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Magazin für Theologie und Ästhetik


Briefe schreiben

Eine vergessene Mode

Andreas Mertin

Fundstück

Beim Sortieren meiner Bibliothek stieß ich vor kurzem auf ein kleines Buch meines Urgroßvaters aus dem Jahr 1851. Der Titel der Schrift lautet:

Der kleine
Schriftleser,
oder
Uebungsstücke
für
das Lesen verschiedener Handschriften,
nebst vielen Aufgaben zur Anleitung im Anfertigen
schriftlicher Aufsätze so wie Erläuterungen vieler Fremdwörter.
Ein Lese- und Uebungsbuch für Elementarschüler

In der Mitte des 19. Jahrhunderts sind Elementarschulen, so viel wird schnell deutlich, etwas ganz anderes als heutige Grundschulen. Wenn meine Recherchen stimmen, stehen Elementarschulen in dieser Zeit noch unter der Schulaufsicht des örtlichen Pfarrers und auf dem Lehrplan stehen bei einer einklassigen Elementarschule 12 Wochenstunden "Lesen, deutsche Sprache, Schreiben"; 6 Stunden Religion(!), 5 Stunden Rechnen und 3 Stunden Gesang.

Was lehrt das Lese- und Übungsbuch für Elementarschüler?

Die I. Abtheilung widmet sich dem Geschäftsverkehr, d.h. den "kleinen Geschäfts-Aufsätzen". Sachlich durchnummeriert lernt der Elementarschüler unter anderem: Nr. 1: Wie schreibe ich eine Rechnung? - Nr. 4: Wie stelle ich eine Quittung aus? - Nr. 15: Wie schreibe ich Empfangsscheine? - Nr. 16: Wie schreibe ich Schuldscheine? - Die II. Abtheilung widmet sich den Briefen und zwar in folgender Kategorisierung: Briefe aus dem Jugendleben, Briefe aus dem Familien- und Geschäftsleben, Schreiben an Behörden. Dazu gehört auch die Formulierung von Empfehlungsschreiben (die zumindest international noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Funktion erfüllten). Die III. Abtheilung widmet sich dann den gerichtlichen Dokumenten bzw. den "Gerichtliche Acten". Dazu gehörte auch das Verfassen von Testamenten.

Zu jeder einzelnen Nummer gibt es eine Aufgabe, die der Elementarschüler zu absolvieren hat. Und dies alles wohlgemerkt in der heute kaum mehr vertrauten Frakturschrift und zwar als Schreibschrift! Wer sich davon einen Eindruck verschaffen möchte, kann dies hier tun. Ich selbst kann Fraktur zwar noch einigermaßen flüssig lesen, bei der Schreibschrift bzw. ihrer realen handschriftlichen Ausführung hören meine Fähigkeiten jedoch auf.

Adolf Hitler ließ 1941 Fraktur als so genannte "Judenschrift" verbieten und durch das rationalistische Antiqua ersetzen. Zwar gab es nach 1945 noch Zeitschriften, die teilweise Fraktur verwendeten, allgemein konnte die Schrift aber nicht mehr an ihre Hochzeiten anknüpfen. Heute kümmern sich Traditionsvereine, aber auch Obskuranten um die Pflege dieser Schrift.

Ich schreibe dies weniger wegen der vergessenen Mode der Frakturschrift, sondern aufgrund zweier Seiten, die der Übungsfibel vorangestellt sind. Denn direkt nach dem Vorwort des Verfassers findet der Elementarschüler nebenstehende Seite unter der Überschrift "Merke!" Und was soll sich ein Elementarschüler merken?

  1. Merkblatt fürs SchreibenSchreibst du eine Quittung, einen Schuldschein oder sonstige Aufsätze aus dem bürgerlichen Leben, so drücke dich stets kurz und ganz bestimmt darin aus; schreibe auch die darin vorkommenden Geldsummen nicht nur in Ziffern, sondern auch in Buchstaben nieder: weil dadurch möglichen Missverständnissen vorgebeugt wird.
  2. Kaufcontrakte und andere wichtige Dokumente lässt man am besten durch eine Justiz- und Gerichtsperson anfertigen; deshalb gibt man sich nie mit sogenannten Winkelschreibern ab.
  3. Schreibst du an jemanden einen Brief, so nimm dazu gutes und sauberes Papier; am besten ist das Brief- oder Postpapier.
  4. Deine Schrift sei rein und sauber und vor allen Dinge leserlich. Kein Wort sei durchgestrichen.
  5. Lasse oben links einen ziemlich breiten Rand.
  6. Falte den Brief so, daß eine angenehme Form entsteht.
  7. Schreibst du an eine vornehme Person, so mache ein Couvert um den Brief.
  8. Schreibst du an eine Behörde, so nimm gutes Schreibpapier, welches in der Mitte gebrochen und nur auf der rechten Seite des Bruches beschrieben wird. Alle solche Schreiben werden mit einem Couvert versehen.
  9. Linien in Briefen und in Schreiben an Behörden zu ziehen, mußt du dir nie erlauben.
  10. Hast du auf die nasse Schrift Sand gestreut, so entferne solchen auch wieder; denn es würde unanständig sein, den Sand auf der Schrift stehen zu lassen.

Vieles aus dieser Liste erscheint uns - wie das ganze Büchlein überhaupt - wie aus einer anderen Welt. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die zweite Seite, die sich um die Anschriften auf möglichen Briefen der Elementarschüler sorgt. Diese Liste ist nicht nach der Wahrscheinlichkeit des Briefschreibens, sondern - zumindest teilweise - hierarchisch gegliedert.

Anredeformen in der Mitte des 19. Jahrhunderts

Sie beginnt, wie aus der Abbildung ersichtlich ist, mit dem Anschreiben an die höchste Autorität:

Seiner Majestät dem Könige von Preußen in B e r l i n.

Es ist die Zeit Wilhelm IV., die Zeit des Streits um die Folgen der deutschen Märzrevolution und ganz offenkundig vor der Ausbildung der Arbeiterbewegung. Man ist noch Hochwohlgeboren (Grafen) oder auch nur Wohlgeboren (Freiherren), hochwürdig (Bischof) oder hochehrwürdig (Pfarrer oder Diakon). Und Kinder sollen offenkundig über die Eltern adressiert werden.

Das alles ist natürlich mehr als Mode. In der damaligen Zeit war es überlebenswichtig für ein bürgerliches Mitglied der Gesellschaft. Meinen Urgroßvater war das Buch war so wichtig, dass er es über die Schulzeit hinaus aufbewahrt hat. Er wurde und war das, was man heute einen Handwerkermeister nennen würde. Und auch für meinen Großvater war das Büchlein noch so bedeutsam, dass er es seiner Büchersammlung einverleibt hat - wo ich es dann fand.

Liebesbriefe ...

... kommen im kleinen Schriftleser nicht vor. Und doch sieht der erste - noch erhaltene - Liebesbrief meines Großvaters an meine Großmutter aus, als ob er dem kleinen Schriftleser entsprungen sei. Weit mehr als ein halbes Jahrhundert später geschrieben - man adressierte nun direkt und nicht mehr über die Eltern – beginnt der Sohn meines Urgroßvaters diesen Brief, der ihm sicher nicht leicht gefallen ist, mit den Worten "Wertes Fräulein! Sie werden verzeihen, dass ich so frei bin, diese Zeilen an Sie zu richten ..." Der Brief ist in schönster Fraktur-Handschrift geschrieben, auf sauberem Papier ohne Durchstreichungen und selbstverständlich couvertiert. Er ist – natürlich – von angenehmer Form. Sollte mein Großvater Sand zum Trocknen der nassen Schrift verwendet haben, so hat er sie sorgfältig entfernt. Der Brief meines Großvaters erreichte seine Adressatin und sein Ziel.

Anleitung zum korrekten Schreiben für den Elementarschüler August Zänker1857Dieses und anderes eingeübt zu haben, war das Verdienst des Kleinen Schriftlesers. Briefe schreiben aber, eine mühevolle Kunst, geriet außer Mode. Heute wäre derartiges nicht einmal mehr lehrbar. So konnte Theodor W. Adorno über Walter Benjamins Brief-Sammlung "Deutsche Menschen" im Nachwort dekretieren: "eigentlich lassen sich keine Briefe mehr schreiben. Benjamins Buch setzt ihnen das Denkmal. Die noch entstehen, haben etwas Falsches, weil sie durch den Gestus unmittelbarer Mitteilung Naivität bereits erschleichen."

In Zeiten, in denen Freundschaften per Internet geknüpft und per SMS aufgelöst werden, ist der Kleine Schriftleser tatsächlich nur noch eine ebenso amüsante wie wehmütige Reminiszenz an längst vergangene Zeiten, als man noch mit der Hand schrieb und Briefe verfasste.


© Mertin 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 31/2004
https://www.theomag.de/31/am129.htm