(Anti-) Thesen zu Jazz und TheologieTobias Böcker |
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Über die Tatsache hinaus, dass viele Jazzmusiker gläubige Menschen sind, ihre Arbeit ganz bewusst auch als Ausdruck ihrer Religiosität und Spiritualität ansehen, über die Fülle religiös motivierter Werke des Jazz hinaus, über die Tatsache hinaus, dass sich etliche Werke des Jazz mit religiösen Themen, Fragen, Traditionen beschäftigen, lassen sich etliche Analogien feststellen, die Jazz und Religion, Jazz und Theologie, Jazz und (christlichen) Glauben miteinander verbinden.[1] Freiheit und OrdnungJazz ist in allererster Linie geprägt vom Element der Improvisation. Dennoch spielen auch Komposition und Arrangement eine wesentliche Rolle. Im dynamischen Wechselspiel beider spiegelt sich die grundlegende Auseinandersetzung von Freiheit und Ordnung. Ein zu Viel an Ordnung hemmt und erstickt die Kreativität, lässt den individuellen Ausdruck verkümmern und beschneidet Möglichkeiten, die dem Ganzen zu Gute kommen könnten. Nicht von ungefähr scheiterte ein musikalisches Genie wie Charlie Parker bei seinen wenigen Big-Band-Engagements zu Beginn seiner Karriere. Dass andererseits Freiheit nicht ohne Ordnung existieren kann, die mehr ist als nur ihr gedachtes oder erinnertes antithetischen Gegengewicht (You've got to know the rules in order to break them), hat sich spätestens gezeigt, als die Entwicklung des Free Jazz in eine zunehmende Ratlosigkeit nicht nur des Publikums, sondern auch der Agierenden führte. Freiheit und Ordnung bedürfen des je kritisch-komplementären Prozesses ihrer Vermittlung. Die Auseinandersetzung von Freiheit und Ordnung ist auch eine stetige Auseinandersetzung der Religion. Wo Traditionalismus und Ritualismus Einzug halten, verkrustet die lebendige Spiritualität der Menschen zu einer lebensfernen Befolgung letztlich nicht verstandener und für den Alltag irrelevanter Frömmigkeitsübungen, zu pharisäerhafter Selbstgefälligkeit und moralinsaurer Lebensverneinung, die den je individuellen Antwortcharakter des Glaubens konterkarrieren. Wo hingegen die Orientierung gebende Vorgabe durch Formen, Strukturen, Riten und definierte Glaubensinhalte fehlt, wird die Identität zunehmend den Zufälligkeiten der Alltagserfordernisse anheim gegeben und verzettelt sich in Spiegelfechtereien. Individualität und GemeinsinnIm Jazz kommt es wie in keiner anderen Musikform darauf an, einen individuellen Sound und Stil zu entwickeln, als Musikerpersönlichkeit erkennbar zu sein und nicht als Klon vorgegebener Spielauffassungen zu funktionieren. Dem gegenüber steht die gleichzeitig gegebene Notwendigkeit eines hoch entwickelten Sinns für das aufeinander Hören. Jazz wird in Bands bzw. Combos gespielt, häufig in wechselnden Besetzungen (über Jahre feste Bands sind im Jazz eher selten), die in kreativer Spannung individuelle Energien freisetzen, jedoch nicht im Gegeneinander, sondern im Dienst gemeinsamer kommunikativ-kreativer Vertiefung dem Kern eines Themas im Spirit des Augenblicks näher zu kommen suchen. Die gleichzeitige Ausprägung von Individualität und Gemeinsinn ist notwendige Voraussetzung für menschlich-mitmenschliche Reifung wie für die Erkenntnis religiöser Wahrheit. Dem entspricht nicht nur die grundlegende Erkenntnis der christlichen Gesellschaftslehre, dass der Mensch um der Entfaltung seiner eigenen Persönlichkeit willen (!) existentiell der mitmenschlichen Gemeinschaft zugeordnet ist, sondern auch das Modell einer kommunikativen Wahrheitserkenntnis in der Kirche als pilgerndem Volk Gottes, wie sie durch das II. Vatikanum in Erinnerung gerufen wurde. Christlicher Glaube versteht sich im Sinne einer eigenständig aktiven Antwort. So ist er das Fundament einer die Wirklichkeit kreativ gestaltenden - sakramentalen - Kraft der Nachfolge. Immer wieder waren es herausragende Persönlichkeiten, die dem Glauben Gestalt verliehen. Im Sinne der Communio-Ekklesiologie stehen die Gläubigen gleichzeitig in einem lebendigen - durchaus institutionell vermittelten und normativen Vorgaben gehorchenden - Austausch und Dialog, je aufeinander hörend und dem anderen christliche Erfahrungen vermittelnd in Zeit und Raum. Tradition und InnovationJazz lebt geradezu vom Geist der Neuerung. Jazzmusiker wollen Neues schaffen, wollen selbst da, wo sie sich bewusst einer Tradition verschreiben, Persönlichkeit und Augenblick aufheben im je jetzt sich ereignenden kreativen Prozess des Musizierens, das darum weiß, das die Vergangenheit unwiederholbar ist. Dennoch lebt Jazz zunehmend aus der Tradition und aus (weltmusikalischen) Traditionen, die nicht allein als Steinbruch für Anregungen oder als Ahnengalerie mehr oder weniger vorbildtauglicher Vorfahren gesehen wird, sondern in gewissem Sinne in einem normativen Charakter Anerkennung findet, zumindest insofern, als sie zwar hinterfragt werden kann (und muss), jedoch nicht hintergehbar ist. Jede Tradition bedarf der Auslegung in den je neuen historischen Kontext, in dem sie sich lebendig auswirken soll. Dabei muss sie notwendigerweise neue Wege gehen. Die Tradition spielt in der Religion, zumal der christlichen, eine immense Rolle. Für eine Religion, die sich auf ein als normativ geglaubtes historisches Ereignis - nämlich Botschaft, Person und Schicksal Jesu von Nazaret - zurück bezieht und an dieses rückbindet, ist die Tradition ein unaufgebbar konstitutives Moment ihrer Existenz. Der Prozess der Weitergabe des in der Geschichte ereigneten Heils bedingt dessen Vergegenwärtigung im Heute. Solche Vergegenwärtigung besteht allerdings nicht in der puren Wiederholung des Vergangenen, sondern in dessen schöpferischer Aneignung für das unter je neuen geschichtlichen Bedingungen sich ereignende Heute. Insofern eignet dem Moment der Tradition immer das Moment der Auslegung, der Neufassung, der Interpretation und dem Ringen um Identität und Relevanz, Selbststand und Gültigkeit angesichts wechselnder Zeichen der Zeit. Die Tradition selbst ist letztlich nichts Anderes als die historische Dokumentation von als geglückt anerkannten Aktualisierungen. Ausdruck und AussageJazz legt großen Wert auf den individuellen Ausdruck. Das geht zuweilen so weit, dass die These aufgestellt wird, es komme nicht darauf an, was gespielt werde, sondern allein darauf, wie etwas gespielt wird. Jazzmäßig gespielt (was ist das allerdings?), sei auch "Hänschen klein" ein Stück Jazzmusik. Andererseits gibt es als Grundlage der Improvisation einen umfangreichen Kanon so genannter "Standards" - wobei sich zum Standard übrigens nicht jede x-beliebige Melodie eignet - und die Kenntnis solcher Standards sowie möglichst vieler Themen und Motive ermöglicht überhaupt erst den kreativen Akt der Improvisation, der einen Standard dreht und wendet, z.T. zur Unkenntlichkeit des Uneingeweihten, ihn jedoch als solchen unbedingt respektiert. Darüber hinaus wird im Jazz viel Wert darauf gelegt, dass der Musiker musikalisch etwas zu sagen hat, dass er "eine Geschichte erzählt". Das bezieht sich nicht allein auf die Improvisation, und so genießen auch komponierende Jazzmusiker höchste Anerkennung, wobei wiederum häufig Standards als Ausgangspunkt von Kompositionen dienen. Aussageform und Aussageinhalt bedürfen der aufeinander bezogenen Auslegung. Dass Form und Materie, die Aussageform und das Ausgesagte selbst, nicht identisch sind und dass es unter der Führung des Geistes auf eine diffizil zu ermittelnde Kongruenz beider ankommt im Ringen um Wahrheit, weiß schon die Hl. Schrift in ihrer bewussten Unterscheidung von Geist und Buchstabe (vgl. 2 Kor 3,6), wobei dem Geist stets der Vorzug gebührt. Nicht nur Exegese, Dogmengeschichte und Dogmatik wissen um die Notwendigkeit, Ausdruck und Aussage zu unterscheiden. Das stete Bemühen um eine "Inkulturation" des Evangeliums verweist generell auf die Erfordernis beständiger Neuformulierung. Andererseits bleibt der Glaube verwiesen auf einen Kanon heiliger Schriften sowie auf fest ausformulierte Bekenntnisformen wie Glaubensbekenntnisse oder Dogmen, die die unverzichtbare Substanz des je neu Auszusagenden über die Zeit hinweg bewahren, das ohne solche festen Formen verloren ginge, in ihrer puren Wiederholung jedoch wiederum keine eigene lebendige Kraft entfalten kann, sondern ihre Identität geradezu verlieren. Die Bedeutung der mündlichen ÜberlieferungJazz versteht sich in erster Linie - schon von seinen afrikanischen Ursprüngen her - als oral culture. Obwohl immer wieder Soli bedeutender Musiker transskribiert werden, obwohl auch Kompositionen und Arrangements nicht auf die Fixierung in notierter Form verzichten können, gilt doch: Jazz lernt man in erster Linie durch's Zuhören und durch möglichst kompententes Weitererzählen mit eigener Stimme. Jazzmusiker etablieren sich nicht durch Hochschulabschlüsse (obwohl die auch wichtig sind), sondern dadurch, dass sie zuhören und spielen, oft in generationsübergreifenden Formationen. Unter den Pionieren des Jazz finden sich etliche, die keine Noten lesen konnten und wollten. (Nur) in der mündlichen Weitergabe vermittelt sich die Grundsubstanz des Bezeugten in lebendiger Weise von Mensch zu Mensch. Der Glaube kommt vom Hören. Von Beginn an spielt die mündliche Überlieferung die wesentliche Rolle in der Verkündigung der Offenbarung bzw. in der Vermittlung des christlichen Glaubens. Bei aller berechtigten und unabdingbaren höchsten Wertschätzung der Hl. Schrift als norma normans non normata liegt dieser doch die mündliche Überlieferung zu Grunde, was nicht nur eine historische Tatsache, sondern auch theologisch höchst bedeutsam ist: Offenbarung vermittelt sich in der unmittelbar lebendigen Begegnung von Menschen mit dem Wort Gottes und dessen machtvollen Taten. So erschließt sich Jesu Botschaft von der Herrschaft Gottes nicht in theoretisch-theologischen Traktaten, sondern in lebensnahen Gleichnissen und lebendiger Begegnung. Das gilt über die Historie hinaus: Die Botschaft Jesu erschließt sich nicht in erster Linie in den Studierstuben, sondern in der Begegnung mit ihm bzw. mit Menschen, die in seiner Nachfolge seine Botschaft in Wort und Tat zu bezeugen wissen. Nur so kann die Botschaft in ganzheitlicher Weise im Leben der Menschen Wurzeln fassen. Im Übrigen gilt auch biographisch: Vor dem Lesen steht das Hören. Hoffnung und TranszendenzIm Akt der Improvisation vollzieht der Musiker einen Sprung ins Ungewisse, in eine Zukunft, der er sich anvertraut nicht allein im Vertrauen auf das erarbeitete musikalische Rüstzeug, sondern auch in dem grundsätzlichen Optimismus, dass dieser Sprung ins Ungewisse seinen Lohn nach sich zieht, zumindest in der Freude, die jedem kreativen Akt zu eigen ist. In gewisser Weise ist Jazz eine utopische Musik, verlässt er sich doch in unmittelbarer Weise auf das, was jenseits des Horizonts des augenblicklich Erlebten steht. Insofern eignet ihm immer ein Moment der Transzendenz. Diese mag sich im Selbstverständnis des einzelnen Musikers im musikalischen Akt selbst erschöpfen, sie steht jedoch in einem theologischen Kontext, insofern Musik wie jede Form der Kunst die Frage nach dem Ganzen der Wirklichkeit aufwirft und im schöpferischen Prozess zu bewältigen sucht. Insofern kann Jazz auch als aktualisierte Form menschlicher Gottsuche gedeutet werden. Die Spiritualität des Jazz verweist auf wesentliche Momente christlicher Frömmigkeit. Der Ereignischarakter des kreativen Prozesses kann analog der eschatologischen Spannung der Botschaft Jesu gesehen werden. Die Herrschaft Gottes ist nicht, sie ereignet sich in jenem und jedem Kairos der Geschichte, der dem Willen Gottes in der Welt zum Durchbruch verhilft. Nachfolge Jesu heißt, sich darauf einzulassen, dass das "Geschehensereignis" der Herrschaft Gottes in Jesus Christus endgültig Fuß gefasst hat in dieser Welt. Nicht wenige Jazzmusiker verweisen darauf, dass sie ihre Kreativität als Teil eines größeren Ganzen verstehen, von dem sie Inspiration erfahren, als mystisch erfahrenen Anteil an der schöpferischen Kraft Gottes, dem sie danken und den sie um so mehr zu loben sich anschicken. Solche Spiritualität verwirklicht sich nicht immer in der Form eines bewusst christlichen Bekenntnisses - manche schwarze Jazzmusiker zumal in den 60er Jahren identifizierten das Christentum im Gegenteil mit der Macht der Unterdrücker, manche stehen esoterischem Gedankengut nahe -, jedoch nahezu immer in einer tiefen Demut, die um die Unzulänglichkeit der eigenen Schaffenskraft weiß. Anmerkungen
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