Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Kirchenbau als Heterotop

Andreas Mertin

Kirchenbau heute angemessen durchzuführen, scheint mir nicht mehr möglich zu sein. Entweder berücksichtigt man umfassend das, was wir heute über die Kirchen und die sozialen Milieus wissen, dann ist ein die verschiedenen Milieus übergreifender religiöser Kommunikationsraum kaum noch denk-, geschweige denn konstruierbar. Oder man verzichtet darauf, auch räumlich Kirche für alle zu sein, dann flüchtet man in überlieferte und bewährte oder entwirft inszenatorisch herausragende Raumgestaltungen. Zwischen Rückzug ins Vertraute und Avantgarde eröffnet sich nur wenig Raum.[1]

Zunächst einmal aber kann Kirchenbau grundsätzlich als die paradoxe Aufgabe beschrieben werden, bewusst Heterotope, das heißt Andere Räume im von Michel Foucault[2] beschriebenen Sinne zu schaffen - und damit Alteritätserfahrungen zu ermöglichen -, die als solche freilich gar nicht geschaffen werden können, sondern allenfalls das Ergebnis eines Zufalls oder einer längeren Entwicklung sind.

Früher hatten es die Menschen da einfacher. Für den religiösen Menschen, so schreibt der Religionswissenschaftler Mircea Eliade, war die Welt nicht einheitlich; sie wies Brüche und Risse auf, sie enthielt Teile, die von den übrigen grundsätzlich verschieden sind: "Komm nicht näher heran! sprach der Herr zu Mose, Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden (Exodus 3,5). Es gibt also einen heiligen, d.h. 'starken', bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Räume, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort amorph sind."[3] Als Beispiele für bedeutungsvolle Räume nennt Eliade den Kirchenbau und den Hausbau ("eine Wohnstatt bauen heißt immer, das Werk der Götter nachzuahmen"). Was Eliade beschreibt, ist nach seinen eigenen Worten aber bereits Vergangenheit geworden. Für den modernen Menschen gibt es keine heiligen Räume im beschriebenen Sinne mehr. Wie Menschen früher Räume als heilig erfahren haben, unterscheidet sich grundlegend von der Raumerfahrung in der Moderne. Wer das Verhalten heutiger Menschen in kirchlichen Räumen beobachtet, kann feststellen, dass sie kaum noch in der Lage sind, angemessen religiöse Räume von profanen Räumen zu trennen, aber auch Heterotope wie Kirche und Museum zu unterscheiden. Wenn, wie Eliade schreibt, ein Kennzeichen des religiösen Menschen sein Bedürfnis ist, sich dort aufzuhalten, "wo die Möglichkeit besteht, mit den Göttern zu kommunizieren; also dort wo man den Göttern am nächsten ist", dann sind die Menschen heute davon weit entfernt.

Dennoch gibt es unbestreitbar Anzeichen dafür, dass für viele Menschen der bedeutungsgeladene Raum weiterhin wichtig ist. Für sie ist der Gottesdienstraum ein Ort, der als deutlich von der Hektik, Banalität und Rücksichtslosigkeit des Alltags getrennter Raum erfahren und bewusst auch so gewollt wird. Im Gottesdienstraum sollen die Gesetze des Alltags nicht mehr gelten. Damit ist er noch kein heiliger Raum, aber er ist ein Heterotop, ein von der Normalität abgegrenzter Raum. Diese Erwartung artikulieren nicht ganz überraschend gerade auch die der Kirche distanziert gegenüberstehenden Menschen.

Folgt man dem Soziologen Hans Georg Soeffner, ist es geradezu ein Charakteristikum kirchlicher Gebäude, sich gegenüber dem 'profanum' abzugrenzen: "So verschieden kirchliche Gebäude gestaltet sind, sie alle - sofern sie bewusst als 'Kirchen' entworfen wurden - zeigen demjenigen, der in sie hineingeht, an, dass er bei seinem Eintritt die Schwelle vom Sinnbezirk des Alltags und dessen pragmatischen Zwängen überschritten und sich in einen anderen 'Sinnhorizont' hineinbegeben hat."[4] Was diesen 'Sinnhorizont' aber charakterisiert, ist inzwischen fraglich geworden. Zunehmend muss sich Theologie damit beschäftigen, dass es 'die' christliche Religion nicht mehr gibt, dass sie an Verbindlichkeit verliert, ja, dass der einzelne Gläubige zunehmend zum Produzenten seiner eigenen Theologie wird. In diesem Sinne gilt: "Die theologische Auslegung der offiziellen Religion erfasst nicht länger die vielfältige Deutungspraxis der subjektiven Frömmigkeit".[5] Was einzelne Menschen und Gruppierungen glauben, hat sich in der Gegenwart eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Ausdrucksräumen geschaffen. Religion lebt nicht nur in der Kirche, sondern ganz individuell und doch in gesellschaftlich bedeutsamen Größenordnungen in literarischen Stoffen, in populärer Musik oder in Sportinszenierungen.[6]

Vielleicht kommt den Kirchenräumen als religiösen Räumen heute die Aufgabe zu, die notwendigen Gespräche zwischen den individualisierten Menschen über die jeweils eigene Auffassung der christlichen Religion zu ermöglichen. Notwendig sind "Besinnungs-, Meditations- und Feierstätten" über die Grenzen des Gruppendenkens hinaus, um, wie es Henning Luther formuliert hat, "zu verhindern, dass zwischen den vielfältigen subjektiven Zugängen zur Religion keine Verständigung mehr möglich ist".[7] Wenn es keinen Sinn mehr macht, von 'dem' Gläubigen auszugehen, wenn im Gottesdienst so viele religiöse Einstellungen wie Menschen zusammenkommen, dann gehört es vielleicht zu den kommenden Aufgaben der Kirche, religiöse Räume bereitzustellen, in denen die Menschen ihre je eigene Auffassung des christlichen Glaubens, ihre besondere Prägung von Frömmigkeit und Religiosität artikulieren, inszenieren, ausdrücken, tanzen, wiederfinden, re-inszenieren, meditieren, praktisch leben und vergegenwärtigen können. Aufgabe des Raumes wäre es dann auch, dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Gruppierungen miteinander ins Gespräch kommen können. Zu diesen Gruppierungen zählen etwa junge Menschen mit dem Interesse an körperlich-sinnlichem Ausdruck, Menschen mit hohem ethischem Anspruch auf soziale Veränderung, die große Gruppe der von der Kirche kaum angesprochenen 25-50jährigen mit hohem kulturellem Anspruchsniveau und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung, Menschen mit dem Interesse an Sinnvergewisserung, Kranke mit dem Wunsch nach Zuspruch und Tröstung. Gegenstand des Gespräches muß dabei auch sein, ob es Überzeugungen gibt, die die Differenzen zwischen den einzelnen religiösen Einstellungen zu überbrücken vermögen. Gegenüber anderen öffentlichen Gebäuden, die alle Nutzer gleich machen, und solchen, die Menschen in Klassen aufteilen, müsste der religiöse Raum die Individualität des einzelnen achten und ihn zugleich in die Lage versetzen, sich mit Menschen zu versammeln, die eine andere religiöse Prägung haben. Auf den Kirchenraum als religiösem Raum käme die Aufgabe zu, den unterschiedlichen Gruppierungen ein Zuhause, eine Artikulationsmöglichkeit oder einen Anknüpfungspunkt zu bieten.

Der Kirchenraum könnte so verstanden werden als nicht mehr heiliger, sondern dezidiert religiöser Raum. Dieser Raum dient dem Gottesdienst, dem Gebet, dem Anhören der heiligen Schriften und der Feier, aber eben auch der Kommunikation und dem Diskurs bis hin zum Beratschlagen der sich daraus für die Gemeinschaft ergebenden gesellschaftlichen Konsequenzen. Im Blick auf das Asyl könnten religiöse Räume genutzt werden als Zeichen dafür, dass Religion nicht folgenlos bleibt, im Blick auf die Jugendkulturen wären sie ein Freiraum für die Begegnung sonst sprachlos einander gegenüberstehender Kulturen, im Blick auf Film, Kunst, Literatur und Alltagskultur ein Raum-Angebot, säkulare, profane Erfahrungen im religiösen Kontext neu durchzubuchstabieren. Vor allem die Stadtkultur (nicht im Sinne der Hochkultur, sondern im Sinne der städtischen Alltagskultur) muss konsequent ins Blickfeld der Gemeinden und ihrer Raumkonzeptionen geraten. Kirchen als religiöse Räume sind Angebote, Religion zu leben, über Religion und Religiosität zu sprechen und neue Ausdrucksformen auszuprobieren. Das ist schwieriger, als viele denken. Die inszenatorische Glätte - man könnte auch sagen: Kälte - mancher aktueller Kirchenumbauten (Neubauten sind ja selten geworden), lässt einen doch manchmal erschrecken. Viele architektonischen Entwürfe zielen auf ein spontanes Heimischwerden und übernehmen die inszenatorische Annäherungsarbeit, die doch eigentlich eine Frage der subjektiven Annäherung über Jahre wäre.

Wie sollte der Kirchenbau der Zukunft sein? Biblisch-theologische Vorgaben im engeren Sinne sehe ich keine. Die liturgischen Erfordernisse müssen sich meines Erachtens in die allgemeineren gemeindlichen Raumfindungsprozesse einordnen. Wenn die Kirchen aus Gründen der gesellschaftlichen Entwicklung langfristig 30% ihres Baubestandes aufgeben müssen, dann bedeutet das, dass zunehmend ein neuer Bautyp entsteht, der sowohl Gemeindehausgemeinde wie Gottesdienstgemeinde als auch die Bürgergemeinde ansprechen muss.

Versucht man die vorstehenden Überlegungen zu konkretisieren, dann wird schnell deutlich, dass die einzelne Gemeinde mit den Herausforderungen, die hier auf die Kirche als Ganzes zukommen, de facto überfordert ist. Angesagt ist eine gemeindeübergreifende Form der Kooperation und Abstimmung - auch des Raumangebots und der Raumgestaltung. Auf der Ebene der einzelnen Gemeinde wird man einsehen müssen, dass nicht jede Gemeinde ein umfassendes Angebot kirchlicher und kultureller Aktivitäten unterbreiten kann und dass die Wahl des je spezifischen Angebots nicht im Belieben der einzelnen Gemeinde steht. Nicht jede Kirchengemeinde muss ein kirchenmusikalisch ausgezeichnetes Engagement haben, nicht jede muss mit spezifisch sozialpolitischen Möglichkeiten ausgestattet sein. Der Inselcharakter der Kirchengemeinden, der sich über viele Jahrzehnte entwickelt hat, ist historisch überholt. Er führt im Rahmen einer immer professioneller organisierten Erlebnis-Gesellschaft zu einem Attraktivitätsverlust nicht nur bei den jüngeren Gemeindegliedern. Abgesehen vom "Basisauftrag" der Verkündigung muss jede weitere Schwerpunktbildung im Rahmen größerer Zusammenhänge abgesprochen werden und sie muss (religions-) soziologisch aufgeklärt sein, d.h. sie muss den Beobachtungen der religiösen Struktur der gesamten Gemeinde folgen.

Wenn Kirchenräume keine heiligen Orte sind und keine profanen Veranstaltungsräume, wenn sich aus der biblisch-theologischen Tradition nur wenige Argumente für eine bestimmte Raumgestalt finden, dann ist die anstehende Diskussion um die kirchlichen Gebäude eine historische Chance, in der bewussten Wahl und Gestaltung religiöser Räume Zeichen zu setzen. Nicht jede Gemeinde kann und muss mit ihren Räumen allen Szenegruppen Heimat bieten, aber ein Kirchenkreis sollte es. Im Rahmen einer weitgehend metropolitanen Kultur muss die Kirche ebenso Vergegenwärtigungsstätte wie Zukunftswerkstatt sein, aber sie muss es nicht am selben Ort sein. Meditationsorte erfordern ein anderes Setting als Stadtforen, kirchenmusikalische Veranstaltungen ein anderes als Kunstausstellungen, karitative Vor-Ort-Arbeit ein anderes als ökologisches Engagement. Ein deutlicher Akzent ist und bleibt dabei, die Kirche als einen Ort aufzufassen, in der der Alltag transzendiert wird. Da es hier kein "richtig" oder "falsch" gibt, müssen die Gemeinden in der Raumfrage Experimente wagen.

Anmerkungen
  1. Die folgenden Ausführungen ergänzen meine bisherigen Überlegungen zum Kirchenbau. Vgl. Freiräume(n)! Zur Diskussion um den religiösen Raum, www.theomag.de/16/am46.htm (Magazin für Theologie und Ästhetik, Heft 16); ... und räumlich glaubet der Mensch". Der Glaube und seine Räume; in: Th. Klie (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, Münster 1998, S. 51-76. Die Kirche als Jurassic Park? Lässt sich religiöses Raumgefühl klonen? In: Glockzin-Bever/Schwebel, Kirchen Raum Pädagogik, Münster 2002, S. 115-145.
  2. Vgl. Michel Foucault: "Andere Räume." In: K. Bark u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 2/1991. S. 34-46. Foucault schreibt dort, nachdem er sich mit den Utopien als Nicht-Orten auseinandergesetzt hat: "Es gibt gleichfalls - und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation - wirkliche Orte, wirksame One, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien."
  3. Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt 1984.
  4. Hans-Georg Soeffner, Kirchliche Gebäude, - Orte der christlichen Religion in der pluralistischen Kultur; in: Schwebel/Ludwig (Hg.), Kirchen in der Stadt, Marburg 1993, S. 51-55, hier S. 52.
  5. Henning Luther, Einleitung: Praktische Theologie des Subjekts; in: ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, S. 13.
  6. Vgl. dazu auch Wilhelm Gräb: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft. Gütersloh 2002
  7. Henning Luther, Einleitung, a.a.O., S. 13.

© Andreas Mertin 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 28/2004
https://www.theomag.de/28/am111.htm