversuchen - meist eher als männliche dar.

Teil II und Teil III der Trilogie lebt von der Interaktion der beiden Protagonisten Starling und Lecter. Ihre Annäherung kann beschrieben werden in Form von ansteigenden Stufen, in Form einer persönlichen und beruflichen Reifung und Emanzipation Starlings, die von Lecter teilweise offen gelenkt wird. Anfangs weist Lecter Starling zurecht und etabliert - in Inversion seiner Position als Gefangener - klare Hierarchien von Alter, Geschlecht und sozialer Herkunft. Seine kalte Intelligenz seziert Starlings Bemühen, ihre Herkunft aus dem unteren sozialen Milieu zu kaschieren und als kühle Karrierefrau aufzutreten: "You look like a rube. You're a well-scrubbed, hustling rube with a little taste." (SL 21). Was zunächst wie ein voyeuristisches Interesse an Clarices Vergangenheit wirkt, führt schließlich zu einer Seelenlektion, als Lecter Starlings Jugendtraumata aufdeckt: Den nie verkrafteten frühen, gewaltsamen Tod des Vaters und die schrecklichen Schreie der Frühjahrslämmer auf der Farm ihres Ziehvaters, des Onkels. Diese kann sie nicht retten, aber als sie - in Übertragung ihrer Wünsche - Buffalo Bills nächstes Opfer vor dem Tod bewahrt, kann sie die alten Dämonen ihrer Seele gewissermaßen austreiben. Hannibal Lecter fungiert somit als Mentorfigur, autoritativer Ratgeber und weiser Gehilfe, der ihren doppelten Prozeß der Selbst- und Täterfindung durch enigmatische Ratschläge in Form von philosophischen Sentenzen initiiert und begleitet. Das Ende von Teil II wirkt damit als Befreiung Starlings von der Männerwelt: von ihrem beruflichen Mentor Crawford, ihrem leiblichen Vater und ihrem Übervater Lecter.

Die Annäherung Starlings am Ende der Trilogie an Dr. Lecter wird durch ihre in Teil II und III zunehmende detektivische Kompetenz vorbereitet. Dies ist eng mit dem Wachsen ihrer Empathiefähigkeit verbunden; und so kann sie sich in die Lebens- und Gedankenwelt ihres Alter ego Hannibal hineinversetzen und gelangt auf dessen Spur. Die Intensität der dabei evozierten Gefühle deutet bereits auf eine spätere Liebesbeziehung hin: "[S]he had to know his preferences. She needed to know him better than anyone in the world knew him. What are the things I know he likes? He likes music, wine, books, food. And he likes me." (H 226) Der Prozeß der Annäherung ist am Ende von Teil III erfolgreich. Lecter erhebt schließlich seine Lebensretterin zur gleichberechtigten Partnerin. Dies geschieht in einer Intensivtherapie, bei der hypnotisierende und Halluzinationen verursachende Drogen sie in diese Richtung biegen. Rituell wird diese Form des bonding begleitet durch das gemeinsame kulinarische Vernichten ihres größten Feindes und Verfolgers. Es ist dies in der Tat eine bizarre Vereinigung, bei der Starlings rite of passage der endgültigen Selbstfindung zugleich eine Verbindung mit dem gesellschaftlich als Inkarnation der Unmoral und des Bösen stigmatisierten Hannibal Lecter ist. Zudem zeigt die Zweierbeziehung deutlich inzestuöse Züge: Hannibal ist Vaterfigur für Clarice, sie Schwesterersatz für ihn. Das Inzestmotiv wird im übrigen auf perverse Weise kontrastiert durch die tatsächliche inzestuöse Beziehung von Mason und Margot Verger (vgl. H 237). Nötig wird diese Entwicklung auch als Ablösung von den inzwischen sich als disfunktional herausgestellten gesellschaftlichen Institutionen, Autoritäten und Normen. Das weitere Leben der beiden entspricht dann einer postmodernen Utopie: Als glückliches Paar genießen sie in immer neuen, schönheitschirurgisch abgewandelten Erscheinungsformen des Ichs ein globales Schlaraffenland der ästhetischen Interessen und des gemeinsam praktizierten Hedonismus.

Im "Happy end" des Romans kulminiert eine leitmotivisch die drei Romane begleitende Grundaussage: Nicht die Perversion wirkt anormal, sondern die Normalität der Romanwelt erscheint zunehmend unerträglicher, bedrohlich, menschenverachtend -- ja pervers. Die gesellschaftlichen Stützen, vor allem der Verfolgungsapparat von Polizei, FBI und Politikern ist an der eigenen Selbstsucht, Unbeweglichkeit, Unfähigkeit und Korruption kollabiert. Die Hektik und Rastlosigkeit der technisch hoch aufgerüsteten Verfolgerteams führen in die Aporie und Ergebnislosigkeit. In Teil III ist das FBI zum Sammelsurium inkompetenter und sexistischer Technokraten herabgesunken. Bezeichnenderweise gerät Jack Crawford, Starlings Mentor, als einziger anständiger Mann unter den Apparatschiks in Teil III zunehmend aus dem Blickfeld und stirbt schließlich.

Die Kritik an gesellschaftlichen Institutionen und ihren Vertretern ist weit gestreut in der Trilogie. Bisweilen sind komische Effekte intendiert, etwa wenn Hannibal in SL von dem sadistischen Gefängnisdirektor Dr. Chilton für sein Fehlverhalten dadurch bestraft wird, dass er pausenlos mit Sendungen von TV-Evangelisten berieselt wird. Zielscheibe der Satire sind darüber hinaus besonders korrumpierbare Politiker und die heimlichen Drahtzieher der Politik, wie der Industriemagnat Verger. Als Beispiel sei hier eine Nebenstelle zitiert, die im Sinne eines foreshadowing schwarzhumorige Züge hat. Sie ist zugleich Teil der auktorialen Strategie, die Grenzen zwischen den Lebewesen zu verwischen, und sie ist implizite Kritik am menschlichen Umgang mit der Kreatur, wenn lakonisch Zahlen über die Massenschlachtungen der Vergers geliefert werden: "Today the Vergers slaughter 86,000 cattle a day, and approximately 36,000 pigs, a number that varies slightly with the season." (H 52) Durchgehend Zielscheibe beißender Satire ist vor allem die Sensationspresse, die sich von Verbrechern für deren Zwecke missbrauchen lässt, und die deren Perversität erst zur Popularität verhilft: "[T]he supermarket press [...] love Lecter even better than Prince Andrew." (SL 5)

Kritik an korrupten Politikern, der Boulevardpresse, egomanischen und bestechlichen Gesetzeshütern - es ist dies inzwischen eine konventionalisierte Standesschelte in der Unterhaltungsliteratur geworden, ein Gemeinplatz etwa bei John Grisham. Appelliert wird dabei an undefinierbare Ablehnungs- und Unsicherheitsgefühle beim Leser angesichts der Anonymität und Intransparenz auf der Ebene der Funktionsträger einer abstrakten Gesellschaft. Das Bild verdüstert sich bei Harris gegenüber anderen Autoren jedoch erheblich in Teil III, nicht allein aufgrund der oben beschriebenen ansteigenden Häufigkeit und stärkeren Dichte der Beispiele des Versagens von Autoritäten. Teil III ist darüber hinaus in seinem starken Referenzcharakter auf Teil II teilweise eine guided tour ehemaliger Kriegsschauplätze, wobei die inzwischen heruntergekommenen, teilweise leerstehenden oder immer labyrinthischer erscheinenden Gebäude die Erinnerungen eintrüben. Der Verlust von festen topographischen Bezugspunkten und die damit verbundene Heimatlosigkeit und Unbehaustheit der beiden Protagonisten spiegelt die Verlustgefühle im menschlichen Bereich: ehemalige Freunde und Kampfesgenossen sind verschwunden, sterben oder haben als korrupte Beamte das Lager gewechselt. So endet die Utopie des Zusammenlebens von the Beauty and the Beast als Lichtblick in einer verdunkelten Welt. H stellt somit auch auf dieser Ebene eine Übersteigerung der Gattungskonventionen dar, nämlich in diesem Fall derer des dark thriller.[20] Trotz der Auflösung des Kriminalfalls bleibt die Konspiration dunkler gesellschaftlicher Kräfte weiter bestehen, Paranoia verbreitend als irreduzible Restbedrohung der Menschheit - in diesem Fall nicht durch das perverse Paar, sondern durch die im Wachsen erscheinende Perversität der Gesellschaft.

Das Groteske als Gesellschafts- und Kulturkritik?

Implodierende gesellschaftliche Normen und sich auflösende Gesellschaftsstützen werden auf der Ebene der Erzählung durch einen wie am Reißbrett komponierten Plot zusammengehalten. In der Bildsprache des Romans wirkt das Stilmittel des Grotesken als integrative Klammer. Auch wenn prominente Erforscher des Grotesken die Unterschiedlichkeit seiner Erscheinungsformen betonen und die Möglichkeit aphoristischer Definitionen verneinen, lässt sich diese ästhetische Kategorie doch - gerade mit Bezug auf Harris' Werke - eingehender in etwa wie folgt beschreiben:[21] Das Groteske stellt sich dar als spielerische, fluide Vermengung von sonst unvereinbaren Bereichen. Es ist die beunruhigende Verbindung von Spiel und Ernst, Lachen und Verzweiflung, Natürlichem und Widernatürlichem, Maßvollem und Maßlosem, Alltäglichem und Ungeheurem - dies nach den Prinzipien der Distortion und Verfremdung. Proportionen und Dimensionen werden überzeichnet. Es entstehen Spannungen zwischen komischen und grauenhaften Elementen, womit Züge des schwarzen Humors hervortreten.

Als Funktion des Grotesken hat die Forschung vor allem erkannt, dass mit ihm die Kunst Kritik an der Grundbefindlichkeit moderner Gesellschaftsentwicklung formuliere, indem die Deformation als Erklärungsbegriff fungiert. Thomsen erkennt im Grotesken einen "der wesentlichen Grundzüge moderner künstlerischer Aussage [...] mit Hilfe dessen sich die ungeachtet aller wissenschaftlichen Rationalität und zunehmender Technisierung unübersichtlicher und irrationaler werdende Welt der Gegenwart künstlerisch bewältigen läßt."[22] Und weiter: "die Gestaltung des Grotesken ist ein Versuch, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören."[23] Schließlich hat das Groteske noch konkrete sozial- und kulturkritische Intention und Funktion: "Der Betrachter/Leser soll hierdurch verblüfft, verunsichert, geschockt und zu eigenem (kritischem) Denkprozess angeregt werden."[24] Betrachten wir schließlich eine dazu passende Bemerkung Carla Gregorzewskis zu den irren Monologisierern aus E.A. Poes Kurzgeschichten, so zeigen sich immer deutlichere Verknüpfungspunkte mit den Kreaturen aus Harris' Romanwelt: "Die psychischen Deformationen seiner [i.e. Poes] Individuen und die Absurdität ihrer Lebenssituation sind eine Anklage der gesellschaftlichen Verfassung."[25]

In der Tat kommt Harris' entfremdete Welt des Grotesken dem Ursprung des Begriffs erstaunlich nahe. Der aus dem Italienischen kommende Begriff (grottesco, grotta = die Grotte) bezog sich auf "unterirdische[...] Trümmer[...], sog. 'Grotten' antiker Thermen und Paläste, [...] wo man wunderliche und verschnörkelte Wandmalereien fand".[26] Er beschrieb originär die Vermengung von menschlichen, animalischen (und pflanzlichen) Formen in Gemälden und Skulpturen, wie das OED von 1961 unter dem Stichwort vermerkt: "A kind of decorative painting or sculpture, consisting of representations of portions of human and animal forms, fantastically combined and interwoven with foliage and flowers." Derartige fantastische, bizarre und seltsame Verschränkungen breiten sich als dicht geknüpftes Netz von Metonymien, Anspielungen und Doppeldeutigkeiten über die Romane Harris' aus. Es verbindet, immer engmaschiger werdend, die Bildlichkeit des tierischen und menschlichen Bereichs. Die Verbindung ist zugleich eine Transgression und Perversion, denn der Mensch, der die Grenze zum Raubtier oder zum andersgeschlechtlichen Wesen überschreitet, sinkt die chain of being herab in das Reich der Unterwelt, obwohl er sich beim Versuch, Herrn über Leben und Tod zu sein, zum Göttlichen emporschwingen wollte.

Der Homo sapiens steht bei Harris vor der Wahl, von der Gesellschaft entmenschlicht zu werden oder sich selbst zu entmenschlichen. Hannibal the Cannibal wird tief unter der Erde in einem Hochsicherheitsgefängnis hinter Gittern begraben. Er erhält zusätzlich einen Mundschutz, später eine Eishockeymaske. Später, in Freiheit, verbirgt er sich hinter den Bandagen seines frisch operierten Gesichts oder den mehrfach chirurgisch veränderten Gesichtszügen eines Fremden. Jame Gumb pirscht sich an seine Opfer mit einem Infrarot-Nachtsichtgerät heran, das ihn wie ein riesiges Insekt erscheinen lässt: "The lenses of his goggles on their small protruding barrels look like crab eyes on stalks." (SL 196). Und die Larven der Insekten, welche er seinen Opfern in den Hals schiebt, weisen ein unheimliches Totenkopfbild auf. Clarice Starling sieht sich nicht allein einer animalischen Männergewalt ausgesetzt, sondern muß immer wieder ihren Mut in dunklen Orten beweisen, in Gebäuden, die wie das Habitat von wilden Tieren wirken. Tatsächlich gibt es eine Szene in SL, in der sie sich an ausgestopften Tieren im nächtlichen Labyrinth des Smithsonian National Museum vorbeiwagt. Es gibt aber auch die den sprichwörtlichen Ameisenhaufen ähnlichen Korridore des FBI-Zentrums, Lecters unterirdische Gefängniszelle am Ende eines langen Gangs, Gumbs infernalische Kellerkatakomben - Teil II fordert von Starling immer wieder das Eindringen in den Bereich des Animalischen, Männlichen, Aggressiven.

Der Schritt ins Animalische hinein spiegelt sich häufig auch im Äußeren der Romanfiguren. Hier finden seelische Entstellungen in körperlicher Deformation oder Hässlichkeit ihr Äquivalent, von der Hasenscharte des Red Dragon über Hannibals sechs Finger an der linken Hand bis zu den Folgen von Gewaltanwendungen, unter denen auch der Protagonist von Teil I zu leiden hat. Will Grahams Gesicht, so der knappe Kommentar in SL zur Identifikationsfigur des Vorläufers RD, ist nach einer brutalen Attacke Hannibals entsetzlich entstellt: "He gutted Will with a linoleum knife when Will caught up with him. It's a wonder Will didn't die. [...] Will's face looks like damn Picasso drew him, thanks to Lecter." (SL 6) Zur Freakshow der Romane gehört auch Margot Vernon, die sich durch übermäßiges Bodybuilding in eine Mannfrau umzuwandeln scheint, wie Starling bemerkt: "The twill riding breeches whistled on Margot Verger's big thighs as she climbed the stairs. Her cornsilk hair had receded enough to make Starling wonder if she took steroids and had to tape her clitoris down." (H 54)

Die Nähe zum Animalischen und zur skrupellosen Brutalität von Raubtieren erklärt in den Romanen zugleich eine latent stets vorhandene Gewaltbereitschaft. Als anthropologische Universalie durchbricht sie in unterschiedlichen Menschheitsepochen auf unterschiedliche Weisen die dünne Zivilisationsschicht. Dies wir ausführlich in H thematisiert, wenn etwa in Florenz eine viel besuchte Ausstellung zu mittelalterlichen Folterinstrumenten emblematischer Teil des setting ist. Und es nimmt teilweise manierierte Züge an, wenn selbst in Nebenszenen Bezüge gesucht werden, wie in der Bezeichnung der Uffizien als "great meat house of hanging Christs" (H 132). Es wirkt gar aufdringlich, als Hannibals Verfolger Pazzi das Thema der Mensch-Tier-Metamorphose anschneidet:

When some young smart alecks put a morph program in the Questura computer that changed the Three Tenors' faces into those of jackass, a pig and a goat, Pazzi stared at the morph for minutes and felt his own face changing back and forth into the countenance of the jackass. H 114

Die grotesken Verbindungen des Unverbundenen finden ihre Übersteigerung und ihren Kulminationspunkt in der Figur des Schweinemastbaron Mergon Verger, Hannibals Verfolger in Teil III. Er fristet in einer abgeschiedenen Luxusranch sein Leben, ein Freak mit kaum noch menschlichen Zügen. Ein Auszug aus seiner degoutanten Beschreibung sei hier abgedruckt:

Mason Verger, noseless and lipless, with no soft tissue on his face, was all teeth, like a creature of the deep, deep ocean. Inured as we are to masks, the shock in seeing him is delayed. Shock comes with the recognition that this is a human face with a mind behind it. It churns you with its movement, the articulation of the jaw, the turning of the eye to see you. To see your normal face. H 57

Der dekadente Sprössling einer alten Industrieadelsdynastie leidet an den äußeren Entstellungen seines Körpers, die seine innere Perversion abbilden. Dem sadistischen Kinderschänder hatte Dr. Lecter einst - in einer Art drakonischer Bestrafung für seine Vergehen - einen Drogencocktail gereicht, der ihm die Sinne nahm und zu entsetzlicher Selbstmutilation führte, wie Vernon sich erinnert:

He [Hannibal] went over to the mirror I [Mason Verger] looked at myself in, and kicked the bottom of it and took out a shard. I was flying. He came over and gave me the piece of glass and looked me in the eyes and suggested I might like to peel off my face with it. He let the dogs out. I fed them my face. It took a long time to get it all off, they say. I don't remember. Dr. Lecter broke my neck with the noose. They got my nose back when they pumped the dogs' stomach at the animal shelter, but the graft didn't take. H 62

Grässlich verstümmelt, ohne Gesicht, ohne Lippen, kann er nur eine Hand und sein einziges verbleibendes Auge bewegen, wird künstlich an der Lungenmaschine beatmet. Er ist reduziert auf seinen Rachetrieb und ersinnt die perfideste Methode, um sie in die Tat umzusetzen: In Sardinien gezüchteten Killerschweine sollen ihr Opfer bei lebendigem Leib verspeisen - ein genau inszeniertes "theater of Dr. Lecter's death" (H 104). Mit Hilfe Starlings entkommt Lecter dieser Hinrichtung. Das dabei angerichtete Blutbad nimmt Dimensionen des Sublimen an und wird sogar ins Heilige gesteigert. Hannibal wird zur verratenen Christusfigur am Kreuz stilisiert, der seine Peiniger erwartet: "Dr. Hannibal Lecter hangs on the wall beneath the horse skull like a terrible altarpiece." (H 401) Und später, nachdem er in letzter Sekunde errettet wurde, weckt die Szene auf unheilvolle Weise Erinnerungen an biblische Vorbilder wie an den Auszug Mose durch das sich teilende Meer: "Dr. Lecter, erect as a dancer and carrying Starling in his arms, came out from behind the gate, walked barefoot out of the barn, through the pigs. Dr. Lecter walked through the sea of tossing backs and blood spray in the barn." (H 423)

Auf diesen Seiten des Romans explodiert die brisante Überspanntheit des Grotesken. Mason Verger wird von seiner Schwester getötet, indem diese ihm sein Haustier, einen Aal, in den Schlund stopft. Es mischt sich dabei beim Leser Genugtuung über die Hinrichtung des Perversen Mason mit Entsetzen über die ekelerregende Exekutionsweise:

Margot [...] stuffed the eel's maw into Mason's mouth, it seizing his tongue with its razor-sharp teeth as it would a fish and not letting go, never letting go, its body thrashing tangled in Mason's pigtail. Blood blew out Mason's nose hole and he was drowning. H 430

Derartige Szenen von bisher in der U-Literatur unbekannter Bestialität ließen denn wohl den Rezensenten der FAZ den Roman als "irrwitziges und unglaublich grausames Buch" mit "einer durch und durch bizarren Ironie" beschreiben.[27]

Die Appropriation des Grotesken: in der U-Literatur

In vielem ähneln die Schlusspassagen von Hannibal einer Illustration der mythischen Bilder des irischen Dichters W.B. Yeats in dessen düsterer Endzeitvision, dem Gedicht "The Second Coming" von 1919.

Things fall apart: the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,
The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere
The ceremony of innocence is drowned [...][28]

Wie bei Yeats findet in Harris' Schlussteil eine Verlustbeschreibung bisheriger Sinnkontexte statt. Beim Modernisten Yeats war es noch der Verlust einer sinnstiftenden religiös-metaphysischen Mitte, das Entsetzen über die später von Derrida so benannte "Abwesenheit des transzendentalen Signifikats"[29], welches apokalyptische Stimmungen heraufbeschwor und den Wunsch nach radikalen, gewaltsamen Akten von Synthese und neuer Bedeutungshaftigkeit weckte. Beim Postmodernisten Harris dienen christliche Bilder und Verweise auf übergeordnete Mythologeme eher dazu, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, die Derrida'sche "Dissimination"[30] - Zerstreuung des Sinns - zu illustrieren. Die Anarchie ist inzwischen als institutionalisierter Autoritätsverlust und letztlich Menschenfeindlichkeit auf der gesellschaftlichen Ebene festzumachen. Die Funktion des Grotesken verbindet sich dabei mit der von Gewaltdarstellung, wie sie Arno Heller in seiner themenbezogenen Studie zum amerikanischen Gegenwartsroman beschrieben hat, als "allgegenwärtige[...] Wunschphantasie von Kontrolle und Macht in einer Realität, die gerade diese Bedürfnisse immer stärker zu frustrieren scheint."[31] Ihre Ubiquität als vom System produzierte Ventilfunktion droht dabei den Gewaltphantasien die ihr gerne in der künstlerischen, anti-bourgeoisen Avantgarde -- vom spanischen Filmemacher Luis Bunuel bis zum frühen Ian McEwan -- zugesprochene subversive oder zerstörerische Kraft zu nehmen. Statt moralische oder soziale Erschütterung des Lesers bzw. Zuschauers droht Groteskes und Gewalt lediglich kurzen Thrill und vorübergehende Triebentladung zu liefern - bleibt sie vordergründige Effekthascherei.

Thomas Harris wendet sich an einer Stelle von Hannibal diesem Dilemma der postmodernen popular fiction zu. Es geschieht in einer selbstreflexiven auktorialen Äußerung, die der Beschreibung einer Ausstellung mittelalterlicher Folterinstrumente in Florenz vorangestellt ist:

Now that ceaseless exposure has calloused us to the lewd and the vulgar, it is instructive to see what still seems wicked to us. What still slaps the clammy flab of our submissive consciousness hard enough to get our attention? H 127

Höchst ambivalent ist diese Stelle, in der sich der implizite Autor, den wir hier wohl mit dem lebenden Autor gleichsetzen können, über den abgehärteten Geschmack des Massenpublikums beschwert. Dabei wiederholt er einen Allgemeinplatz, dass der heutige, von der Gewaltdarstellung in den Medien übersättigte Mensch einem Kranken gleiche, der schon zu lange mit starken Arzneien behandelt worden ist und nur noch auf die kräftigsten Reizmittel reagiert. Wenn dieser dann immer härtere Dosen von Brutalität verlangt, so liefert Harris mit seiner Hyperbolik der Gewalt eine besonders kräftige Verabreichung, auch wenn sie manchem auf den Magen schlagen mag. Harris bleibt in seinen Romanen in der Dialektik dieser Kulturkritik stecken: Der Kritiker der kulturellen Fehlentwicklung ist gleichzeitig tief beteiligt an ihr.

Alison Lee hat in einem Kapitel ihres Buchs Realism and Power. Postmodern British Fiction exemplarisch anhand des Romans Misery von Stephen King den Nachweis gebracht, dass popular fiction postmoderne Erzähltechniken in ihre Erzählweisen inkorporiert hat, ohne die demystifizierenden, subversiven und Autorität fragmentierenden Ansätze der Postmoderne übernommen zu haben, "the techniques and playfulness of postmodernism are used without any of its strategies of subversion."[32] Für Thomas Harris bleiben ähnliche Vorbehalte ob der tatsächlichen subversiven Wirksamkeit der von ihm verwendeten Elemente des Grotesken, der Hyperbolik und der Grausamkeit. Seine implizite wie explizite System- und Ideologiekritik, sein zynisches und nihilistisches Menschenbild und seine säkularisierte Apotheose des Serienkillers als existentialistischer Übermensch - all dies erscheint als Erfolgsstrategie vieler Werke der jüngsten Unterhaltungsliteratur eher systemkonforme und stabilisierende Züge zu tragen. Wenn bei ihm Gewaltexzesse als reinigender Akt der Selbstbefreiung zelebriert werden und sich in ihnen Blicke auf eine imaginäre Sinnhaftigkeit offenbaren, dann versteht dies der Rezipient weniger als Aufruf zur Veränderung der bestehenden Ungerechtigkeiten, denn als kurzfristige Fluchtmöglichkeit aus der Tristesse des Alltagslebens. Harris hat ein Erfolgsrezept gefunden, das in Abwandlung auch andere Künstler und Entertainer der Postmoderne - von Madonna über die Spice Girls und Eminem bis zu Stephen King - für sich entdeckt haben: Die postmoderne Auflösung alter Dichotomien in der Übernahme der Randelemente des Verpönten, Unterdrückten und Ausgegrenzten. Es ist dies jener viel beschriebene return of the repressed als eine Hineinführung dieser Randelemente in jene von Kapitalismus, Massenkultur und Kommerz bestimmte dominante kulturelle Konfiguration, die gerne immer noch mit dem einst so passenden prä-postmodernen Terminus "Mainstream" belegt wird. Auch Gewalt und Horror, selbst in ihrer grotesken Übersteigerung, sind inzwischen "Mainstream".

Anmerkungen
  1. Patricia Highsmith. Plotting and Writing Suspense Fiction. Boston, 1972, 50.
  2. Vgl. beispielhaft Ulrich Broich. Gattungen des modernen englischen Romans. Wiesbaden: Athenaion, 1975, besonders das Kapitel 1 ("Der 'entfesselte' Detektivroman"), 17-56.
  3. Zu den unterschiedlichen Lesarten vgl. z.B. Umberto Eco. Lector in fabula. München/Wien, 1987.
  4. Vgl. die letzten Gedanken Grahams im Roman RD: "Graham knew too well that he contained all the elements to make murder [...]." (RD 354)
  5. Alle weiteren Zitate im Text beziehen sich auf folgende Ausgaben: Thomas Harris. Red Dragon. London: Corgi Books, 1991 (=RD); The Silence of the Lambs. London: Mandarin, 1991 (=SL); Hannibal. New York: Delacorte Press, 1999 (=H).
  6. Vgl. SL, den Anfang von Kapitel 26 zum Erwachen der Insassen im Baltimore State Hospital: "Far beneath the rusty Baltimore dawn, stirrings in the maximum security ward. Down where it is never dark the tormented sense beginning day as oysters in a barrel open to the lost tide. God's creatures who cried themselves to sleep stirred to cry again and the ravers cleared their throats." Für ähnliche conceits vgl. SL 194, 266
  7. "The young man at the wheel seemed in awe of Crawford and drove with excessive caution, Starling thought. She didn't blame him; it was an article of faith at the Academy that the last agent who'd committed a Full Fuck-Up in Crawford's command now investigated pilfering at the DEW-line installations along the Arctic Circle." (SL 88)
  8. Vgl. exemplarisch die auch im Film intensiv ausgemalte, brutale Befreiungsszene Hannibals in SL 228f.
  9. Als Beispielstelle sei die Situation genannt, als der Detektiv Graham den ersten Tatort in RD, das Haus der hingemetzelten Leeds-Familie, inspiziert und in die Rolle des Täters schlüpft: "What he did with Mrs. Leeds was obvious. But what about the others? He had not disfigured them further, as he did Mrs. Leeds. The children each suffered a single gunshot wound in the head. Charles Leeds bled to death, with aspirated blood contributing. The only additional mark on him was a superficial ligature mark around his chest, believed to be postmortem. What did the killer do with them after they were dead?" (RD 13)
  10. Michael Althen. "Das Grunzen der Schweine." SZ 16. Juni 1999, 19.
  11. Ausführlich zitiert und paraphrasiert in Stefan Krauss. "The Silence of the Lambs." Metzler Film Lexikon. Ed. Michael Töteberg. Stuttgart, 1995, 537-539, hier 538.
  12. Kraus (1995), 538.
  13. Umberto Eco. "Casablanca: Cult Movies and Intertextual Collage." In David Lodge, ed. Modern Criticism and Theory. A Reader. London - New York, 1988, 446-455, 448 und 453.
  14. Terry Eagleton. The Ideology of the Aesthetic. Oxford, 1990, introduction.
  15. Robert Detweiler. "Torn by Desire: Sparagmos in Greek Tragedy and Recent Fiction." In David Jager, ed. Postmodernism, Literature and the Future of Theology. Basingstoke - London - New York, 1993, 60-77, hier 75.
  16. Vgl. Stephen King. "Das Spukschloß der Seele." Der Spiegel 25/1999. (www.spiegel.de/druckversion/0,1588,28021,00.html).
  17. Ulrich Genzler. "Kill and Thrill." Süddeutsche Zeitung 14./15. August 1993, Beilage, 113.
  18. Vgl. hierzu Ulrich Suerbaum. Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart, 1984, 36.
  19. Vgl. Suerbaum (1984), 43.
  20. Vgl. Jerry Palmer. Thrillers. Genesis and Structure of a Popular Genre. London, 1978, v.a. 82ff.
  21. Ich nehme Bezug auf die Kurzdefinition in Gero von Wilpert. Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart, 1961, 219. Vgl. zu den weiteren Ausführungen auch zwei Standardwerke zum Grotesken: Wolfgang Kayser. Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg, 1957, und Christian W. Thomsen. Das Groteske und die englische Literatur. (Erträge der Forschung, Bd. 64) Darmstadt, 1977.
  22. Thomsen (1977), 1.
  23. Thomsen (1977), 147. Thomsen bezieht sich an dieser Stelle auf Kayser.
  24. Thomsen (1977), 200.
  25. Carla Gregorzewski. Edgar Allan Poe und die Anfänge einer originär amerikanischen Äshetik. Heidelberg, 1982, 270.
  26. Gero von Wilpert (1961), 219.
  27. Verena Lueken. "Doktor Lecter kehrt zurück." FAZ 12. Juni 1999, 41.
  28. Zitiert nach Arno Löffler / Jobst-Christian Rojahn, eds. Englische Lyrik. Eine Anthologie für das Studium. Heidelberg, 1976, 149.
  29. Jacques Derrida. Grammatologie. Paris, 85, 87.
  30. Jacques Derrida. La dissémination. Paris, 1972.
  31. Arno Heller. Gewaltphantasien. Untersuchungen zu einem Phänomen des amerikanischen Gegenwartsromans. Tübingen, 1990, S. 292.
  32. Für eine - freilich nicht immer stimmige - Kritik des "co-option" von subversiven narrativen Elementen wie Selbstreflexivität und Multiperspektivität in der U-Literatur vgl. Alison Lee. Realism and Power. Postmodern British Fiction. London, 1990, 128-141, 134f. Allerdings geht Lee in der Tradition der U-Literatur-Gegner von einem per se passiven bzw. naiven Rezipienten aus und beschränkt sich auf die Textebene.

© Laurenz Volkmann 2003
Magazin für Theologie und Ästhetik 26/2003
https://www.theomag.de/26/lv2.htm