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Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Schuld frisst dich auf!

Zum Kinofilm 21 Gramm

Hans J. Wulff

21 Gramm (21 Grams). - USA 2003. Regie: Alejandro González Iñárritu. Drehbuch: Guillermo Arriaga. Darsteller: Sean Penn (Paul Rivers), Naomi Watts (Cristina Peck), Benicio Del Toro (Jack Jordan), Charlotte Gainsbourg (Mary Rivers), Melissa Leo (Marianne Jordan), Clea DuVall (Claudia), Danny Huston (Michael). Musik: Gustavo Santaolalla. Kamera: Rodrigo Prieto, Fortunato Procopio. Schnitt: Stephen Mirrione. Produktion: This Is That; Y Productions. Verleih: Constantin. Länge: 125 Minuten. Start: 26. Februar 2004.

"Man sagt, dass wir 21 Gramm verlieren, wenn wir sterben.
Das Gewicht von fünf Groschen, von einem Kolibri, von einem Schokoladenriegel
- und vielleicht auch das Gewicht der menschlichen Seele"


(Voice-Over des sterbenden Paul Rivers am Ende des Films).

Das Motiv übergreift das vergangene Jahrhundert: Da bekommt ein Pianist die Hände eines Mörders angenäht, als er in einem Eisenbahnunglück schwer verletzt wird, die Hände sind zerquetscht - und kann sich gegen die Energie der Hände nicht wehren, die morden wollen und nicht Musik machen (in Orlacs Hände, 1924). Da kann Dr. Frankenstein verzweifeln, weil die Wesen, die er aus dem Fleisch von Hingerichteten und Ermordeten zusammensetzt, nach dem streben, was seine ursprünglichen Körper tun wollten (in Frankenstein, 1931, und seinen zahllosen Nachfolgern). Das Fleisch ist stärker als der Geist, lässt sich nicht unterwerfen. Es ist, als ob der Leib selbst sich gegen die Kontrolle und Herrschaft der Person zur Wehr setzte. Bis in die Parodie ist das Thema im Film bearbeitet worden - in Kubricks Dr. Seltsam oder Wie ich lernte die Bombe zu lieben (1963) ist es die Armprothese Dr. Seltsams, die sich gegen ihre Schöpfer in der Nazi-Zeit nicht zu wehren vermag und immer wieder in Krisenzeiten sich zum Hitlergruß verselbständigt.

21 Gramm knüpft an diese Motivgeschichte an und ist doch aus anderem Holz gearbeitet. Der Film breitet ein Puzzle von Einzelteilen aus, die sich zu einem Kaleidoskop zusammenfügen. Drei Schicksale werden miteinander verbunden, die nichts miteinander zu tun hatten - Zufall, Verzweiflung, Vorherbestimmung, Fluch führen sie zusammen, vertiefen das Unglück. Das erste Bild des Films zeigt eine friedlich schlafende Frau (Naomi Watts) in einem schmutzigen Bett; ein nackter Mann sitzt auf der Kante, müde und übernächtigt, erschöpft und resigniert (Sean Penn). Das Bild steht am Ende der Geschichte und leitet sie zugleich ein, als gebe es einen geheimen Plan, der von vorn nach hinten führte. Sean Penn spielt einen schwer herzkranken Mathematikprofessor, der sterben wird, wenn ihm nicht ein Spenderherz zufällt. Der Mann der Frau aus dem Bild am Ende wird überfahren, stirbt den Hirntod, die Frau gibt das Herz zur Transplantation frei. Noch kennen sie sich nicht. Und auch der Dritte - der Unfallfahrer, der den Mann der Frau und die beiden Töchter umbrachte (von Benicio de Toro ebenso intensiv und explosiv gespielt wie die anderen Akteure des Films) - hat mit ihnen nichts zu tun. Das gespendete Herz bildet das Zentrum dieses Dreiecks.

Die Geschichte ist auf den ersten Blick einfach: Ein Todkranker bekommt das Herz eines Verunglückten implantiert. Der Gerettete will wissen, von wem das Herz stammt. Ein undurchsichtiger Detektiv verschafft ihm die Unterlagen, er nimmt die Spur der Frau des Spenders auf. Als wollte er das Unglück ausgleichen, durch das ihm das neue Herz beschert werden konnte, sucht er, in die Nähe der Frau zu kommen. Sie wirkt wie eingefroren, überkontrolliert, kalt und souverän. Wie tief der Schmerz, wie rasend die Verzweiflung ist, die sie unter dem äußeren Panzer verbirgt, zeigt sich erst später, als sie in den Armen des Mannes, dem das Herz ihres Toten zukam, den Tod des Täters verlangt. Der Mann mit dem neuen Herzen nimmt es auf sich, die Rache zu vollziehen - doch er kann den Unglücksfahrer nicht töten, erleidet eine neue Herzattacke, steht erneut auf der Schwelle des Todes. Das erste Bild des Films zeigt den Moment vor der Katastrophe - der mißlingenden Rache, dem Rückfall in die Ausgangssituation der ganzen Geschichte.

Ein archaisches Moment des Auge-um-Auge taucht hier am Ende auf, dem Szenen eines überzogenen Christlichseins scharf entgegengestellt sind. Ausgerechnet der Täter ist ein Reuiger, der Kriminalität und Suff entkommen ist, eine gute Ehe führt und als Aktiver in einer bekennenden kleinen Chicago-Gemeinde mitarbeitet, die Jugendlichen vor einer Kriminellen-Karriere zu schützen sucht. "Wenn du erst gemordet hast, ob du es willst oder nicht, frisst dich die Schuld auf", prophezeit er zu Beginn des Films einem Jugendlichen - und nimmt vorweg, was ihm selbst zustoßen wird. Er bezichtigt sich selbst des Unfalls, bereit, Buße zu tun, versucht vergeblich, Selbstmord zu verüben, verlässt seine Familie. Am Ende weigert sich der Transplantierte, ihn umzubringen, erleidet statt dessen einen schweren Herzanfall, wird versehentlich angeschossen. Der Unfallfahrer bezichtigt sich der Tat, wird abgewiesen.

Zweimal ist Schwangerschaft dem düsteren Geflecht von Tod und Schuld entgegengesetzt. Die Witwe ist schwanger, von dem Mathematiker, ironischerweise. Und dessen Freundin Mary (Charlotte Gainsbourg) betrieb schon vorher den grotesken Plan, eine künstliche Schwangerschaft erzeugen zu lassen, auch wenn der Vater des Kindes dann schon tot sein würde. Eine Öffnung zur Zukunft bedeutet die Aussicht auf Kinder nicht.

Was treibt den Mann mit dem geschenkten Herzen, die Frau des Spenders zu suchen und zu umwerben? Ist es wirklich eine Affinität des Organischen, die stärker als alles Geistige ist, wie das ältere Motiv behauptet? Nein, so flach wie die frühen Horrorvisionen der Organtransplantation ist 21 Gramm nicht. Hier ist es vielmehr eine komplexe Mischung von Dankbarkeit, einem Unwohlsein gegenüber der Tatsache, dass Leben geschenkt wurde und die Beziehung zwischen Schenker und Beschenktem trotzdem ganz und gar anonym ist, und einer diffus empfundenen Verpflichtung, Dankbarkeit auszudrücken, die es nötig macht, dass der Beschenkte die Schenkerin kennenlernt. Gerade die Unklarheit der Motive des Empfängers weist auf einen moralisch blinden Fleck im Organspendewesen hin, der die tiefe Umdeutung der Spende in ein Geschenk nicht reflektiert. Einige der intensivsten Momente des Films machen spürbar, wie unvermittelt, existentiell und uneigennützig die Zuwendung des Beschenkten zur Schenkerin ist.

Das gespendete Herz wird vom Körper des Mathematikers nicht angenommen, er wird sterben - und er wird nicht noch einmal auf ein Spenderherz warten. Nicht nur, dass seine Rettung durch das Unglück eines anderen verursacht wurde. Viel schlimmer noch: sein Versuch, Trost zu bringen, verursachte noch tieferes Unglück. Die Frau des Opfers, die einst die Genehmigung zur Organspende gab, ist am Ende die tragische Figur des Stücks. Sie hat ihren Mann und ihre Kinder nicht mehr. Sie wird auch den Mann verlieren, der sich an sie heranwagte und den sie in ihre Nähe ließ, selbst ein Verzweifelter, der zwischen Dank und Schuld kaum zu vermitteln weiß. Sie ist traumatisiert und im Innersten erstarrt, vermag dem nur in Momenten des Kontrollverlustes Gesicht zu geben. Und: sie ist ironischerweise schwanger von einem, der in diesem Karussell des Unglücks umkam. Der Film handelt auch von Verantwortung, die man trägt und oft gar nicht tragen mag oder kann.

Iñárritu erählt all dieses nicht linear, von vorne nach hinten, "first things first". Sondern springt zwischen den Zeitstufen der Erzählung hin und her. Zertrümmert manchmal längere Szenen, zeigt uns nur blitzlichtartige Einblicke in die Alltagswelt der Akteure. Als wollte er unter Beweis stellen, dass es eine fatale Logik in all dem gäbe, die keinen entkommen lässt, dem es vorbestimmt ist, in den Zirkel von Schuld, Wut und Verzweiflung einzutreten. Es beginnt am Ende und endet am Beginn - der Herzkranke wartet erneut auf den Tod, die Frau des Mannes, dessen Herz sie damals freigab, begleitet den Mann, der das Herz erwarb, in den nahen Tod, der Ex-Sträfling, der Läuterung in der Religion suchte, steht nach einer Episode der Verzweiflung wieder am Anfang. Vielleicht hätte alles anders kommen können - der Professor wäre gestorben, die Witwe hätte getrauert und irgendwann in den Alltag zurückgefunden, der Reuige wäre nach seiner Strafe in den Schoß der Gemeinde zurückgekehrt. Doch die Energie des Organs, das wir aus der Motivgeschichte kennen und das den Empfänger einer Organspende dahin zurücktreibt, von wo das Organ entnommen wurde, setzt den Mechanismus dieser Geschichte in Gang, an deren Ende sich das Unglück vermehrt hat.


© Hans J. Wulff 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 28/2004
https://www.theomag.de/28/hjw1.htm