Einsichten und taube OhrenHören und Sehen in Philosophie und ReligionPeter Kunzmann |
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Eine philosophische Dramatik des Hörens: Odysseus muss an den Sirenen vorbeifahren, ohne sich von ihrem verführerischen Gesang in den Abgrund locken zu lassen. Dies gelingt ihm dadurch, dass er sich hörend an den Mast binden lässt und seine rudernde Mannschaft sich mit Wachs die Ohren verschließt. In der "Dialektik der Aufklärung" von M. Horkheimer und Th. W. Adorno wird er damit zum Sinnbild der Trennung von Kunst und Lebenswirklichkeit. Odysseus steht für den Kunstsinnigen, der zwar noch zu hören, zu erleben vermag, aber politisch und sozial wirkungslos neben der arbeitenden Bevölkerung steht: "Das Gehörte bleibt für ihn folgenlos."[1] Letztere hört nichts mehr von der Verheißung, denn: "Wer bestehen will, darf nicht auf die Lockung des Unwiederbringlichen hören, und er vermag es nur, indem er sie nicht zu hören vermag."[2] Und: "die selbst nicht hören, wissen nur von der Gefahr des Lieds, nicht von seiner Schönheit."[3] Die Verheißung, die Befreiung kündet und nach Handlung drängt, sie kommt durch das Ohr, nicht durch das Auge. Wer reibungsfrei funktionieren will, muss sich zuerst dessen Lockung versagen. Natürlich ist es kein Zufall, dass Adorno die Parabel so deutet, der große Musikästhet. Aber Adorno ist einer der Wenigen, die das Hören in der Philosophie zum Thema machen. Summarisch betrachtet, blieb die Philosophische Ästhetik nach jeder Hinsicht vorzugsweise Lehre vom Visuellen: Ästhetik als philosophische Kunsttheorie beschäftigt sich lieber mit bildender Kunst, Ästhetik als philosophische Wahrnehmungslehre bevorzugt den Gesichtssinn und sagt wenig zum Gehör: Bei Kant steht dem Begriff des Verstandes als sinnliches Pendant die "Anschauung" gegenüber. Und als Ende des 19. Jahrhunderts sich Carl Stumpf phänomenologisch ums Gehör kümmerte, war das Unterfangen so singulär, dass seine Studenten diesen Sinn zum "Stumpf-Sinn" erklärten. Und selbst wenn ich jetzt Heideggers Beitrag zum Thema unterbelichte und es manches geben mag, was ich unterschlage, weil ich es nicht kenne: Aufs Ganze lässt sich sagen, dass das Ohr in der Philosophie gegen das Auge fast verschwindet. Dies hat einen Grund in der "Okularität der griechischen Philosophie", wie es Gadamer[4] ausdrückte, der von einem "weltgeschichtlichen Primat des Sehens" spricht, "der im Bereich der Philosophie und ihrer Begriffsbildung die führende Rolle spielt. Wir erinnern uns auch sofort an die ersten Sätze der aristotelischen Metaphysik, die den Vorzug des Sehens vor allen anderen Sinnen hervorhebt. Das ist die berühmte Okularität der Griechen, die in gewisser Weise für unsere ganze humanistische Kultur ein Vermächtnis darstellt, das ihre Begrifflichkeit trägt. Von den Griechen an bis in die Neuzeit und in die Nationalsprachen hinein." Die griechische Antike hat den Vorrang des Sehens so tief in das abendländische Denken gesenkt, dass auch die Metaphern des Sehens fest in die Sprache der Philosophie eingeschmolzen wurden. Sie sind beinahe nicht mehr als solche erkennbar, bei der Vision z.B. oder beim "Um-sich-Blicken", das als "Skepsis" Eingang gefunden hat. Wenn Philosophen "spekulieren", hantieren sie wörtlich mit dem Spiegel; wenn sie Theorien entwerfen, dann schauen sie an oder zu: 'Theorein' ist des Grundwort auch für das Theater; und die reine Theorie steht in antiker Tradition hoch im Kurs, von Aristoteles bis Boethius. Wenn den Philosophen etwas einleuchtet, nennen sie es evident, wörtlich: aus-sichtig, was bei Descartes und Nachfolgern gemäß der Formel "certe et evidenter" zum Garanten der Gewissheit wird. Unter die Schlüssel- und Zauberworte ist schließlich die Idee zu zählen, die derselben indogermanischen Wurzel *uid entspringt, die das deutsche "wissen" und das lateinische "videre" hervorbrachte. Wissen heißt sehen - in manchen indoeuropäischen Sprachen ist die Nähe noch gut hörbar - im Polnischen trennt nicht viel zwischen wiedziec für wissen und widziec für sehen. Wissen ist Sehen; für die Philosophie wird dies in einigen Aspekten besonders wirkmächtig:
Anders das Ohr: Wer nicht richtig hinhört, ist taub für die personalen Zutaten zur reinen Information. Die gesprochene Sprache ist immer verknüpft mit allerlei menschlichen Appellen, in all den feinen Zwischen- und Untertönen. "Da mußt Du eben genauer hinhören!" Das sagen wir, wenn jemand Signale verkennt, die aus sich heraus Wirkung erheischen. Wir haben ihm etwas befohlen und er tut's nicht oder nicht in unserem Sinne. "Er hört einfach nicht." Er ist ungehorsam, ungehörsam. Er weiß eigentlich genau, was zu tun ist und entzieht sich dem durch ein taubes Ohr. Er ist eher schlechten Willens im Unterschied zum geistig Limitierten, der nicht sieht oder einsieht, "den Unterschied nicht sieht" oder "das Problem nicht sieht". Dieser Unterschied fundiert die höchst unterschiedliche Einschätzung von Hören und Sehen in Philosophie und Religion. Ist die Philosophie weitgehend eine optische Veranstaltung, kommt in der Religion, der Offenbarungsreligion zumal, dem Ohr die Schlüsselrolle zu. Im Hören liegt der Schlüssel, mit dem Gottes Stimme zu den Menschen spricht. Bilder sind zweideutig und verglichen mit dem unmittelbaren Anspruch sekundär. Gott, der als Person gedachte Gott der Religionen Abrahams, spricht zu den Menschen, redet sie an, mehr oder weniger direkt. Im Alten Testament lautet die gängige Formel: "Das Wort des Herren erging an...", ein Formular, in das nur der Name des entsprechenden Propheten einzusetzen ist. "Das Wort des Herren erging an..."- so wendet sich der Herr an seine Knechte, die sich diesem An-spruch unterstellen oder auch durch Flucht und Ausrede entziehen wollen. Vor dieser Anrede gibt es keinen Schild, nicht einmal den Schlaf wie bei der Berufung des Samuel (1 Sam 3,2-10), bei der dieser drei Mal aus dem Schlaf gerissen wird. Sie endet mit der Offenheit seiner Ohren: "Rede, denn dein Knecht hört!" (1 Sam 3,10). Die schönste Episode und eines der bekanntesten Beispiele ist die Berufung des Elija, und auch hier steckt Gottes Appell in einem hörbaren Phänomen. Nicht in Sturm, Feuer, Beben lässt Gott sich vernehmen, "Elija hört Gott und zwar als eine ruhige, dünne, schwache Stimme, als 'das Flüstern eines leisen Wehens' oder wie Martin Luther verdeutscht hat, 'als still sanftes Sausen'. Und als Elija diese Stimme hört, verhüllt er sein Antlitz mit seinem Mantel, um ganz Ohr für diese Stimme zu werden. Diese sanfte, zerbrechliche Stimme ist, so wird ihm horchend-hörend zuteil, die Art und Weise, wie der biblische Gott in dieser Welt gegenwärtig ist." So interpretiert Erich Zenger[6] die Stelle. Eine sanfte Stimme als eine Form höherer, göttlicher Mitteilung - ab Sokrates deutet eine lange Tradition das Phänomen des Gewissens als eine solche sanfte Stimme. Ob die Metapher die Äußerung des Gewissens als einen "Anruf", ein "Urteil" oder als einen Spruch[7] auslegt: Was religiös als eine mahnende, anklagende oder richtende Stimme Gottes gedeutet wird, wird stets gehört und dazu gibt es kein optisches Pendant. Auch im Gewissen wird etwas vernehmbar, ähnlich der Berufung, gegen das es kein Entrinnen gibt. Zumindest gilt sein Spruch als deutlich und eindeutig, als eben keiner Deutung oder Umdeutung zugänglich. Wie bei des Odysseus' Gefährten bleibt als Alternative nur die komplette Stumpfheit oder Taubheit. Der Spruch des Gewissens kann wohl überhört werden; also eigentlich übertönt werden, aber er duldet in sich keine weitere Interpretation, die die Botschaft abschwächen könnte. Eine säkulare Umdeutung des Gewissens stammt von Heidegger: "Dem Gewissensruf entspricht ein mögliches Hören: das Anrufverstehen", heißt es in "Sein und Zeit" (§ 54): "Das Rufen ist ein Modus der Rede. Es enthält ein Moment des Stoßes (es ist aufrüttelnd). Das Wort Rufen deutet ferner darauf hin, dass jemand zurückgeholt werden muss." In unserem Kontext ist entscheidend: Eigentlich ist alles Gehörte ein Anruf, der verstanden werden muss. Das gilt nicht nur für den innerlich hörbaren Spruch des Gewissens; es gilt für jede Anrede: sie enthält ein "Moment das Stoßes"- je elementarer, desto kräftiger. Hören erfordert Handlung; Sehen erheischt Interpretation: Eine Mutter hört das Schreien ihres Kindes, auch in ihren Schlaf hinein. Walter Simonis hat daraus einen mächtigen Vorwurf gegen das abendländische Denken zugespitzt. Dieses Denken begriff das eigentlich Böse nicht, "Und zwar deshalb nicht, weil sein geistiges Organ allein das Auge, das Sehen, nicht das Ohr, das Hören war. Das in sich Böse, das Schmerzen und Wehtun als solches, ist auch kein sichtbares Etwas. Als wirklich bezeugt es sich dennoch, nämlich durch Sprache, Stöhnen und Schreien. Dafür war die abendländische Philosophie - nicht minder die christliche Theologie - blind. Oder richtiger: taub. ... Um des ungestörten Zusehens willen hielt das Denken sich geradezu die Ohren zu, so daß ihm das wirkliche Wesen des Bösen fremd bleiben mußte."[8] Der Gedankengang beruht darauf, das eigentlich Böse in der Wirklichkeit sei der Schmerz. Dieser aber zeigt sich nicht durch visuelle Zeichen, jedenfalls nicht primär und eher sporadisch; das elementare Medium von Schmerz und Leid ist der Schrei und der Ruf, mit Röm. 8,22f. sogar das Seufzen. Die Geste, das schmerzverzerrte Gesicht, die leidende Mine sieht nur der, der sowieso hinschaut. Und er muss sie erst richtig deuten. Dagegen fordert der Schrei Bestand auch von demjenigen, der seine Augen gerade woanders hat: ein Säugling winkt nicht nach seiner Mutter und visuelle Botschaften könnten sie nicht aus dem Schlaf reißen. Eine eindringliche Illustration bietet die folgende Erzählung aus einem gnostischen Evangelium: "Und es begab sich, daß der Herr auszog aus der Stadt und ging über das Gebirge mit seinen Jüngern. Und sie kamen an einen Berg, dessen Straße war steil. Allda fanden sie einen Mann mit einem Esel. Das Tier aber war niedergestürzt, denn er hatte es überladen, und er schlug es, daß es blutete. - Und Jesus trat zu ihm und sprach: Mensch! Was schlägst du dein Tier? Siehst du nicht, daß es Schmerzen leidet - Sehet denn nicht auch ihr; wie es blutet, und höret denn nicht auch ihr; wie es jammert und schreit? - Sie aber antworteten und sprachen: Nein, Herr; daß es jammert und schreit, hören wir nicht. Wehe euch, daß ihr nicht hört, wie es schreit und klagt zum himmlischen Schöpfer um Erbarmen, dreimal wehe aber dem über welchen es jammert und schreit!"[9] Die hier gekürzte Geschichte[10] illustriert das Versagen des Denkens und sie spitzt sie signifikant auf die Taubheit der Jünger zu, nicht auf ihre Dummheit. Der Schrei des Esels ist nicht zu überhören. Hören gibt unmittelbaren Aufschluss über den Anderen und erheischt unmittelbare Handlung. Diese Taubheit, wie sie Simonis dem Abendland vorhält, ist erkauft mit der erhöhten Sehkraft, etwa in der Philosophie. Der Gipfelpunkt, aus dieser Perspektive, ist der freie Forscher, der sich seine Gegenstände selber wählt. Am schönsten ist die reine Theorie, die Schau, die von den Äußerungen der Opfer nicht gestört wird. Diese Opposition lässt sich noch vertiefen. In einer noch fundamentaleren Hinsicht stehen die beiden Sinne quasi über Kreuz, und allein ihre Phänomenologie erklärt, warum ihre Bedeutung so ungleich verteilt ist zwischen Philosophie und Religion. Wir haben auf der einen Seite das Hören, das für den Hörenden unwillkürlich, ja aufdringlich ist. Wir haben keine natürlichen "Ohrenlider", die uns erlaubten, nur zu hören, was wir wirklich hören wollen. Im anderen Falle, beim Sehen, sind wir es, die die Blickrichtung frei bestimmen - und sowohl hinschauen als auch wegschauen können. Dies gilt für uns als sehende und hörende Erkenntnis-Subjekte. Der entscheidende Zug besteht darin, dass sich die beiden auch ganz unterschiedlich verhalten mit Rücksicht auf die Erkenntnis-Objekte. Und hier vertauschen sich die Rollen. Ich kann zwar viel besser bestimmen, was ich sehe, als was ich höre. Andererseits kann ich nur bestimmen, was ich sehe, aber nicht, wie ich selbst aus-sehe. Mit anderen Worten: In der Optik kann ich nicht bestimmen, in welchem Maße und in welcher Form ich Teil einer fremden Wirklichkeit werde. Den Extremfall hat Sartre geschildert, der sich unter den Augen Gottes als eine lebende Zielscheibe vorkam. Wir können uns dem "Blick" nicht entziehen. Aber wir können uns dem Hören entziehen: Unsere Akustik steht fast ganz in unserer Macht. Und was wir auf hörbarem Wege in die Wirklichkeit eines anderen entlassen, entspringt unserer freien Setzung; dies gilt ohne Zynismus streng genommen sogar noch unter der Folter. In ihr liegt der Versuch, die Unverfügbarkeit der Selbstäußerung zu überwinden; ansonsten bleibt sie unverfügbar, denn die Stimme des anderen ragt in meine eigene Lebenswelt wie eine Stimme aus dem Off, deren Urheber mir verborgen bleibt. Er äußert sich frei und bestimmt Maß und Modus, wie er in meine Welt eingeht. Uns in den Raum des Hörens zu ergießen, entspricht unserer Freiheit. Was ich höre, bleibt somit immer Teil der fremden Welt. Was ich sehe, ist dagegen immer Teil meiner Welt; es ist auf meiner Leinwand, in meiner Linse. Daraus erhellt die radikale Verschiedenheit der beiden in den Deutungen durch die Religion und die Philosophie: In letzterer und den Wissenschaften im allgemeinen geht es um Erkenntnis und damit um die Einordnung des Fremden in mein Weltbild, in meine Kategorien; es geht um Aneignung. Der "Gegenstand" soll "erfasst" werden, eingebunden in die Perspektive des Forschers. Das erkennende Subjekt soll und kann dabei Regie führen. Genau dem entzieht sich der Gott der Offenbarungsreligionen: Er bleibt Souverän über das, was er mitteilt und das, was er nicht offenbart; ganz wie jeder von uns, der auch für seinen Zuhörer verschweigen kann, aber vor einem Zuschauer nichts verheimlichen. Dieser Gott wird nicht Teil der Welt menschlicher Subjekte und das Bilderverbot mag eine Begründung hierin haben. Gleichzeitig aber kann sich keiner seinem Anruf und seinem Anspruch entziehen oder entgegenstellen - ganz anders als beim Bild, das immer der Deutung des anderen anheim gestellt ist. Diese "bewahrte Fremdheit" kennt nur das Hören und darum ist es zum Signum der Offenbarungsreligionen geworden, sich in der Symbolik von Wort und Hören auszudrücken: die Transzendenz bleibt im Hören bewahrt, während das Sehen auf ihre Aufhebung drängt. Mit einer Ausnahme und auch diese unterstützt letztlich das Gesagte: Dort, wo die Symbolik der Religion anzeigen will, dass die Kluft zwischen Gott und Welt überwunden werden soll, verlässt sie markant die Metaphorik des Hörens und greift auf die des Sehens zurück. Um ein schönes jüdisches Beispiel zu zitieren: "Das heiße Verlangen nach Gott hat in der jüdischen Seele nie nachgelassen. Trotz der Warnung: 'Du kannst mein Antlitz nicht schauen, denn kein Mensch schaut mich und lebt' (Ex 32,20), gab es viele, die in dem Sehnen verharrten, dem Yehuda Halevi unvergeßlichen Ausdruck verlieh: 'Das Antlitz meines Königs zu schauen ist mein einziges Sehnen. ... Könnte ich ihn doch im Traum schauen! Ich würde in alle Ewigkeit weiterschlafe. Möchte es doch geschehen, daß ich sein Angesicht in meinem Herzen sehe! Meine Augen würde nie mehr danach verlangen, irgend etwas anderes zu schauen!'"[11] Die Überwindung der Trennung von Gott und Mensch malt die religiöse Sprache als eine "visio beatfica" aus, eine Schau. "Schauen von Angesicht zu Angesicht" heißt es bei Paulus (1 Kor 13,12) und passend in der Sprache der Liturgie, "am Ende weiß es das Licht" heißt es in der Sprache des Dichters (Felix Philipp Ingold). Anmerkungen
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https://www.theomag.de/29/pk1.htm |