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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren XIII

Aus der Bücherwelt

Karin Wendt

Praktisch Kunst

Für ein entkrampfteres Verhältnis zur Kunst plädiert Wolfgang Ullrich in seiner Essaysammlung "Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst". In neun Texten umreißt er das Feld kultureller ästhetischer Praxis von der Romantik bis in die Gegenwart und kommt jeweils zu dem Ergebnis, dass der Begriff einer autonomen, die gesellschaftliche Realität konterkarierenden oder kritisierenden Kunst, zwar historisch deren Befreiung aus ihren staatlichen und kirchlichen Auftragsstrukturen beförderte, gegenwärtig jedoch eine Überforderung unseres Bewusstseins bedeute. Er sei zum Korsett geworden. Frei und autonom seien "beliebte Epitheta der Kunst", tatsächlich aber würden "dem Publikum in der Moderne häufig Vorschriften gemacht, wie es sich Kunstwerken zu nähern habe." (S. 13) Diese falsche Moral der Kunst mache letztlich den Status jener Freiheit und Autonomie selbst fragwürdig. Die Entmündigung im Namen der Freiheit der Kunst habe zur Folge, dass wir uns entweder vor ihr bücken oder uns überhaupt nicht mit ihr auseinandersetzen, ihr also gar nicht erst begegnen. Der Kunstkritik wirft er vor, dass sie anstelle von Deutung und Vermittlung die Überhöhung von Kunst betreibe und damit deren praktische Bedeutung verschleiere. "Die Abrüstung" des Kunstbegriffs, die in der Kunstproduktion längst stattgefunden habe und auch im öffentlichen Bewusstsein erste Folgen zeitige, müsse endlich auch theoretisch vollzogen werden.

Hier hätte Ullrich jedoch auch ansetzen und eine Kritik formulieren können, die nicht von einem aus seiner Sicht negativ besetzten Kunstbegriff getragen wird, sondern dessen Verabschiedung voraussetzend zu neuen Einsichten über das Verhältnis von ästhetischer Reflexion und Praxis in der Gegenwart kommt. Stattdessen polemisiert Ullrich traditionell gegen die "Erhabenheit des Bildes" und gegen alle Theoretiker, die sich dafür eingesetzt haben. Er wird damit nicht nur der Kunst nicht gerecht. Dass unsere Haltung bis heute der Kunst gegenüber duckmäuserisch ist, sehe ich nicht. Schon gar nicht als pauschale Diagnose. Eher müsste man von einer mehrfach perspektivierten Freiheit im Umgang mit Kunst sprechen. Ob und wenn ja, zu welchen Konflikten dies führt, wäre zu überprüfen. In jedem Fall, gälte es die These auch an Beispielen der Gegenwartskunst und nicht nur an solchen der Zweiten Moderne zu reflektieren.

Mir scheint es, dass Ullrich die Begriffe Kunst und Kunsterfahrung sowie ästhetische Erfahrung und deren Kritik nicht ausreichend unterscheidet und so meist zu pauschalen, mindestens aber zu unklaren Urteilen kommt. Durchgängig schilt er "die Kunst", "die Moderne" oder "den Betrachter". Dass künstlerische Negativität ökonomisch impulsgebend sein kann, ist keine neue Erkenntnis, und Ullrich bereichert diese Diskussion um kein einziges Argument. Er verlässt sich auf Vorurteile, die er mehr oder weniger beliebig gegeneinander ausspielt, wie in dem Text "Überschätzt, unterfordert. Mit der Kunst zur Revolution?". Die bekannte Behauptung, die Autonomisierung der Kunst habe mit dazu beigetragen, dass sie gesellschaftlich nicht wirksam werden konnte, unterstreicht er damit, dass mit einem Auswandern der Kunst in außerkünstlerische Bereiche wie Mode und Design die Kunst unsichtbar würde. (S.44f.) Wo hat diese widersprüchliche Polemik ihre Spitze? Es ist überhaupt schwierig zu sagen, wohin Ullrichs Kritik genau zielt. Ist es die Überführung von Theorie in Praxis ohne jeden kritischen Rest? Das hieße, den Gewinn der Nachmoderne, Praxis und Reflexion übergängig zu denken, nicht aber kausal zu verstehen, gerade zu unterschlagen.

Konstruktiv ist allein Ullrichs Einklagen einer anderen Haltung gegenüber Kunst. Aber auch hier gelingt es ihm nicht, eine Kritik der Haltung zu entwickeln, die über die Dialektik von Moderne und Kunsterfahrung, wie sie Brian O'Doherty in seinen Aufsätzen zum "White Cube" aufgezeigt hat, hinausführt. O'Doherty schreibt dort zum schwierigen Verhältnis von Sehen und Erkennen nach der Moderne: "Als wir unserer Kunstwahrnehmung bewusst wurden, als wir sahen, wie wir sehen, da löste sich jede Gewissheit über das, was außen ist, in den Unsicherheiten des Wahrnehmungsprozesses auf. Das Auge und der Betrachter stehen für diesen Prozess, der permanent die Paradoxa der Bewusstheit umtreibt. Es gäbe die Chance, die beiden Surrogate loszuwerden und 'direkt' zu erfahren. Eine solche Erfahrungsweise würde freilich die Selbstbewusstheit der Erfahrung aufheben, welche die Gedächtnisfunktion unterstützt. Auge und Betrachter erkennen das Bedürfnis nach direkter Erfahrung an, zugleich wissen sie, dass die moderne Form des Bewusstseins nur vorübergehend im Prozess aufgehen kann. Noch einmal tauchen Auge und Betrachter in doppelter Funktion auf - als Bewahrer und Zerstörer unseres Bewusstseins." Nach den Folgen dieses Prozesses wäre weiter zu fragen. Ullrichs Beobachtungen liegen weit davor.[1]

In zwei Texten deutet Ullrich seine Neukonturierung eines angemessenen Kunstverständnisses ab. In "Kunst als Arbeit. Aus der Geschichte eines anderen Kunstbegriffs" versucht er einen "dritten Weg" aufzuzeigen. Kunst und Arbeit seien nicht gleichzusetzen (wie in einem kultischen Begriff von Arbeit im Faschismus oder wie in der Stilisierung des Künstlers als Arbeiter im Kommunismus), Kunst sei aber auch nicht das Andere von Arbeit (wie für die Avantgarde), Kunst müsse man "wie Arbeit verstehen". Was das jedoch für Ullrich beinhaltet, wird mir nicht recht deutlich. Es scheint ihm darum zu gehen, Grenzen einzuebnen, Kipp- und Mischphänomene ernst und gut zu heißen, um insgesamt die Bereiche von Kunst und Gebrauch füreinander zu öffnen. Anstelle "radikaler Gesten" befürwortet er "behutsame Adaptionen", um die Rolle des Künstlers und der Kunst neu zu definieren. In dem Aufsatz "Ohne Folgen? Bilder im Plural" erkennt Ullrich in der Pluralisierung der Bilder die Entwicklung hin zu einer "folgenlosen Kultur". Die Entwertung des Einzelbildes sei jedoch nicht zu bedauern, sondern als Chance eines befreiteren Umgangs mit Bildern zu ergreifen: "Der Blick wird frei auf eine Bildproduktion, deren Akteure einverstanden damit sind, Bilder ohne Folgen zu machen." (S. 92f.) Die Frage wäre jedoch, ob der Plural generell die Enthierarchisierung fördert oder nicht auch Pluralität verschluckt und damit verdrängt. Ullrichs pauschale Zurückweisung jeglicher Medienkritik ist mir auch hier zu einseitig. Insgesamt ist die Lektüre kurzweilig und man findet interessante Einzelbeobachtungen. Der zentrale Gedanke, der die Aufsätze verbinden soll, bleibt für mich jedoch dunkel. "Bilder können radikal sein, ihre [...] Hängung ist es meistens nicht."[2]

Anmerkungen
  1. Brian O'Doherty: In der weißen Zelle. Inside the White Cube, hg. Von Wolfgang Kemp, Berlin 1996, S. 66.
  2. Ders., S. 22.

© Karin Wendt 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 27/2004
https://www.theomag.de/27/kw30.htm

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