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Magazin für Theologie und Ästhetik


Michael Hanekes Kino

Die "emotionale Vergletscherung" in der Industrie- und Mediengesellschaft
und die Feuer der "Wolfzeit" danach

Roland Wicher

Der jüngste Film von Michael Haneke, "Wolfzeit" ist ein 'apokalyptischer' Film über eine Kleinfamilie, die sich durch ein unbestimmtes Endzeitszenario schlägt. Gleich zu Beginn wird der Vater erschossen, und die Mutter muß den Weg allein mit Sohn und Tochter fortsetzen.

Wie viele Haneke - Filme hat auch dieser ablehnende Reaktionen einiger Kritiken provoziert - "didaktische Gefüge" seien seine Filme, mit unentwickelten Figuren, die gerade in diesem keine Chance hätten, "grace under pressure" zu beweisen (Doris Kuhn in der SZ). Lustlosigkeit bei der Bemühung um filmische Qualitäten zeichnet diese wie auch andere Kritiken (Gansera in epdFilm) aus, zum Teil unsachliche und schlicht falsche Darstellungen und Urteile. Die Filme des österreichischen Regisseurs provozieren bei Kritik und Publikum immer wieder ablehnende Reaktionen. Von den Erfolgen und der Begeisterung sollte man allerdings auch nicht schweigen, die nicht nur sein letzter Kinofilm, "Die Klavierspielerin" (2001) hervorrief.

Die Dissertation von Jörg Metelmann, "Zur Kritik der Kino-Gewalt. Die Filme von Michael Haneke" (München, Wilhelm Fink Verlag 2003) liefert eine Fülle von Einsichten, und macht verständlich, warum Hanekes Filme geradezu darauf kalkuliert sind, Empörung zu erzeugen.

Metelmann bespricht in seinem Film vor allem die drei Filme der "Bürgerkriegs"- Trilogie ("Der siebente Kontinent", "Benny's Video", "71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls") und vierten Film "Funny Games". Ein Interview und eine Besprechung von "Code inconnu" runden als Anhang den Band ab.

Die Filme Hanekes werden vor dem Hintergrund einer beeindruckenden Fülle von film- und kulturtheoretischen sowie philosophischen Bezugstexten diskutiert, so dass die Freude des Autors an der Theorie und das sozialphilosophische Pathos mit der Zeit ansteckend wirken - eine Fundgrube. Gewählte Zitate aus literarischen und essayistischen Texten am Anfang jedes Kapitels, Schwarzweißabbildungen aus den Filmen, wie auch die detailorientierten Filmbesprechungen und die belesene Theorieschau verleihen dem Text etwas collagenhaftes. Er stellt zahlreiche Beziehungen differenzbewusst her, zu dem Kino Antonionis, Tarantinos und anderen, zu Theorien Brechts, Deleuzes, Lévinas, Benjamins, Adornos, in Kritik an der Medienwirkungsforschung oder auch der Ästhetik Menkes, um nur einige zu nennen. Ein Namensregister hilft hier bei der Navigation. Im Umgang mit den Filmen und Theorien beweist Metelmann Problembewusstsein und Sinn für die Beziehungen und Gegensätze der theoretischen Gehalte von Filmen und Texten. Das Bewußtsein für Probleme der Medienrealität der Gewaltdarstellung in ihrem soziokulturellen Kontext treiben die Reflexion des Buches an, führen zu einer Reihe von interessanten Einsichten und verbinden die Debattenstränge zu einer Einheit. Der gelegentlich gewundene Stil sollte nicht abschrecken - man bringt sich sonst um eine lohnende Lektüre.

Eine der interessantesten Fragen ist die, welche Bilder, welche filmischen Stilmittel eingesetzt werden, um Szenen einer Gesellschaft im Zustand "emotionaler Vergletscherung" (Michael Haneke) zu zeigen. In "dichten Beschreibungen" der vier Filme erschließt Metelmann die Bildwelten, zündend wird es aber vor allem, wenn im zweiten Teil Bildgehalte mit Theorien kollidieren, etwa der Verfremdung und des Fremden der Gewalt.

In "71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls" (1993/94) werden episodenhaft - genauer: in Alltagsfragmenten, unterbrochen durch Schwarzblenden, die wie maschinelle Lidschläge wirken - verschiedene Gestalten verfolgt, deren Schicksal einzig verbunden ist durch den Amoklauf des Studenten Max in einer Bank, ganz am Ende des Films. Drei Menschen werden dabei getötet. Metelmann bespricht eine Szene, in der, von zwei Schwarzfilmsequenzen gerahmt, der Student beim Tischtennistraining an einer Maschine gezeigt wird, die ihm pausenlos in großem Tempo Bälle entgegenballert. Die Länge dieser Einstellung und die Rahmung durch die Schwarzblenden wird gewertet als formales Element der "Verfremdung der Konvention der Gewalt-Darstellung" (S. 178). Fremdheit auf mehr als einer Ebene spielt nach Metelmann bei Haneke eine Rolle. Er verfremdet mit filmästhetischen Verfahren die Sicht auf Alltägliches in seiner Vertrautheit durch Einstellungslängen, Kadrierungen, die antipsychologische Figurenzeichnung und Sprache, dem Aufbrechen der narrativen Funktionalität durch die ungewohnte Inszenierung (S. 154 f.), und erzeugt durch die Gewalttat auf einer zweiten Ebene einen Kontrast, eine "Spannung zwischen der Vertrautheit der alltäglichen Vorgänge und der Fremdheit der (...) Gewaltakte" (S. 196). Dies zeitigt dann auch den rezeptionsästhetischen Effekt, dass über diese "Opposition auch die latente Gewalthaltigkeit des 'normalen Lebens' sichtbar wird" (a.a.O). Die Gewalttaten sind aus den sozialen Umständen nicht "(restlos) zu erklären", von einer "verfremdete(n) Darbietung vertrauter Umstände (wird) in eine neue, eine andere Qualität gesprungen" (S. 192). Die Fremdheit der Gewalt stellt den "Überschuss, diesen Exzess der Ordnung, ja jeder Ordnung" dar, der die sozialen Gegebenheiten relativiert. Die Ordnung kann diesen Exzess nicht bewältigen, er stellt das dar, was sie "um der Ordnung willen verdrängt" hat (a.a.O.).

Die Abfederung und Auslöschung des Fremden, das Verschwinden harter, über Differenz geregelter Ordnungen in modernen, liberalen Mediengesellschaften führt zu seiner radikalisierten, virtuellen Rückkehr als Phantasma, so führt Metelmann mit Slavoj Zizek aus (a.a.O., S. 198 ff., vgl. S. 106 Anm. 32). Sie reichen jedoch nicht aus., um den empfundenen Mangel an Wirklichkeit zu kompensieren, "Sie sind einfach nie gewalttätig genug" (S. 190). Von den Virtualisierungs- und Entdifferenzierungstendenzen der Mediengesellschaften wird alles geschluckt und ermäßigt, wie Metelmann es als ein Grundproblem von Haneke besonders in "Benny's Video" und dem in vielem als Fortsetzung lesbaren Film "Funny Games" versteht (in Aufnahme Baudrillards, S. 188, S. 106). Die genannte Spannung zwischen verfremdetem Alltäglichem und fremder Gewalt etabliert Differenz gegen Virtualisierungstendenzen.

"Funny Games", ein beklemmend aggressiver Film, ist ein selbstreflexives Spiel mit Genreregeln von Thrillern. Zwei Gestalten, halb als verwöhnte upper-class twens inszeniert, halb als (durch weiße Handschuhe und ihre 'gewitzt'-perfide Steigerung der Brutalität) Clownsgestalten eingeführt, dringen in das Ferienhaus am See einer Familie des gehobenen Bürgertums ein. Über taktische Provokationen und plötzliche Aggressionen schaffen sie Gelegenheiten, die Familienmitglieder zu quälen und sukzessive zu töten. Dabei wird über die Wahl filmischer Mittel deutlich, dass es sich hier um den Verlust der Grenze zwischen Spiel und ernster Realität im Film handelt. Das Leiden der Opfer wird sehr eindringlich dargestellt, zugleich wird aber mit dem Gewaltwunsch als Entlastungsbedürfnis des Publikums gespielt, wenn etwa einer der Eindringlinge von der Mutter getötet wird, um dann durch Zurückspulen der Sequenz wiederbelebt zu werden. Indem Haneke etwa in "Funny Games" die Phantasmen filmischer Genres der Gewaltdarstellung radikalisiert, die Grenze zwischen Realem und Imaginärem innerfilmisch unterläuft, lässt er den Film "auf das verweisen, wofür 'Fremdheit' (im ..) (medialen) Umgang(...) mit Gewalt eigentlich steht: das Uneinholbare der Realität" - ein "moralische(r) Zweck (...) dieser Ästhetik der Fremdheit" (S. 194). Die Ethik Hanekes läuft dabei über die "Rezeptionsästhetik" (S. 195; nicht über eine ontologische Konzeption von Alterität wie etwa in der Philosophie Lévinas' - S. 194ff). Nicht über den Schock will Haneke auf Rezeption einwirken, der immer noch in Unterhaltung als Stimulus integrierbar bleibt, sondern als "profundere Irritation (..., als) (Ver-)Störung" (S. 202). Haneke will sein Publikum dabei zum Urteilen irritieren. Die Fremdheit der Gewalt erweist sich in den filmischen Arrangements nicht als "metaphysicum, sondern (als...) radikalisierte rezeptionsästhetische Strategie" (S. 200). Dies stellt Metelmann in die Tradition von Brechts Theaterkonzeption, in ausführlicher Darlegung der brechtischen Konzepte von Gestus und Verfremdung. Dabei bestimmt er als spezifische Differenz zu Brecht oder als Lesart (mit Jameson) die Verfremdung als Paradox, als unauflösbare Spannung, die nicht einfach in dialektische Erkenntnis und Handlungsimpulse überführbar ist (S. 177ff. u. 173).

Immer wieder laufen Metelmanns Analysen darauf hinaus, Haneke als einen modernen Autor unter postmodernen Bedingungen herauszustellen, der sich an den Problemen der Mediengesellschaften und der entsprechenden Theoriekonstellationen abarbeitet. In der Tat kann man diese Differenzen konstatieren, und die Frage wäre, ob Haneke auf diese Weise ein Nach-Postmoderner Filmemacher ist, bestimmt von einem Pathos der Realität und des Ernstes - im Wissen darum, dass das Reale filmisch nur in Brechungen inszenierbar ist. "Er re-etabliert ein modernes Setting, (... das sich u.a. auszeichnet durch) Genre - Kritik (ein durch und durch moderner Ansatz, dessen postmoderne Variante die ironisierende Genre-Parodie wäre" (S. 217).

Dabei ist Haneke nicht in anbiedernder Weise ironisch, wohl aber in einem aufklärerischen Sinn gewitzt - er provoziert Überraschungsmomente der Einsicht in die filmische Konstruktion. Darin kann er durchaus augenzwinkernd sein, wie der Killer Paul, der in "Funny Games" dem Publikum zublinzelt.

Metelmann sieht in Haneke formal einen "Ästhetiker des Zeit-Bildes" (S. 234), gemäß der Kino-Theorie von Gilles Deleuze, also jenes Kinos, dass die "organische" Inszenierung des "Bewegungsbildes" im klassischen Erzählkino verlassen hat. Es geht nicht mehr um die organische Herstellung einer zeitlich linear geordneten Ganzen ohne Bruch, auf das eine kontinuitätsstiftende klassische Filmsprache zielte. Vielmehr geht es um ein Kino, das die Zeit nicht-linear darbietet, das Faktizität, Möglichkeit und Wirklichkeit, Virtuelles und Reales, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges im Interesse der Möglichkeitsräume füreinander öffnet. Formal erreicht Haneke dies durch den fragmentarischen Stil, die Schleifen der Wiederholung, in denen die Charaktere stecken, die immer gleichen, gering variierten Verhaltensweisen, die von Schwarzfilm gerahmte "tote(...) Zeit ohne Entwicklung" (S. 234), aber auch durch die bereits angesprochene Verschleifung von Realität und Medienwirklichkeit im Film in "Benny's Video" und "Funny Games". Inhaltlich ist die Sache schwieriger, weil die Filme ihrem Anliegen nach in einem "Dazwischen" von Zeitbild und organischem Bild verortbar sind - Metelmann bringt hier Hanekes Wahrheits- und Realitätspathos in Anschlag (S. 236 f. u. 238). Es scheint plausibel, gerade von der Fremdheit und der physischen Realität der Gewalt her die entgrenzende Virtualisierungsutopie Deleuzes (bei Deleuze durchaus material gedacht) in Frage zu stellen. Die Instanz des Rezipientenbezugs bringt dabei eine Dimension ins Spiel, die "in Deleuze' Ansatz kaum zu fassen ist" (S. 236). Rezipienten als subjektive, adressierbare, perspektivische Urteilsinstanzen vorauszusetzen bedeutet, in profilierter Weise die Differenz von Film und Realität, von Virtuellem und Faktischem anzunehmen - keine mit Deleuzes poststrukturalistischen Annahmen verrechenbare Haltung. Ob dabei wirklich durch die Irritation des Urteilsvermögens der Rezipienten auch eine solche Verstörung ausgelöst werden soll, die auf eine "dauerhafte Veränderung der Lebenswelt" zielt, so dass nicht "zur Tagesordnung" übergegangen werden kann (S. 256), soll hier nicht vertieft besprochen werden. Es könnte dies auch stärker von Brecht als von Haneke her gedacht sein, wenn auch überzeugt, dass die Perspektivenverschiebung in Hanekes Kino punktuell neue Sichten auf Realität ermöglichen kann und will. Aber beabsichtigt Haneke tatsächlich die Provokation von "Engagement nach dem Ende des Engagements" (S. 179)?

Gäbe es nicht "Code inconnu" und jetzt "Wolfzeit", könnte man ohne eine vertiefte und engagierte Perspektive, wie die Metelmanns, vielleicht aber auch mit und trotz ihr Haneke für einen obsessiven, insgesamt anti-humanistischen Regisseur halten. Metelmann weist richtig auf die Öffnungen für humanen Umgang zwischen den Gestalten hin, die die Filme der "Bürgerkriegstrilogie" und "Funny Games" enthalten. Sie sind selten und extrem brüchig. Das Bekenntnis elterlicher Liebe in "Benny's Video" etwa kann als ein solches Moment gesehen werden. Dazu sei knapp die Filmhandlung umrissen. Benny, ein frühpubertärer Junge, filmt ständig mit seiner Videokamera, so die Schlachtung eines Schweins am Anfang des Films. Er trifft ein Mädchen vor einer Videothek und lädt sie zu sich ein, um sie in einer eskalierenden Mutprobensituation in seinem medienüberfrachteten Zimmer vor laufender Kamera mit dem geklauten Bolzenschussgerät der Schweineschlachtung zu töten. Beinahe rituell reinigt er alles vom Blut und versteckt die Leiche im Schrank, zeigt seinen Eltern jedoch später das Video der Tötung. Diese wollen die Tat vertuschen, um sich selbst und den Jungen vor der Stigmatisierung zu schützen. Benny und seine Mutter fliegen nach Ägypten, der Vater beseitigt die zu Hause Leiche. Nach der Rückkehr wird Benny jedoch mit einem Video zur Polizei gehen, und das aufgezeichnete Gespräch der Eltern über die Beseitigung der Leiche vorführen. Die Erscheinung der Eltern zum Verhör auf der Wache, die ihrer Auslieferung gleichkommt, ist in der Schlusseinstellung auf einem Polizeimonitor der Ü-Kamera zu sehen.

Metelmann kritisiert hier wie andernorts die "utopische" Perspektive, die in den Beiträgen der katholischen Theologen Wessely und Larcher zum Kino Hanekes herausgestellt wird. So deutet Wessely etwa das Geständnis Bennys am Ende als "Buße" (s. S. 97). Metelmann macht dagegen stark, dass Benny als Spieler handelt, der die Videorealität als die eigentliche betrachtet, und über sie, über sein Filmen, die Wirklichkeit steuert. Man kann Bennys Umgang mit seinen Eltern auch tatsächlich als einen Sieg über sie mit den Mitteln seiner Filme sehen. Zwei Details passen allerdings nicht so ganz in dieses Bild, die Metelmann übergeht. Zum Einen blickt der sonst verschlossene und wortkarge Teenager bei der Auslieferung der Eltern seinem Vater das erste Mal im Film direkt ins Gesicht - das vielleicht noch eine Geste des Triumphs - und bittet um Entschuldigung. Bei der Tötung des Mädchens hört man ihn nach dem ersten Schuss zu ihr sagen (ohne dass man das Geschehen auf dem Videomonitor sehen könnte), er wolle ihr doch nur helfen. Dann aber schießt er noch zweimal, weil sie weiterschreit. Vielleicht liegen in diesen unangenehm halbherzigen hochambivalenten Sprachgesten Verweise auf andere Möglichkeiten Bennys. Ähnlich unbesprochen lässt Metelmann die misslingenden Kommunikationsversuche des Jungen nach der Tat, als die Schwester nicht erreichbar ist, und er dem Freund nach erstem Anlauf doch nichts erzählt. Will er sich offenbaren? Will er es aus einem Erschrecken vor seiner Tat heraus? Oder ist alles was er tut eine verdrehte Form des Kampfs um echte Anerkennung, die ihm vor lauter Verstellung seines jeweiligen Gegenübers und seiner selbst von nirgendwoher mehr zukommt?

Eine ganz wichtige Ebene erfasst Metelmann trotz all dieser Fragen, wenn er das Monströse des Video-Kids Benny mit - und gegen - Baudrillard beschreibt. Es ist, wie gesagt, dass strukturell Verdrängte der Mediengesellschaft in ihrer homogenisierenden Tendenz, das in der Gewalt und in der Frage nach dem Tod zum Ausdruck kommt (S. 106). Benny ist sozusagen ein "Alien", ein Feind der integriersüchtigen, darin gleichgültigen liberalen Gesellschaft, allerdings eben im Gegensatz zur baudrillardschen Fassung bei Haneke als das Verdrängte, das aus den Medien selber kommt bzw. in sie auswandern will, das die Differenz zwischen dem Realen und Medialen einreißen will. Man müsste also genauer sagen, Benny ist ein Cyborg (bzw. will es sein), "ein kindlich frisches Produkt des Systems selbst: seine Up - Grade - Version" (a.a.O.). Auf die (viel zu späte) Frage seines Vaters an der Bettkante nach den Gründen für die Tat, deren Folgen der Vater ausgelöscht hat, antwortet er nur, er wollte halt schauen, wie es ist. Das Töten bleibt für ihn unbenennbar, irreal, seine Realität ist der Umgang mit dem Videorekorder und seinen Produkten in einer höchst folgenreichen Auf- und Eindringlichkeit. Der Schauspieler Arno Frisch wird in "Funny Games" einen der mörderischen Spieler darstellen. Im Vergleich zu ihnen gibt es bei Benny evtl. noch ein Flackern der Realitätserfassung in seinen schwachen Versuchen und Ansagen, helfen zu wollen, reden zu wollen, sich zu entschuldigen.

Ebenso schwach ist das Bemühen des Vaters, der, als alles schon verloren ist, seinem Sohn am Bett seine väterliche Liebe zusichert, ihn trösten will, es sei alles wieder in Ordnung, er brauche keine Angst zu haben. Metelmann sieht hierin ein "genuin utopisches Moment: es ist ein Satz, der seine Bedeutung nie einlöst." (S. 107). Dieser Vater wird den ganzen Film über entweder abwesend, oder managerhaft und über Sprache erzieherisch kontrollierend gezeigt. Er ist seinem Sohn so fremd, wie umgekehrt dieser ihm. Man könnte den Satz auch als eine Desavouierung dieses Vaters sehen, der sein Versagen mit einer gut gemeinten Selbstlüge kaschiert. Aber das Liebesbekenntnis wiederholt sich in "71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls" aus dem Mund eines Partners in einer verkrachten Ehe. Wenn also an verschiedenen Stellen die utopischen Momente äußerst schwach oder gar nur noch als falsches Klischee präsent sind, wie Metelmann etwa gegenüber theologischen Deutungen festhält (S. 105, 84, 97, 93, 100, 277), beweist er Gespür, wenn er dennoch an diesen Stellen an einem Rest festhält - und zwar gerade genau am Ort der (verfehlten) starken Bindung in Familie und nahen Beziehungen. "Wolfzeit" wird die Bestätigung dafür liefern, dass Haneke es mit diesen Gesten als prekären Versöhnungsangeboten ernst meint. Vorher hätte man allerdings meinen können, Haneke sei vor allem - obsessiv - interessiert an der Darstellung der Kälte des Bürgertums, klein oder groß, und der Gewalt als aporetischem Bruch, der nichts bewirkt.

Metelmann sieht in dem kritischen, rezipientenorientierten Kino Hanekes eine Nähe zum areligiös-religonsphilosophischen Gedanken Deleuzes, dass das Kino uns den Glauben an die Welt zurückgebe. "Ob wir Christen oder Atheisten sind: in unserer Schizophrenie brauchen wir Gründe, um an diese Welt zu glauben." - "Uns den Glauben an die Welt zurückzugeben - dies ist die Macht des modernen Kinos (wenn es kein schlechtes mehr ist)" (Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt 1999, S. 224, vgl. Metelmann, S. 242). Dies leistet das Kino über die Zeitbilder mit ihren formalen Diskontinuitäten und gelockerten Beziehungen, etwa von Handlungskausalitäten, von Bildern und Tönen etc.. Hanekes Kino leistet dies mit den Mitteln der beiden deleuzeschen Typen von Kino, zwischen denen seine filmische Arbeit von Metelmann angesiedelt wird (S. 245). Es leistet dies, indem er "über Verfremdungseffekte (...) das Urteilsvermögen (anspricht) ('das ist deine Welt, sie hat Gesetze, du kannst Sie ändern'" und zu zweiten über die Fremdheit der Gewalt auf ein "Außen verweist, das aber in einem Glauben zweiter Ordnung ebenfalls auf die Welt und ihre Veränderbarkeit deutet ('das ist deine Welt, du kennst sie nicht, aber gerade das lässt dich handeln')" (S. 245). Hanekes Kino ist darin vielleicht besonders kraftvoll, dass es in einem Zwischenraum angesiedelt ist, zwischen den beiden Bildtypen, zwischen "Moderne und Postmoderne" (a.a.O.), also zwischen Deleuzes Glauben an die Kraft der Modalisierung im Bild und einem Verweis auf die harte Faktizität des Realen, dessen Differenzen womöglich bei Deleuze theoretisch unterlaufen werden.

Mit seinem jüngsten Film "Wolfzeit" erweist er sich erneut als Autor, der ein Werk zu schaffen beabsichtigt. Es finden sich zahlreichen Bezüge zu seinen anderen Filmen, über die Hauptdarstellerin (Isabelle Huppert, wie in "Die Klavierspielerin"), Frankreich als Ort der Handlung, und das Gemisch der Nationalitäten (wie in "Code inconnu", aber auch in "71 Fragmente ..."), über den Code bildungsbürgerlciher "Höflichkeitssprachspiele" (vgl. den Anfang von "Wolfzeit" mit dem Anfang von "Funny Games", s.S. 135), über die Namen wie in der Trilogie und "Funny Games" (Mutter Anna/e, Vater Georg/es, Sohn Benny, Tochter Eva).

So verhalten sich seine Filme zueinander noch einmal wie ein "Zeit-Bild" - sie verhalten sich als mögliche alternative Realitäten und Zeiten, blicken durch Möglichkeitsfenster im Sozialen. Dabei ist bei aller Düsternis, die die Rezensionen unterstreichen, Wolfzeit ein außergewöhnlich humaner Film. Die Charaktere scheinen sich zwar immer wieder zu gefährden und missbrauchen. Immer wieder stellt der Film die Bedrohung durch den Nächsten in einer 'apokalyptischen' Landschaft extremer Knappheit dar. Dennoch sind die Gestalten von ganz regelmäßigen Bemühungen der Fürsorge füreinander gekennzeichnet sind, der Zärtlichkeit zueinander, gerade in der ungewöhnlichen Drucksituation. Dabei werden beinahe wörtlich und bildlich Szenen aus den von Metelmann analysierten Filmen wiederholt, dabei aber um genau die Momente der Zuwendung und der Kommunikation ergänzt, die Ihnen dort zur glaubwürdigen Darstellung warmer Beziehungen gefehlt haben. Sinnbildlich für das veränderte Klima der Beziehungen kann das Feuer stehen , das leitmotivisch eingesetzt wird als Lagerfeuer, Licht- und Wärmequelle, aber auch als lebensbedrohliche Flamme. Dies ist eben ein ganz anderes Motiv als die Kälte der neonlichtgefluteten modernen Räume früherer Filme. Der Film bezieht sich klar auf die klassischen Zombiefilme, wie jüngst auch "28 Days later" von Danny Boyle. Im Gegensatz zu letzterem und zu den Genreregeln wimmelt es hier aber nicht von untoten, gewalttätigen Menschenleichen, findet insgesamt überraschend wenig physische Gewalt statt, außer dem Mord des Vaters am Beginn. Im umgekehrten Umgang mit dem Genre, wenn man "Funny Games" zum Vergleich nimmt, unterschreitet er hier die genrebedingte Gewalt, wie er sie in letzterem exzessiv und verstörend überschritten hat.

Der Film bleibt dabei doppelbödig, man möchte der Harmonie trauen, aber immer wieder kippen die Situationen, immer befürchtet man, dass sich die menschliche Katastrophe doch noch ereignet, und der Film schließt das weder in seiner Inszenierung, noch in den Querverweisen auf die früheren Filme ganz aus. Zudem ist die Katastrophe in vieler Hinsicht schon da, in den Umständen, dem weitgehenden Zusammenbruch der Versorgungsstrukturen, und vieler "fürsorglicher" Tauschbeziehungen, der durch Waren- und Geldtausch gestützten Sorge. Er endet aber mit starken Hoffnungsbildern und Aussagen, auch das eine Möglichkeit des Genres, die es mit der literarischen Technik der prophetischen Bücher und der Offenbarung des Johannes in Beziehung setzen. Am Ende wird ein Kind gerettet und getröstet, von einem Bauern, der vorher vor allem in Pogromstimmung gegen Polen zu sehen war. Ganz zum Schluss, mit einem harten Schnitt, sehen wir einen Blick aus einem fahrendem Zugfenster auf Naturlandschaften. Nichts sonst, in einer langen Einstellung. Ein Hoffnungsbild vielleicht, zumal die Handlung des Films über weite Strecken im Warten einer Gruppe auf einen Zug im Bahnhof bestand - ohne dass sein Kommen gezeigt wird. Das Schlussbild könnte aber auch auf die Endlosschleife einer immer so weiter gehenden Reise hinweisen, die auch das Filmsehen selber ist. So hätte es weit weniger utopischen Gehalt. So oder so, es verweist, wie vieles in dem Film (oft in Nähe zu Tarkovskij) auf die - berechtigte - Fragilität und Ernüchterung des Religiösen im Kino und im Bewußtsein unserer Zeit.

Texte zu "Wolfzeit":

Gansera, Rainer, "Wolfzeit", epdFilm 1/2004, S. 42.

Kuhn, Doris, Tag der Toten. "Wolfzeit" - Michael Haneke steuert die Endzeit an, SZ, 2.1.2004, S. 14.

Nicodemus, Katja,"Wer alles zeigt, sagt gar nichts". Ein Gespräch mit Isabelle Huppert, Die Zeit, 22.12.2003, S. 39.


© Roland Wicher 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 27/2004
https://www.theomag.de/27/rw2.htm