Religionstheologische KulturhermeneutikReligion in der MediengesellschaftAndreas Mertin |
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"Religion ist das, was man hat. Theologie ist das, was man darüber denkt. Das Nachdenken über das, was man hat - oder zu haben glaubt -, ist Philosophie. Also ist das grundsätzliche, systematische Nachdenken über die Religion Religionsphilosophie. Wenn Sie mich fragen: Theologie bräuchte es nicht zu geben." Mit diesen Worten endet ein Aufsatz des Philosophen Herbert Schnädelbach über "Metaphysik und Religion heute".[1] Wenn Theologie nur noch systematisches Nachdenken über Religion ist, transformiert sie sich dann nicht selbst in Religionsphilosophie? Diese Frage stellt sich auch nach der Lektüre von Wilhelm Gräbs jüngst erschienenem Buch über die Religion in der Mediengesellschaft.[2] Wie inzwischen offensichtlich alle Erscheinungen zum Thema "Religion und Medien" setzt auch Wilhelm Gräb ein mit der rhetorischen Substitutionsfrage: Kirche - eine Sinnagentur von gestern? Medien - eine Sinnagentur von heute?[3] Dass es sich um eine rhetorische Frage handelt, ergibt sich explizit aus der Zielrichtung des Buches, das ja Möglichkeiten aufzeigen möchte, wie angesichts des Wandels des Religiösen in der Mediengesellschaft "die Praxis der Kirche, ihr Reden von Gott, der Welt und den Menschen darauf antworten kann". Das ist aber nur dann möglich, wenn die Kirche auch aktuell noch mit Aussicht auf Erfolg als Sinnagentur verstanden werden kann. Ich möchte vorab einige der Kriterien benennen, die mich bei der Lektüre des Buches (nicht zuletzt im Blick auf die zu schreibende Rezension) bestimmt haben: Zunächst einmal interessierte mich, wie bei einer grundlegenden Besinnung auf die Religion in der Mediengesellschaft jene Schnittstelle in Anschlag gebracht wird, an der Woche für Woche über die Religion in der Alltagskultur debattiert wird: die Schule. Ich glaube, dass eine Praktische Theologie, die die Situation und Praxis der Schule (das heißt der Lehrerinnen und Lehrer) und die sie begleitenden Reflexionen vernachlässigt, das kulturtheologische Potential des Themas nicht voll ausschöpft. Im Kontext der Bearbeitung jener Fragen, denen sich Lehrerinnen und Lehrer Stunde für Stunde ausgesetzt sehen, bewährt sich heutzutage Religion, ihre Deutungsfähigkeit und Anschlussfähigkeit an den Alltag. M.E. muss jede praktische Theologie - zumal wenn sie kulturhermeneutisch arbeitet - hier und nicht bei der pastoralen Praxis ihren Ausgang nehmen. Die Begegnungen in der pastoralen Praxis sind allzu oft weitgehend milieuspezifisch eingegrenzt, die in der Schule erfolgen in der Bandbreite gesellschaftlicher Segmente. Zum anderen galt mein Interesse natürlich der Frage, was von dem, was dieses Magazin für Theologie und Ästhetik formal wie inhaltlich bestimmt, in einer Praktischen Theologie der Medienreligion zum Tragen kommt. Denn das Magazin für Theologie und Ästhetik ist ja selbst Teil der sich abzeichnenden kulturhermeneutischen Wandlungen der zeitgenössischen Theologie. Mit anderen Worten also, inwieweit kommt zum Beispiel das Internet als neueste Kulturtechnik bei Wilhelm Gräb in den Blickpunkt, welche Beachtung wird den virtuellen Welten und den durch sie absehbaren Veränderungen der Theologie geschenkt, und natürlich auch, welche Bedeutung hat das Verhältnis von Theologie und Ästhetik im Rahmen einer Religionstheologie für die kirchliche Praxis? Gerade der Blick auf die jüngste Bildungsdenkschrift der EKD zeigt ja, dass die gegenwärtige Praktische Theologie hier noch viel aufzuholen hat. Und schließlich interessierte mich die materiale kulturhermeneutische Arbeit, das heißt wie tief lässt sich eine Untersuchung der Religion der Mediengesellschaft auf die detaillierte Analyse des zu untersuchenden Materials ein. Sind die gewonnenen Erkenntnisse ganz konkret aus dem Material erschlossen oder nur abstrakt auf das Material appliziert? Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus der Studie für die praktisch-theologische, die kulturhermeneutische und die theologisch-ästhetische Arbeit? Welche medialen Inhalte geraten bei der Suche nach dem Sinn fürs Unendlich in den Blick? Vorab aber ist festzuhalten, dass Wilhelm Gräbs Arbeit eine der wenigen umfassend ansetzenden Studien zur Medienreligion sind und allein schon die Fokussierung auf diese Frage der Anerkennung wert ist.[4] Zuletzt hatte Horst Albrecht zehn Jahre zuvor in einem posthum herausgegebenen Aufsatzband das Thema in seinen Schattierungen bearbeitet.[5] Sinn fürs Unendliche - Religion in der MediengesellschaftIn der Einleitung setzt sich Gräb mit der "Theologie in Zeiten des religiösen und kulturellen Pluralismus" (19-36) auseinander. Das ist zu einem guten Teil die Auseinandersetzung mit den vertrauten Engführungen der "Dialektischen Theologie" und der ebenso vertraute Verweis auf die Theologie Paul Tillichs sowie Überlegungen von Carl Christian Bry zur "verkappten Religion".[6] Im ersten Teil geht es dann um "Theoriefragen Praktischer Theologie" (37-81), genauer um "Religionstheologie für die kirchliche Praxis" (39-52), um "Religionstheologie und Kulturhermeneutik (53-69) und um "Praktisch-theologische Perspektiven auf die Religionskultur der Gegenwart (70-81). Schon der erste Abschnitt zur "Religionstheologie für die kirchliche Praxis" ist mir dabei etwas zu eng gefasst, zielt er doch schon direkt auf die kirchliche Praxis: "Die Praktische Theologie ist eine verstehende Theorie der kirchlichen Religionspraxis im Kontext ihrer kulturell-gesellschaftlichen Bedingungen" (39). Das steht durchaus in der Tradition des Selbstverständnisses der Disziplin der Praktischen Theologie, meines Erachtens sollte diese zunächst und vor allem aber auch, wie Gräb an anderer Stelle zurecht schreibt, Hilfestellung für die religiöse Praxis im allgemeinen (51) und erst sekundär der kirchlichen sein. Als Definition "religionstheologischer Kulturhermeneutik" gibt Gräb dann vor: "Die religionstheologische Kulturhermeneutik kann nun bestimmt werden als die Hermeneutik der Kultur und ihrer Medien im Blick auf ihren die Unbedingtheitsdimension ansprechenden Sinngehalt. Ihre Aufgabe findet sie in kulturellen Medien, die ihre Materialisierung und somit Wahrnehmbarkeit heute vor allem in den elektronischen Massenmedien haben. Es geht um die Wahrnehmung der religiösen Sinndimension im Gesamt der kulturellen Medien und um deren theologischen Begriff. Religionstheologische Kulturhermeneutik verfährt dabei wie alle Kulturhermeneutik so, dass sie die Grundmomente des Kulturverstehens bei ihrem Vorgehen berücksichtigt: Individualität und Sozialität religiöser Sinnproduktion und -kommunikation, die Religionsgeschichte und die geographisch verschiedenen Religionskulturen. Theologie als religionstheologische Kulturhermeneutik verlangt insofern, auf die wissenschaftliche Erkenntnis der "Religion in Geschichte und Gegenwart" auszugreifen. Es versteht sich von selbst, das dies nur interdisziplinär möglich ist und hier auch nur im Blick auf die Medienthematik ansatzweise geleistet werden kann. Die Praktische Theologie muß die historischen Herkunftsbezüge und systematischen Verweisungszusammenhänge in den symbolischen Welten gegenwärtiger Religionskultur mit in Betracht ziehen. Ihre spezifische Aufgabe ist es, die Hermeneutik der biblischen und christlichen Überlieferungen mit der Hermeneutik der Kultur der Gegenwart, die heute vor allem durch die Massenmedien konstituiert wird, zu vermitteln. Sie zielt auf Beiträge zur Erschließung und Kommunikation der symbolischen Welt des Christentums in der Vielfalt der symbolischen Welten in der heutigen Mediengesellschaft." (68f.) Nach einer Skizze der Krise der religiösen Sinnsysteme in der modernen Kultur und der Pluralisierung religiösen Sinns geht es im zweiten Teil dann um "Transformationen der Religionskultur" (83-131) in Geschichte und Gegenwart, insbesondere um die, wie Gräb es bezeichnet, "Umformungskrise des Christentums". Das exemplifiziert Gräb zunächst an dem weiten Feld von "Kunst und Religion", später daran anschließend an der Bilderflut der Medien. Damit ist der Übergang geschaffen zum dritten Teil, in dem es um die verschiedenen Erscheinungsformen der gegenwärtigen "Mediengesellschaft" geht (133-242). Diesen Teil gliedert Gräb in sieben Abschnitte:
Das Ganze holt ziemlich weit aus, beginnt zunächst mit einer Bestimmung der Massenmedien, arbeitet sich dann, Überlegungen Jochen Hörischs aufgreifend, durch die Mediengeschichte als Religionsgeschichte (also von 40000 vor Christus bis in die Gegenwart), um dann wieder bei den Massenmedien zu landen. "Aufgabe der Kirche ist ... das Erzählen von Heils-Geschichten nicht im Sinne gesteigerter Krisenprovokation, sondern als Hilfe zur Krisenbewältigung - durch Sinnvergewisserung im Unbedingten. Es geht um dann um den Aufbau der ordnenden, in Letztgewißheiten verankernden Kraft religiösen Bewusstseins. Wie kann religiöse Kommunikation diese ordnende Kraft gewinnen, sei es in den Medien selbst, sei es im Raum der Kirche?" (173) - Dieser einleitende und zugleich grundlegende Satz Gräbs aus dem Abschnitt "Konsequenzen für die religiöse Kommunikation in der Kirche" macht zweierlei deutlich: 1. Dass die von Gräb beschworene Nähe von Kunst und Religion gerade im Blick auf die Moderne keine substantielle ist, denn zumindest die moderne Kunst ist dieser Funktionszuschreibung Gräbs für die Religion geradezu entgegengesetzt. 2. Deutlich wird daraus aber auch, warum Nachrichten, Unterhaltung (= Kino), Werbung, Radio, Fernsehen und Internet zu den zentralen folgenden Untersuchungsgegenständen gehören, ist ihnen doch der narrative und zugleich affirmative Charakter analog zur so beschriebenen Religion explizit eingeschrieben. Die folgenden Seiten sind die konkretesten, das heißt am Material orientiertesten des Buches, insbesondere der Abschnitt über den Kinofilm. Dabei stößt man allerdings nicht auf viel Neues. Über den sinnstiftenden Gehalt von Nachrichten findet man Einschlägiges schon bei Horst Albrecht oder Günter Thomas,[7] über die Sinnmaschine Kino bei Jörg Herrmann und Inge Kirsner,[8] über die Religion der Werbung bei Horst Albrecht, Hartmut Futterlieb und Andreas Mertin.[9] Die Stärke der Gräb'schen Ausführungen liegt eher in der Systematisierung und theologischen Auswertung im Rahmen einer funktionalen Religionstheorie zugunsten einer aktualisierten kirchlichen Praxis. Bleibt noch das Internet. Hier bleiben Gräbs Äußerungen freilich konturlos. Sein Verhältnis zu dieser Kulturtechnik ist offenkundig - wie bei der Mehrzahl seiner Kollegen - ein eher gebrochenes. Die Orientierung im gesamten Buch geschieht weiterhin konservativ an der Gutenberg-Galaxis. Aufsätze, die zuerst im Internet erschienen sind, werden konsequent nach ihrer ersten Druckform zitiert. Man könnte vermuten: Aufsätze, die nur online erschienen sind, wurden erst gar nicht berücksichtigt. Die Produktivität des Internets, die ja nicht zuletzt in der Zerstörung der Macht bisheriger Wissenseliten liegt, wird nicht angemessen gewürdigt.[10] Gräb deutet das Internet im Rahmen von Substitutionsüberlegungen, wo doch seit den Anfängen dieser Technik klar ist, dass sie als Körperextension, als Erweiterung wirkt. Was aber ist das für eine Kulturtheologie, die eine neue revolutionäre Kulturtechnik, die sich mit einem neuen Medium verbindet, nicht oder doch nur ansatzweise zur Kenntnis nimmt? Zu fragen wäre doch, was das religiöse Komplement zur Körperextension ist? Wo ist die Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten im Religiösen durch das WWW und wo werden sie realisiert? Cultural Studies
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https://www.theomag.de/27/am110.htm |