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Magazin für Theologie und Ästhetik


Was ich noch zu tun habe

Hans J. Wulff

Mi vida sin mí / My Life Without Me (Mein Leben ohne mich). - Kanada/Spanien 2003. Regie/Drehbuch: Isabel Coixet. Nach der Novelle "Pretending the Bed Is a Raft" von Nanci Kincaid. Darsteller: Ann (Sarah Polley), Laurie (Amanda Plummer), Don (Scott Speedman), Ann, die Nachbarin (Leonor Watling), Anns Mutter (Deborah Harry), Lee, Anns Geliebter (Mark Ruffalo). Kamera: Jean Claude Larrieu. Schnitt: Lisa Jane Robison. Musik: Alfonso de Villalonga. Produktion: Esther García, Gordon Mclennan (für El Deseo). Ausführende Produktion: Pedro Almodóvar, Augustín Almodóvar, Ogden Gavanski. Verleih: Tobis-Filmverleih. 102 Min. FSK: ab 6. FBW: besonders wertvoll. Auszeichnungen: Preis der Gilde Deutscher Filmkunsttheater.

Wer kennt sie nicht, die Figuren, denen der Arzt eine tödliche Erkrankung mitteilen muss und die sich nicht in gefahren- und schmerzvolle Therapien einlassen, sondern die beschließen, die wenige Zeit, die ihnen bleibt, in vollen Zügen auszukosten? So sehr das Motiv der "kostbaren Zeit" und die Vorstellung des "letzten Genusses" Teil des allgemeinen Wissens sind und so sehr jeder einzelne davon überzeugt ist, im Film schon mehrfach Geschichten gesehen zu haben, in denen es darum geht, das Leben vor dem Tod zu intensivieren - der wirkliche Therapieverzicht, die radikale Verweigerung der medizinischen Behandlung sind im Kino äußerst selten geblieben. Der Arzt war bis in die 1960er Jahre hinein, oft sogar auch später noch, derjenige, an den sich der unheilbar Todkranke auslieferte und der sich bemühte, ihn zu therapieren, zumindest die Schmerzen zu lindern. So bleibt die Aufforderung, die letzten Tage zu genießen, ein eigentlich hilfloser väterlicher Trost (manchmal am Rande des Zynismus). Sicherlich: Die tödliche Krankheit verlangt, über das Leben nachzudenken und die Werte, denen man sein Leben unterstellt, zu überdenken und sie vielleicht zu revidieren; aber dass sich der Kranke der ärztlichen Aufsicht entzieht, den Befund der tödlichen Erkrankung zur privaten Tatsache erklärt und ausschließlich aus eigener Verantwortung damit umgeht - das ist nur äußerst selten Thema von Kinogeschichten gewesen. In den meisten Fällen erweist sich die Hoffnung auf Heilung stärker als die Erwartung des nahen Todes. Ein Film wie Der Scharfschütze (1976), in dem der selbst todkranke John Wayne einen Westerner spielt, der den Tod als Revolvermann sucht statt eine - allerdings kaum erfolgversprechende - Therapie zu versuchen, ist eine der wenigen Ausnahmen, obwohl sich in der realen Medizin Fälle der Therapieverweigerung häufen.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass es eine Regisseurin ist, die sich eines solchen Stoffes angenommen hat - die Spanierin Isabel Coixet hat die Novelle, auf der ihr Film basiert, radikalisieren müssen, wie sie in einem Interview erzählte. "In der Kurzgeschichte kommt die Protagonistin aus dem Krankenhaus und erzählt allen, was mit ihr los ist. Bis ich mich dann fragte, was wäre, wenn sie es niemandem erzählen würde? Erst dann sah ich den Film vor mir." Eine junge Frau, die tödlich erkrankt und dieses Wissen zu ihrem Geheimnis macht. Die sich dem Tod stellt und mit dem wenigen, das sie hat und weiß, sich auf die Zeit danach einrichtet, die Welt ihrer Nächsten auf die Zeit nach ihr einstellt. Ein Kitsch-Szenario, wie man es sich heftiger kaum ausmalen möchte, und das in Mein Leben ohne mich, über den zu berichten ist, doch nie in die billige Sentimentalität des Mitleidens verfällt.

Eins nach dem anderen. Ann, die Hauptfigur ist 23 Jahre alt. Sie hat zwei Kinder. Ihr Mann ist arbeitslos. Der Vater ist im Gefängnis. Sie wohnt mit ihrer Familie in einem Wohnwagen auf dem Grundstück ihrer Mutter und arbeitet als Putzfrau in der Universität. Nach einem Schwächeanfall wird sie ins Krankenhaus eingeliefert, die Diagnose: Krebs im Endstadium, ihr verbleiben noch zwei Monate. Sie behält die Nachricht aus Rücksicht auf die Familie für sich und versucht zu regeln, was sie regeln kann. Sie bespricht Kassetten für ihre Kinder, die bis zum 18. Geburtstag Glückwünsche von der dann toten Mutter hören sollen. Sie möchte aber auch eine neue Mutter für ihre Töchter finden. Sie arbeitet daran, für die anderen Zeichen ihrer ablaufenden Existenz auszulegen. Und sie versucht gleichzeitig, geheime, nur ihr gehörende und nur ihr zugängliche Momente des privaten Glücks zu erreichen. Sie fertigt eine Liste für die Dinge an - "things to do" -, die sie selbst noch erleben und erledigen möchte. Die Zeit, die bleibt, zeigt Ausbruchsversuche, Verwirklichungen von kleinen Utopien, Momente eines vergänglichen und zufälligen Glücks, die die Heldin sich bis dahin nie zugestanden hatte. Einer der wenigen Zufälle dieser Art hatte sie mit ihrem Mann zusammengeführt, beim letzten Nirvana-Konzert hatten sie sich ineinander verliebt. Im Waschsalon trifft sie auf Lee, dessen Leben so leer ist wie seine Wohnung, in der ihn seine Ex-Freundin zurückgelassen hat. Seine Traurigkeit und seine Einsamkeit verlocken sie zu einer Affäre - am Ende wird er seine Wohnung neu streichen, als sei die Beziehung zu Ann eine therapeutische Maßnahme gewesen. Selbstvergessenheit und Selbstbewusstsein der Heldin finden in der Lee-Affäre ihre Synthese - der Wille, eine Liebe über die Familie hinaus und außerhalb der Kreise der Pflicht zu erfahren, die das Alltagsleben binden, und zugleich der Wille, diese Erfahrung zu einem nur ihr gehörenden privaten Moment zu machen: Es ist Ann, die auch hier immer Kontrolle behält.

Ihre Figur macht das Zentrum des Films aus. Sie verfällt nicht in Selbstmitleid und Angst, dazu hätte sie in ihrem kurzen Leben nie die Zeit gehabt. Sie stand früh unter Verantwortung - das erste Kind kam, als sie 17 war, und sie musste immer für das Auskommen der Familie sorgen, ihr Mann ist ein "Sonnyboy", oft arbeitslos. Ein Leben, das von Pflichtgefühl regiert war und das seine Bestimmungen von Glück gerade daraus gewann. Anns Sterben steht unter den gleichen Vorzeichen, und die kleinen Freiheiten, in die sie unter dem Wissen, bald zu sterben, eintaucht, bleiben immer gebunden durch das, was sie bis dahin gelebt hat. "Try your wings" steht auf ihrem T-Shirt, als sie sich einmal in den Regen stellt, ganz dem Fühlen des Regens hingegeben. Die Spannung, die zwischen dem Aufspüren der kleinen privaten Glücksmomente, die gegen die Familie abgeschirmt sind, und dem auch erkennbaren fast wahnhaften Wunsch, über den Tod hinaus Verantwortung zu tragen und Kontrolle über ihre Nächsten auszuüben: Das macht das Faszinierende dieses Charakters aus. Er ist mit Sarah Polley überaus glücklich besetzt. Vielleicht ist die Dichte, mit der sie ihre Rolle ausgestaltet, gebunden daran, dass sie so vieles aus der eigenen Biographie in die Figur einfließen lassen konnte. In einem Gespräch mit Isabelle Coixet heißt es: "Sarah Polleys Mutter starb, als sie elf Jahre alt war, sie selbst arbeitete, seit sie sieben war, sie musste schon früh ihre Familie ernähren, sie hatte ein wirklich hartes Leben. Für ihre Rolle haben viele gute Schauspielerinnen wie Kirsten Dunst, Liv Tyler und Thandie Newton vorgesprochen - aber ich kann mir nicht vorstellen, wie sie den Fußboden aufwischen, solche alltäglichen Verrichtungen. Bei Sarah dagegen ist das ganz normal."

So eng die Heldin umstellt ist mit einem Geflecht von Verpflichtungen und Abhängigkeiten, so sehr ist diese soziale Situation auch in den Bildwelten von Mein Leben ohne mich wiedergegeben. Nur äußerst selten zeigen die Bilder unverstellte Landschaften und offene Räume - Autobahnzubringer, Hochhäuser und Industriebauten verbauen den Blick. Selbst in den Innenräumen ist der Handlungsraum immer wieder überlagert mit fremden Elementen - mit einer rotierenden Vitrine z.B., in der wenige übriggebliebene Tortenstücke ihre traurigen Runden drehen. So sehr der alltägliche Rahmen dominant bleibt und nicht verlassen werden kann, in dem Ann auch immer nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, so unzugänglich bleiben Ann transzendentale Erfahrungen. Selbst in den wenigen Szenen, in denen sie ganz aus sich selbst heraus zu handeln scheint, erlebt sie keine Momente der Entgrenzung oder eines unbegrenzten Glücks- oder Rauschzustandes - in der schon erwähnten Szene, in der sie barfuss im Regen steht, hat sie die Augen geschlossen, als wolle sie sich ganz gegen die Umgebung abschirmen. Und wie um die entfremdende Distanz, die sie selbst in diesen Momenten zu sich selbst hat, zu akzentuieren, spricht ihre Stimme im Voice-Over: "This is you!" - "Das bist du!" Das Gefühl der Befreiung bleibt inneres Erlebnis, ist nicht als Verschmelzung von Ich und Raum inszeniert.

Von besonderer Bedeutung ist die Arzt-Patienten-Beziehung in diesem Film. Der Arzt wird eingeführt als einer, der unsicher ist und der seiner Patienten den schlimmen Befund kaum mitzuteilen wagt. Sie muss ihn trösten, nicht er sie - in einer aberwitzigen Drehung wird das Problem des Wissens um die schlimme Zukunft eingeführt. Der Arzt, für den das Sterben des Patienten eine schlimmere Tatsache ist als für diese selbst; und eine Patientin, die als fast zu junge Mutter darauf eingestellt ist, ihre Nächsten zu trösten, dem Schlimmen, was zustoßen mag, die Spitze zu nehmen, das Bedrohliche abzumildern - sie ergreift auch in dieser Situation die Position der Stärke, lässt sich selbst nicht fallen, sondern sucht souverän umzugehen mit dem, was ihr geschieht. Der Arzt wandelt sich zum eigentlichen Vertrauten seiner Patientin, die sich dennoch bis zum Ende gegen seine professionelle Hilfe sperrt. Wo hat man dieses gesehen - ein Arzt, der die Autorität im Arzt-Patienten-Verhältnis aufgibt, zu einer egalitären Beziehung findet und sogar zum Verbündeten des Patienten wird, der den therapeutischen Kontrakt verweigert? Auch dieses macht Mein Leben ohne mich zu einer der bemerkenswertesten DVD-Editionen des Jahres.


© Hans J. Wulff 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 31/2004
https://www.theomag.de/31/hjw2.htm