Eigentlich bin ich nur per Zufall darüber gestolpert. Ich wollte wissen, welche bibliophilen Schätze es aktuell bei Zweitausendeins gibt, welche Gesamtausgaben und Wälzer kostengünstig zugänglich gemacht wurden. Denn das zeichnet diesen Versand- und Buchhandel ja ohne Frage aus. Und so zieren etwa "Die Fackel" von Karl Kraus, die Haidnischen Altherthümer, die Gesamtausgabe von Edgar Allan Poe, die Akzente und vieles andere mehr aus dem Hause Zweitausendeins meine Bücherborde. Und bei meinem letzten Besuch Anfang August 2004 fand ich nun den digitalen Grimm. Das "Deutsche Wörterbuch" (DWB) der Gebrüder Grimm ist für jeden unverzichtbar, der sich mit der deutschen Sprache und der deutschen Literatur beschäftigt. Das umfassende Werk wurde 1838 begonnen, der erste Band erschien 1854. 1960 wurde es abgeschlossen und 1971 durch einen Quellenband ergänzt. Eine Neubearbeitung erscheint seit 1965. Das DWB ist ein einzigartiges Dokument.
Bei der letzten Documenta11 hatte Ecke Bonk anhand des Grimmschen Wörterbuchs mit einer durchaus poetisch zu nennenden Installation auf die Konstitution von Sprache, ihre Interdependenz mit Kultur und Literatur aufmerksam gemacht. In Zusammenarbeit mit dem "Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier in Verbindung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften" hatte Bonk ein "random reading" des Wörterbuches realisiert.
Für außerordentlich günstige 49,90 Euro vertreibt Zweitausendeins nun das digitale DWB von Jacob und Wilhelm Grimm auf zwei CD-ROM. Und im Vergleich zu manch anderen digitalen Präsentationen, bei denen man zum gleichen Preis eine simple CD-ROM im Jewelcase oder in einer DVD-Hülle bekommt, kann man die Ausgabe des digitalen DWB geradezu bibliophil nennen. In einem Schuber bekommt man ein Leinenbuch, das neben den zwei CD-ROM ein 44-seitiges Benutzerhandbuch und eine 132-seitige Einführung enthält. Letztere enthält neben einführenden Worten, einer Gebrauchsanleitung(!) des DWB und einer Genese seiner Digitalisierung auch einen "Grimm-Bilderbogen" und einen "Bericht über das Deutsche Wörterbuch" von Wilhelm Grimm und einen Text "Über das pedantische in der deutschen Sprache" von Jacob Grimm. All das ist äußerst lesenswert und gerade die Anmerkungen Jacob Grimms seien jedem Stammtischdiskutanten über die Rechtschreibreform dringend empfohlen. Das ganze Begleitheft ist liebevoll gemacht.
Doch nun zur digitalen Ausgabe. Als Systemvoraussetzungen werden ein 1 GHz-Prozessor, 256 MB Hauptspeicher und ein Bildschirm mit mindestens 1024x768 Bildpunkten genannt und selbst in dieser Auflösung ist der Bildschirm ziemlich gefüllt. Ganze 1,3 Gigabyte(!) Daten schaufelt die Installation auf die Festplatte. Zwar gibt es auch eine minimale Installation, aber die umfasst auch annähernd 800 Megabyte, so dass man dann doch lieber gleich alles installieren sollte. Ich empfehle, vor der Installation sowohl das Benutzerhandbuch als auch die Einführung in aller Ruhe durchzulesen, dann fällt der Umgang mit den Daten leichter. Bei der Installation nutzt das Programm drei neue Fonts - beim Rezensenten funktionierten sie nicht sofort, sondern erst nach einem Doppelklick auf die Fonts im Fontverzeichnis. Darauf wird man aber im Handbuch hingewiesen.
Der digitale Grimm
Nach dem Start blickt man zunächst auf ein spartanisches Eröffnungsbild, das auf der linken Seite nur Karteireiter von A bis Z und oben ein spärliches Menu verzeichnet. Am Anfang wird man sicher zunächst auf einen Buchstaben klicken oder einzelne Worte heraussuchen. Was ist ein JAAFFE (den wir heute eher als Ja-Sager kennen), was ist eine REGENGALLE, was die MODEALFANZEREI? Dann kann man aber gezielt nach intereessierenden Begriffen suchen. Nach der Eingabe eines Wortes wie "Mode" erscheint Folgendes:
Dabei sieht man neben dem alphabetischen Karteireiter auf der linken Seite eine Auflistung der mit den eingetippten Buchstaben beginnenden Stichwörter. Im mittleren Fenster die Artikel zum ausgewählten Stichwort und auf der rechten Seite - je nach gewählter Einstellung - die Artikelgliederung, das Quellenverzeichnis oder Such- und Anmerkungsfunktionen. Sinnvoll wäre es, wenn man die jeweiligen Seitenteile temporär ausblenden könnte, um mehr Platz für den lexikalischen Teil zu bekommen. Im mittleren Fenster findet man jedenfalls den - von chinesischen Datentypistinnen eingegebenen - Text des DWB. Zunächst hat man nur gekürzte Textelemente vor sich, die sich per Mausklick erweitern lassen. Der Reiz des Textes besteht neben der Erläuterung des Stichwortes vor allem im umfangreichen Belegteil für den Gebrauch des gesuchten Wortes. Dieser führt aus der deutschen Literatur unterschiedliche Verwendungen in Textzusammenhängen ganz unterschiedlicher Autoren vor.
Suche - Anmerkungen - Lesezeichen
Neben dem Recherchieren von einzelnen Stichworten - das man ja ebenso gut mit einer Textausgabe durchführen könnte - erweist der digitale Grimm seine Stärke natürlich auch in den Suchfunktionen. Diese finden sich auf der rechten Seite und ermöglichen sowohl die Recherche im Quellenverzeichnis als auch im Volltext des Wörterbuchs. Denn was leider bisher noch fehlt, ist eine Verlinkung von den arg kurzen Quellenangaben im Wörterbuch zu den ausführlichen Quellenangaben im 1972 erschienenen Quellenanhang. So aber lässt sich wenigstens über die Suchfunktion eine Quelle schnell auffinden. Und auch andere Recherchen sind bequem möglich. So kann man Abfragen, ob bestimmte Wortkombinationen vorkommen oder bestimmte Wörter nahe beieinander stehen. Oder man kann feststellen, wer den der meistzitierte deutsche Autor im Wörterbuch ist: Goethe steht hier weit vorne, gefolgt von Schiller und Luther.
Darüber hinaus kann man zu jedem Artikel eine eigene Anmerkungen machen bzw. ein Lesezeichen ablegen. So lassen sich etwa für eine Recherche alle wichtigen Stellen übersichtlich zusammentragen.
Wer will, kann im Deutschen Wörterbuch auch rekursiv suchen. Das heißt, man kann alle Stichworte suche, die etwa auf "-artig", "-fähig" oder "-schreibung" enden. Gibt man also etwa "theologie" als Endung ein, kommt folgende ebenso schöne wie überraschende Auflistung: Theologie, Zanktheologie, Schultheologie, Traumtheologie, Sündentheologie, Schrifttheologie, Streittheologie, Zeittheologie und Worttheologie. Da muss man länger drüber nachdenken, was das denn wohl zu sagen hat.
Buchstäbig deutsch schreiben - eine kleine zeitgeistpolitische Anmerkung
Während ich diesen Artikel schreibt, tobt der Kampf um die Reform der nationalen Rechtschreibung. Die Heilige Familie FAZ, BILD und SPIEGEL samt den Heiligen Drei Königen GRASS, ENZENSBERGER und REICH-RANICKI machen Front gegen die neue deutsche Rechtschreibung. Allen Beteiligten sei - neben der Lektüre des an der gemäßigten Kleinschreibung orientierten Deutschen Wörterbuchs - der Text von Jacob Grimm über "Das pedantische in der deutschen sprache" empfohlen, er relativiert den Stellenwert der Auseinandersetzung drastisch. Das Deutsche Wörterbuch selbst notiert zum Stichwort:
RECHTSCHREIBUNG, f. kunstausdruck für griech.-latein. orthographia, im 16. jahrh. wenn nicht schon gebildet, doch vorbereitet (welchs sonst die Latiner und Krichen, orthographiam, wir aber, recht buchstäbig deutsch schreiben, nennen wollen. JOH. FRANGK orthographia 1531 75b), im 17. jh. durch SCHOTTEL verbreitet: die wortforschung nun erfordert erstlich ... eine erforschung der letteren oder buchstaben, wie nemlich dieselbige, so wol einzel, als in wörtern, zusammengesetzt, recht nach gründlicher eigenschaft der teutschen sprache zu schreiben: und solches anfangsstück der wortforschung wird genennet die rechtschreibung (orthographia). 181; seither geblieben: es gibt eine wahre und eine förmliche orthographie. der eine hat eine falsche rechtschreibung und der andere eine rechte falschschreibung. LICHTENBERG 1, 327. |
Desiderata
Was definitiv fehlt, ist eine Textausgabe. Zwar lassen sich Textteile markieren und dann mit dem Tastaturkürzel STRG+C in die Zwischenablage bringen, um von dort mit dem Tastaturkürzel STRG+V in eine Textverarbeitung kopiert zu werden, besser wäre aber eine Kopier- und Übertragungsfunktion etwa über das Kontextmenu. Dann ließe sich gleich auch ein Copyright samt Nachweis als Fußnote mit integrieren, wie es etwa die Digitale Bibliothek seit jeher hat. Auch zu bemängeln ist die etwas plump wirkende Bildschirmdarstellung. Weder kann man die Schriftgröße dynamisch ändern, noch Teile des Bildschirms ausblenden. Auf die fehlenden Verlinkungen wurde schon hingewiesen, hier steht zu hoffen, dass diese Funktion bald nachgereicht wird.
Die Endlose Liste
Auf der schon erwähnten documenta11 hatte Ecke Bonk im Rahmen seiner mehrteiligen Installation auch eine dynamische Stichwortliste projiziert. "Vom Beginn bis zum Ende der Documenta lief die Liste aller Lemmata der Erstbearbeitung von A bis ZYPRESSENZWEIG in alphabetischer Reihenfolge durch. Die Geschwindigkeit war dabei so bemessen, dass jedes Stichwort im Verlauf der 100 Tage der Documenta genau einmal angezeigt wurde." Der Käufer des digitalen Deutschen Wörterbuchs erhält nun diesen Teil der Installation in Gestalt eines Bildschirmschoners mitgeliefert.
Fazit
Das digitale Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm ist ein muss für alle, die sich für deutsche Sprache, deutsche Literatur und deren Lebendigkeit und Entwicklung interessieren. Die Ausgabe, die bei Zweitausendeins erschienen ist, kann uneingeschränkt zum Kauf empfohlen werden.
© Mertin 2004
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Magazin für Theologie und Ästhetik 31/2004 https://www.theomag.de/31/am126.htm
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