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Magazin für Theologie und Ästhetik


Religiöse Bildung in der "Wissensgesellschaft"

Christoph Fleischer

Ein Beispiel aus der Bibel: Der Anfang des Buches Sprichwörter (Proverbia)

In der aktuellen Bildungsdiskussion entsteht der Eindruck, Bildung sei mehr als Wissen, sei wichtiger und also ein höherer Wert. "Die evangelische Kirche versteht Bildung als Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens." (Denkschrift S. 66) In der Denkschrift spannt die evangelische Kirche einen Bogen und setzt den Begriff des Wissens in einen größeren Zusammenhang. Ich möchte nicht darauf eingehen, dass hier von Sinnstiftung die Rede ist, womit Bildung mehr in einen geistig philosophischen Zusammenhang gerückt ist. Dies ist natürlich aus religiöser Sicht mehr als richtig! Es ist auch richtig, dass Wissen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen ist, damit es sich nicht verselbständigt und ethisch unkontrollierbar wird. Es ist gut, dass dies von vornherein im Blick ist. Die Anwendbarkeit unseres Wissen zeigt sich ja schließlich auch im Zünden der Atombombe, um nur ein Beispiel zu nennen. Wissen ist andererseits ein Begriff, der nicht definiert wird, man setzt ihn voraus: Ich verstehe Wissen als eine umfassende Ansammlung von Kenntnissen und als menschliche Fähigkeit die erworbenen Kenntnisse zu ordnen und praktisch anzuwenden. Der Begriff des Wissens gehört zur Theorie und zur Praxis. Und es ist richtig, dass er zur Zeit fast inflationär gebraucht wird. Mit dem Begriff Bildung ist es nicht so einfach, weil er umfassender ist. Dennoch möchte ich die These wagen, dass es bei der PISA Studie gerade um feststellbare Mängel im Wissensbereich ging[1]. Das Wissen um Handlungen (Praxis) kann doch erst dann vermittelt werden, wenn ein inhaltliches Verständnis dessen, worin zu Handeln ist vorliegt. Bildung setzt Wissen voraus.

Ein gutes Beispiel für den Zusammenhang von Wissen und Bildung ist ein alter Text der Bibel, die Einleitung des Sprüchebuches Proverbia 1, 1 - 6. In der Übersetzung der guten Nachricht, in die aber schon viel Deutung eingeflossen ist, heißt es[2]:

"Dieses Buch enthält in Sprüche gefasste Ratschläge fürs Leben von Salomo, dem Sohn Davids und König von Israel. Sie zeigen uns, was Weisheit und echte Bildung ist, damit wir merken können, wo mit Einsicht über etwas geredet wird. Mit ihrer Hilfe kommen wir zu einer guten Bildung und lernen, wie wir unser Leben richtig führen und immer auf dem geraden Weg bleiben. So können wir auch junge und unerfahrene Menschen zu Klugheit und Besonnenheit führen. Sie werden dann verstehen, was weise Lehrer sagen: ihre Sprüche, Bilder, Gleichnisse und Rätsel. Auch Erfahrene lernen aus diesem Buch noch dazu und machen Fortschritte in der Kunst, die Aufgaben des Lebens zu bewältigen."

Interessant ist an diesem Abschnitt, dass die ersten Sätze wörtlich übersetzt zunächst nur Infinitive enthalten: "um zu verstehen, um zu erlangen, um zu verleihen". Erst der vorletzte Satz ist ein richtiger Hauptsatz und stellt das Ziel dar: "Sie werden dann verstehen." Alle Verse dieses Abschnittes sind im genannten Zusammenhang interessant und sollten kurz gewürdigt werden:

  1. Schon die Überschrift zeigt Salomo, den fiktiven Verfasser, als Sohn Davids an. Weisheit, und damit Wissen und Bildung gehören in den Zusammenhang der Generationen und werden von der einen Generation auf die andere weitergegeben. Dass Salomo hier als König von Israel bezeichnet wird, zeigt mir, dass die Abfassung von Sprüchen mehr ist als eine schriftstellerische Spielerei, sondern im Sinn des Staates liegt. Es geht um Israels Bildungspolitik. Der Bildungsstand des Volkes bis in die Stellen der Verantwortlichen hinein liegt immer im Interesse des Staates, hier des Königs als seines Repräsentanten. Die Vermittlung von Bildung und Wissen ist von politischem Interesse. Warum, das wird im folgenden begründet:

  2. Der Begriff "Bildung", der hier gebraucht wird, wurde sonst mit "Zucht" übersetzt. Auffällig sind hier wie oft in lyrischen Texten der Bibel die vielen Begriffsdoppelungen, Parallelismen genannt. Sie sind eine sprachliche Kunstform in der zumeist die Begriffe bedeutungsähnlich sind und sich gegenseitig definieren. Damit ist die Übersetzung von Zucht mit Bildung schon zu rechtfertigen, da er hier mit Weisheit gleichgesetzt wird. Das Ziel des Bildungsvorganges ist das Verständnis von Rede, also zunächst rezeptiv ausgerichtet. Wer gebildet ist, kann kundige Rede verstehen, hat einen größeren Wortschatz und kann Begriffe einordnen. Von seinem Verständnis her kann er auch Begriffe beurteilen und die Rede, die er hört beurteilen. Dass diese Fähigkeit auch für Politiker und Repräsentanten wichtig ist, gerade im diplomatischen Geschäft, braucht kaum erläutert zu werden. Gerade in einer Demokratie scheint sich Politik ohnehin zu angewandter Rhetorik zu wandeln. Diese Umschreibung von Weisheit hat mit Rhetorik zu tun. Es ist sinnvoll zu lesen, dass Wissen sofort auch in einen Anwendungszusammenhang gehört: Verständnis von Rede. Wissen will kommuniziert werden. Das gilt nicht nur für die Lehre.

  3. Der dritte Satz ist mir in der Übersetzung der guten Nachricht zu individualistisch. Es heißt in der Einheitsübersetzung: "um Zucht und Verständnis zu erlangen, Gerechtigkeit, Rechtssinn und Redlichkeit." Auch wenn Zucht hier mit dem Wort Bildung wiedergegeben werden kann, ist es hier doch eher im Sinn einer korrekten, nicht nur moralisch einwandfreien Lebensführung gemeint. Ich denke, dass aus der Sicht des Königs hier mehr als nur "Üb´ immer Treu und Redlichkeit" gemeint ist. Ich habe eher den Eindruck, dass es hier um Grundeinstellungen im Staatswesen geht. Heute würde man sagen: Beamte müssen gerecht sein, müssen das Recht kennen und unbestechlich sein. Diese Aufzählung politischer Tugenden gehört zu den Grundwerten der Erziehung aller Bürgerinnen und Bürger. Wissen und Bildung scheinen mir hier klar im Zusammenhang berechtigter politischer Bedürfnisse zu stehen. Ein funktionierender Staat setzt die Bildung aller Bürgerinnen und Bürger voraus, nicht nur der Bildung einer Elite.

  4. Der vierte Satz widmet sich der Pädagogik im eigentlichen Sinn. Jugend wird hier mit Unerfahrenheit gleichgesetzt. Die Sprüche denken oft einfach von schlichten Gegebenheiten her und sind daher oft einfach evident. Lernen ist dann ein Anwachsen von Erfahrung, wobei der Lernende aus Fehlern klug werden mag. Die Verfasser der Sprüche gehen davon aus, dass dieser Lernprozess des Lebens besser funktioniert, wenn das Erfahrungswissen über die Weitergabe zwischen den Generationen geschieht. Der Begriff des Wissens wird hier um den Begriff des Verhaltens ergänzt als "Umsicht" bzw. "Besonnenheit". Die Aneignung von Wissen zielt also immer auf den Umgang mit anderen Menschen in der Gesellschaft. Wissen hat immer eine Funktion und ist auf gesellschaftliche Handlungsfelder bezogen. Dieses Kriterium der Umsicht und Besonnenheit sollte die Kirche einer sogenannten Wissensgesellschaft mahnend entgegenhalten. Allerdings funktioniert ohne Wissensvermittlung der gemeinte Lernprozess auch nicht, ja verfehlt sein Ziel, der jungen Generation das Wissen der vorhergehenden zu vermitteln. Wissen will wachsen.

  5. Der eigentliche Hauptsatz dieses kurzen Textes stellt klar, dass der beschriebene Lernprozess auch ein Ziel für den hat, der es selbst tut: lerne und verstehe, lebe gerecht und vermittle das Wissen der Jugend. Der Weise lernt weiter und vermehrt sein Wissen. Bildung ist so tatsächlich ein lebenslanger Prozess. Bildung ist Weiterbildung, denn sie geht immer weiter. Ziel ist auch durchaus, die Qualifizierung zu verbessern. Die Einheitsübersetzung nennt es: Der Verständige lerne kluge Führung. Als weiteres Ziel ist dann, so kann man es fast nennen, durch eine Ansammlung von Wissen auch ein umfassenden Verstehen schwieriger Texte zu erlernen. Sinnspruch und Gleichnis, die Worte und Rätsel der Weisen. Hiermit scheint die Spruchweisheit auch einen Form von Philosophie zu sein, ein Denken, dass Alltagserleben und Grundverständnis ins Gespräch bringt.
Bildung ohne Wissen? Die Denkschrift der EKD "Maße des Menschlichen" (2003) kritisch gelesen

Ich habe die Verse aus Sprüche 1 näher erläutert und werde auch im folgenden auf sie zurückkommen, weil ich finde, dass sie lebensnah argumentieren, politisch zu verstehen sind und Wissen und Bildung nicht gegeneinander ausspielen. Der Verfasser des Sprüchebuches setzt selbstverständlich voraus, dass ein Lernprozess als Wissensvermittlung zu sehen ist. Im größeren Zusammenhang des Lebens ist er von Anspruch her dann auch Bildung. Ich möchte nun in einem nächsten Schritt versuchen, die EKD Studie "Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektive zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft"[3] daraufhin zu lesen.

Nach der Aussage: "Mehr Wissen bedeutet nicht automatisch mehr Orientierung." (EKD, S. 8) mit der Präses Manfred Kock die Schrift eröffnet, scheint schon alles klar: Es muss mehr geben als das pure Wissen. Der Begriff "Bildung" obwohl durchaus manchmal "schillernd" und "formelhaft" bietet sich an. Wenn man sich fragt, was denn nun das speziell Christliche an diesem Sammelbegriff ist, wird auf die Ausarbeitung über den Religionsunterricht "Identität und Verständigung" aus dem Jahr 1994 verwiesen (EKD, S. 11). Ich schließe: Diese Denkschrift redet also aus dem Kirchenfenster und beteiligt sich an der allgemeinen Bildungsdiskussion. Kirche ist an Bildung interessiert, und zwar unter anderem auch an religiöser Bildung. Dass die religiöse Bildung gesellschaftlich in einem größeren Rahmen steht und sich gerade in ihrer Dialogfähigkeit zu bewähren hat, dürfte unbestritten sein, hier jedoch wird sie eingereicht unter andere Zielbegriffe: ethische, soziale, religiöse, interkulturelle, ästhetische, medienkritische, ökologische, geschichtliche, zukunftsfähige und lebensphasengerechte Bildung (EKD, S. 15)[4]. Lernen und Lehren ist von didaktischer und methodischer Vielfalt geprägt und bieten eine gewisse Bandbreite der Formen und Aktivitäten an. "Es umfasst Fleiß und Neugier, sorgfältige Aufgabenerledigung und selbständige, eigensinnige Suche, Kenntnisse und Verständnis, Wissen und Reflexionsfähigkeit, Problemwahrnehmung und Problemlösungskompetenz, disziplinierte Anstrengung und kreative Muße." (EKD, S. 14) Dass es hier nicht um eine speziell religiöse Bindung gehen soll, wurde gesagt. Aber es geht sicherlich um die umfassende Bildung in dem Sinn, dass sie die Vermittlung religiöser Kompetenz einschließt. Gerade in diesem Abschnitt ist kein evangelisches Profil erkennbar, sieht man einmal vom Appell zur Chancengleichheit (EKD, S. 20) ab.

Der Einleitungsabschnitt des Sprüchebuchs bestätigt diese Tendenz insofern, dass er Lernen und Bildung nicht auf einen bestimmten Begriff bringt, sondern unterschiedliche Begriffe nennt und sprachlich akzentuiert: Weisheit, Wissen, moralische Bildung, früher Zucht genannt, Einsicht, Klugheit und Erkenntnis. Die Verben erkennen und verstehen wechseln einander ab und erklären sich gegenseitig. Wenn sich die Studien mit dem Problem des lebenslangen Lernen beschäftigt, hätte sich auch aus diesem Wissensschatz des Weisheitsbuches profitieren können. Fakt ist: Es wird lebenslang gelernt, aber mit unterschiedlichen Zielen. Klar ist: "Der Weise höre und vermehre sein Wissen". Es lernt nicht mehr "Kenntnis und Umsicht", wie die Jugend, sondern "kluge Führung". In der Denkschrift will die Evangelische Kirche die Vorstellung des lebenslangen Lernens zwar würdigen, findet aber (bewusst) kein so recht positives Verhältnis dazu, sondern stellt Bedenken in den Vordergrund. Sie versteigt sich zum dem Satz: "Neu ist die Vorstellung von einem lebenslangen Lernen, das von kontinuierlichen Lernabsichten bestimmt und zum Gegenstand systematischer Organisation wird." (EKD, S. 25) Hätte sie die religiöse Bildung stärker akzentuiert und "die Frage nach Gott" nicht nur zwischen die ethischen und historischen Grundfragen gestellt, wäre ihr sicher aufgefallen, dass das Erlernen religiöser Kompetenzen ein lebenslanger Prozess ist. Oder ist Bildung nicht mehr als Lebens- und Handlungswissen anzusehen, sondern nur als Form von Ausbildung und Spezialisierung? Richtig ist nun, dass sich die Denkschrift anhand der Erörterung von Lebensphasen auf die Biografie der Menschen konzentriert. Dass lebenslanges Lernen sich auch im Verlauf des Lebens verschieden darstellen müsste, lässt sich auch schon aus dem Sprüchebuch herauslesen. "Es geht bei Bildung um das Leben als Individuum. Erst auf seinem ganzen Lebensweg bildet sich der Mensch als Mensch. Diese biografieorientierte Leitperspektive lenkt den Blick auf die Beziehung zwischen den Generationen. Alle müssen von und miteinander lernen." (EKD, S. 47) Wenn auch gerade vor dem Anspruch lebenslangen Lernens die ältere auch von der jüngeren Generation lernt, so muss doch eigentlich im Zusammenhang mit Bildung betont werden, dass die jüngere Generation, wie es im Sprüchebuch heißt, "Kenntnis und Umsicht" von der älteren Generation zu lernen hat. Das Bildungssystem an sich, das sich hauptsächlich an jüngere Menschen richtet und sie zum Abschluss einer Berufsausbildung qualifiziert, stellt im System der Wissensvermittlung dar, dass die jüngern von der älteren Generation zu lernen hat. Die Fähigkeit, Kinder zu unterrichten setzt Wissen und Erfahrung voraus. Die Ausbildung zum Lehrerberuf ist durchaus aufwändig. Lehrer sind Schülern gegenüber immer auch Vertreter der Erwachsenengeneration und sollen es auch sein.

Eine andere Frage, die ich an die EKD Studie stelle ist die nach ausdrücklicher theologischer Akzentuierung. Dass sie nicht so mit Bibelzitaten gespickt ist, wie andere kirchliche Stellungnahmen, macht sie zunächst durchaus lesbarer. Andererseits ist der ausdrückliche Bezug auf theologische Fragestellungen nicht sehr stark. Theologisch konkreter wird die Denkschrift in einem Unterabschnitt, der den Bereich des biografischen Lernens abschließt: "Was ist der Mensch?" (EKD, S. 48-53) Es heißt darin, dass Botschaften nicht nur oberflächlich wahrgenommen werden dürfen, sondern in der Tiefe gelesen werden sollen. Die Unterscheidung Subjekt und Objekt wird angemahnt. Es wird daran erinnert, dass Menschenbilder immer im Spiel sind, man sich also fragt, nach welchem Menschenbild wird gelernt. Auf das Leben bezogen überwiegen Lebensannahme, z.T. durch Werbung und Wirtschaft geprägt, während hier die nüchtern Analyse der Wirklichkeit die Natur des Menschen in ihren Möglichkeiten und Grenzen wahrnimmt (EKD, S. 51). Dass dies gerade das religiös christliche Menschenbild ist, wird nur vorsichtig angedeutet. Nur ein kurzer Mittelabschnitt scheint das Problem lösen zu wollen: "Maße von Menschsein und Bildung - evangelische Perspektiven" (EKD, S. 54 . 65). Der Abschnitt schließt mit vier Grundkategorien, die als christliche Bildung gelten: - Erziehung zu Frieden, Recht, Gerechtigkeit, Fürsorge für das Leben und interkulturelle Verständigung, - Bildung mit Blick auf die individuelle Entwicklung und Lebensgeschichte, - Erziehung zu Dankbarkeit gegenüber Gottes Schöpfung und Erinnerung an die "Kraft des befreienden Evangeliums von Jesus Christus", - alle Lebens- und Bildungsbereiche umfassende Bildung. Hier wird auch an Gottesdienst und Gemeindearbeit als Feld der Bildung erinnert. Den Abschnitt "zeitgemäße Bildung" (EKD, S. 66-88) könnte man schon so verstehen, als dass hier verschiedene Themen kirchlicher Bildung aufgezählt werden. Doch da dies ja nicht der Standpunkt der Studie zu sein scheint, und kirchliche Bindungen nicht so deutlich werden sollen, wird hier vor allem vom Lernen und von der Bildung her argumentiert. Man müsste sagen: Die Kirche stellt sich argumentativ auf die Seite des Staates und versucht unter Einbeziehung der eigenen Werte und Positionen den Bildungsbegriff allgemein zu formulieren. Man spürt diesem Versuch ab, dass trotz vieler wichtiger Grundgedanken, immer wieder eigentlich nicht klar ist, was die Kirche selbst will. Dies wird auch an dem Unterabschnitt über das Wissen deutlich (EKD, S. 68-70)."Wissen basiert auf Kenntnisnahme und Erkennen; ... Wissen ist dann erarbeitet, wenn es in vorhandene Wissensstrukturen und -vorräte eingegliedert worden ist und selbständig angewendet werden kann." (S. 68) Mit keinem Satz wird angedeutet, dass dies auch für religiöses Wissen gilt. Sicherlich ist jedes Wissen nun kritisch um jenes informelle Wissen zu ergänzen, worauf es in einem lebenslangen Lernprozess immer wieder ankommt.

Der Grundansatz der gesamten Studie legt wert darauf, als eine Stimme in der Bildungsdiskussion gehört zu werden. Die Kirche selbst kann und darf sich dabei wohl so wenig wie möglich als Kirche und religiöse Gemeinschaft zu erkennen geben. Man darf nur beiläufig darüber nachdenken, was denn ein religiöser Wissenserwerb und eine solche Bildung im Zusammenhang der Gesamtgesellschaft bedeuten könnte. Ich vermisse gerade die Einseitigkeit, die der Text bewusst vermeidet, weil sie keine wissenschaftliche Ungenauigkeit wäre, sondern eine redliche Berücksichtigung der eigenen Sache und des eigenen Standpunkts. Politisch müsste man sogar sagen: Dieser Text sagt nicht bewusst, was die Kirche will, er scheint es also zu verschleiern. Man mag diesen Ansatz dann verstehen, wenn die Kirche sich bemüht, im gesellschaftlichen Konzert ihr Instrument zu spielen. Sie sagt, bildlich gesprochen, aber zu wenig, welche Musik sie spielen will.

Das Sprüchebuch dagegen sieht ebenso einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang und ist keinesfalls religiös fundamentalistisch. Der Staat ist im Blick, Gerechtigkeit und Recht ebenso. Formelle und informelle Tugenden gehören hier ebenfalls zusammen: Die Begriffe Weisheit, Zucht, Einsicht, Klugheit und Erkenntnis werden aufeinander bezogen. Das Ziel ist einfach mitreden zu können, Kommunikationsfähigkeit in der Diskussion der Gesellschaft, die alle nötigen Wissenselemente einschließt. Nicht erst in einer Untersuchung über den Religionsunterricht, sondern hier in einer allgemeinen Denkschrift zur Bildung hätte es seinen Platz gehabt: Evangelisch religiöse Bildung und ihren Platz in der Gesellschaft. Damit wäre dann nämlich auch deutlich geworden, dass solche Bildung zu vermitteln ist, und zwar Lern- wie Handlungswissen gleichermaßen. Die Kirche darf und muss um ihrer selbst willen diesen Beitrag leisten. Wie zu der Zeit als die dialektische Theologie aufkam, muss sie die Differenz zwischen gesellschaftlicher Anbiederung und klarer religiöser Identität behaupten, und dann gerade als Kirche die angemessene Position in der Bildungsdiskussion beziehen. Im Sammelband "Der Bildungsauftrag des Protestantismus"[5] befindet sich ein Aufsatz von Karl Ernst Nipkow. Der Rezensent der Theologischen Literaturzeitung, Martin Rothgangel, zitiert einen Satz daraus, den ich sprachlich und inhaltlich bezeichnend finde:"Wenn nicht prinzipiell die freie, selbst bestimmende Subjektivität und hierin Selbstbildung, ferner eine zivilgesellschaftlich erforderliche, gesellschafts- und autoritätskritische politische Bildung mit bejahten liberalen, demokratischen Grundrechten anstatt Gemeinschaftsideologien kirchlich gelten soll und folglich damit zugleich ein Begriff von Bildung als einseitige "Prägung" durch eine geschlossene evangelisch weltanschauliche Glaubeinserziehung verabschiedet wird, ist der Protestantismus nicht pluralismusfähig."[6] In dieser Formulierung wird deutlich, dass so keine evangelische Position gefunden werden kann. Wer so negativ und abgrenzend formulieren muss, um die eigenen Position auszudrücken, wird nicht verstanden.

Im eingangs behandelten Abschnitt des Sprüchebuches fehlen nun allerdings auch bezeichnenderweise religiöse Begriffe. Hinweise auf das, was zu lernen ist, finden sich einerseits in den Begriffen "Gerechtigkeit, Rechtssinn und Redlichkeit" (Sprüche 1, 3). Wenn die gute Nachricht Bibel dies in einem umfassenden Sinn als Bildung wiedergibt, fasst sie diese Begriffe schon individualistisch auf. Richtig ist: Diese Lernziele gelten für alle. Sie werden durch die Kenntnis der Tora vermittelt. Diese zu hören und zu verstehen ist schon auch ein religiöser Vorgang. Gemeint sind aber eher die persönlichen und gesellschaftlichen Aspekte dieser Werte. Lernen in all seinen Formen hat etwas mit dem gesamten Lebensvollzug zu tun. Diese Bildung ist hier so beschrieben, dass sie vom König gewollt ist. Der politische Wille fordert eine umfassende Bildung auch zum Wohl des Staates. Dazu gehören natürlich die Fähigkeit, überhaupt Lesen und Schreiben zu können. Die Kenntnis von Literatur im umfassenden Sinn, also Philosophie und Religion einschließend ermöglicht es, "kundige Rede zu verstehen" (Sprüche 1, 2), sowie im fortgeschrittenen Sinn, "Sprüche, Bilder, Gleichnisse und Rätsel" der Weisen zu interpretieren. Die Vermittlung von Weisheit setzt hier schon die Produktion von Texten, sei es mündlich oder schriftlich voraus und strebt als Ziel die Vermittlung dieser Inhalte an. Lernen hat es also auch immer schon mit Hermeneutik zu tun. Religiöse Bildung im weiteren Sinn ordnet sich nun auch tatsächlich ein in den Zusammenhang der Bildung überhaupt, ohne zunächst das eigene Anliegen genauer zu bezeichnen. Bildung wird hier auch selbstverständlich schon als lebenslanger und lebensphasenbezogener Prozess gesehen. Da wird speziell die Jugend als eine Zielgruppe genannt, der Erkenntnis und Wissen einerseits, und Umsicht andererseits vermittelt wird. Der Parallelismus dieser Begriffe ist hier sicher eher auf Unterscheidung angelegt: formelles Wissen in Form von Erkenntnis und informelles Wissen im Sinn von Orientierung wird hier einander gegenübergestellt. Eine andere Zielgruppe sind die Weisen selbst, denen durch den fortlaufenden Lernprozess weitere Lernfortschritte zugetraut werden. Ja Weisheit besteht geradezu darin, darum zu wissen, dass Wissen immer unabgeschlossen ist und ständig erweitert werden muss: "Der Weise höre und vermehre sein Wissen..." (Sprüche 1, 5). Interessant ist als Bestätigung der EKD Studie aus diesem alten Kulturwissen der Bibel: Bildung ist umfassend und lebensbezogen. Hier wird nicht speziell nach Religiosität gefragt, sondern danach, was für das Leben, individuell und gesellschaftlich von Nutzen ist. Weisheit ist eine Form von Wissen, die nie abgeschlossen ist, sondern um Deutung und Fortschreibung immer erweiterbar. Allerdings ist durch die Textauswahl vorweg Sprüche 1, 1-6 der bekannte Vers ausgenommen worden, da er eher eine Übergangsfunktion hat. "Den HERRN ernst nehmen ist der Anfang aller Erkenntnis." (Sprüche 1, 7a). Anders gesagt: "Gottesfurcht ist Anfang der Erkenntnis." Es ist doch auch klar, dass aus unserer kirchlich religiösen Sicht in der Behandlung der Gottesfrage und ihrer Konsequenzen mehr als nur eine Marginalie ist, wie es in der EKD Denkschrift scheint. Das Bildungsverständnis der Kirche darf diese religiöse Frage auch nicht nur auf die Bereiche informellen Lernens beziehen, indem etwa nur Gott bezeichnet wird als "Raum des Lebens, in dem "Güte und Treue sich begegnen..." und in dem die "Gerechtigkeit Gottes" ausströmt (EKD, S. 61). Sicherlich hat die Kirche davon zu reden, dass "Gottes barmherzige und vergebende Zuwendung zu seinen Geschöpfen" weitreichende Konsequenzen hat (EKD, S 63), aber sie hat ebenso davon zu reden, worin die Rede von der Gottesfurcht überhaupt besteht und was sie in ihrem ursprünglichen Sinn bedeutet. Ohne eine fundamentales religiöses Lernen werden sich wohl kaum deren Konsequenzen einstellen können.

Warum ist dies unterblieben? Ein Argument dafür ist allgemeiner Art: Das Wissen selbst ist problematisch geworden. Je mehr Wissen gefordert wird, um so schwieriger scheint der Umgang damit zu sein. An der PISA Studie wird kritisiert, dass sie nur vom "Wissensbedarf" her argumentiert und den Bereich "informellen Lernens" vernachlässigt (EKD, S. 68). Zu recht heißt es: "Wissensgesellschaften" erhöhen den Bedarf nach Wissensbegründung. Wissen ist deshalb daraufhin zu prüfen, wozu es dem Einzelnen und dem Zusammenleben der Menschen dient." (EKD, S. 69) Reines "Verfügungswissen" soll um bildungsorientiertes "Orientierungswissen" ergänzt werden. (EKD, S. 69) Ein "integriertes Verständnis von Bildung" (EKD, S. 71) wird auch auf die Vermittlung von Religion und Ethik zu beziehen sein. "Religion und Ethik sind keine direkt vermittelbaren "Fertigkeiten", vielmehr stellen sie vor Fragen, bei denen es um das gesamte menschliche Dasein geht." (EKD, S. 70). So richtig es ist, dass religiöse Rede immer auch eine anthropologische Seite hat (siehe: "Was ist der Mensch" EKD S. 48ff), so muss doch auch in Zukunft erlaubt sein zu fragen, welches Wissen um Religion die Menschen und die Gesellschaft brauchen. Auch wenn gerade die Religion immer weiß um Begrenzung, Endlichkeit und Vorläufigkeit, so vermittelt sich doch gerade einer Fluktuationsgesellschaft die Vorstellung von Unendlichkeit, Ewigkeit und Unwandelbarkeit. Verzichtet sich auf die Vermittlung des religiösen Grundwissens, verschwindet es folglich aus dem gesellschaftlichen Denken. Man könnte also sogar folgern: Die Kirche kritisiert die gesellschaftliche Fehlentwicklung der Bildung und merkt gar nicht, dass es daran liegt, dass der Gesellschaft der ihr eigene Bereich das religiöse Wissen und Denken abhanden gekommen ist. Die Vermittlung des biblischen und theologischen Grundwissens hat Konsequenzen. Hier verbindet sich die Frage nach religiösem Verständnis von Bildung mit der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie[7]. Hierzu ist nun zur Kenntnis zu nehmen, dass es in Bezug auf die Frage nach der Wissensgesellschaft im Moment eine sozial - philosophische Diskussion gibt, die in einigen Punkten im Zusammenhang der Frage nach Bildung zu berücksichtigen ist.

Wissen und Gesellschaft, Wissen und Orientierung - interessante Verbindungen zwischen der Theologie und der kritischen Philosophie

Für Theologen wie Christinnen und Christen allgemein ist es immer wieder eine Herausforderung, die Schriften der Bibel in einem aktuellen Zusammenhang zu lesen. Was begründet dies eigentlich außer einer weltanschaulichen Voraussetzung, die nicht jeder zu teilen hat? Die Schriften der Bibel sind Schriftzeugnisse aus der Entstehungszeit von Schrift und Literatur überhaupt. Sie zeigen, was Literatur leisten kann. Sie sind zugleich kulturhistorische und anthropologische Dokumente. Wer die Bibel liest, fragt also auch nach Konstanten, die trotzt aller Veränderungen in der Menschheitsgeschichte zu erkennen sind. Hier ist das Sprüchebuch insgesamt ein gutes Beispiel, wenn auch manche Ratschläge moralisch überholt zu sein scheinen. Das Buch geht aus von einer Vorstellung lebenslangen Lernens und stellt diese in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang: "Gesprächspartner des Dichters ist nicht der Unerfahrene, sondern der Weise / Verständige, die Erwachsenengeneration, die Verantwortung trägt für das politische, soziale und religiöse Leben, und darin diejenigen, die bereit sind, immer dazuzulernen, neue Erkenntnisse ebenso wie den Rat der Erfahrenen in sich aufzunehmen mit einem "hörenden Herzen". Vermehren von Wissen dient der Bildung von Glauben und Gewissen und ermöglicht eine kluge und gewissenhaften Lebensführung, zu der man andere durch Wort und Beispiel ermutigt."[8] In einer Gesellschaft, die sich als Lerngemeinschaft begreift, wird es wohl immer auch die Vorstellung des lebenslangen Lernens geben. Dabei greift die pädagogische Konzeption des Sprüchebuches auf das Fundament des Jahweglaubens zurück und bezeichnet diesen als Anfang der Weisheit.

Wie sieht das in der aktuellen Form von Lerngesellschaft aus? Wie leben und erlernen die Menschen dort lebenslang und inwiefern können sie religiöses Wissen und Denken für die Verwirklichung ihrer Lebensziele gebrauchen? Hat Religion in der "Wissensgesellschaft" auch einen solchen Platz, wie dies im Sprüchebuch für die damalige Gesellschaft beschrieben wird und was kann sie bedeuten? Meine These klingt vielleicht ein wenig platt: In der Wissensgesellschaft bieten die christlichen Institutionen innerhalb des Bildungssystems eine bestimmte Form des Wissens an, die nachgefragt wird, aber auch nicht konkurrenzlos ist. Zunächst beziehe ich mich auf drei Artikel, die näher umschreiben, was der Begriff "Wissensgesellschaft" meint[9]. Die Foren und Kongresse der Heinrich Böll Stiftung greifen darin einen Begriff auf, der von der OECD und der Europäischen Gemeinschaft immer mehr in die politische Sprache eingetragen wird. Er scheint den Begriff Informationsgesellschaft ersetzen zu wollen. Nach Martin Heidenreich[10] werden dabei vier Hauptmerkmale herausgestellt: Die Bedeutung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, die Wissensproduktion als Faktor der Wirtschaft, die zunehmende Bedeutung schulischer Aus- und Weiterbildungsprozesse und die steigende Bedeutung wissens- und kommunikationsorientierter Dienstleistungen. Um welches Wissen es dabei geht, wird in Rückgriff auf Niklas Luhmann beschrieben als "veränderungsbereite", als wahr geltende kognitive Schemata, die den Umweltbezug sozialer und psychischer Systeme regeln. "Im Unterschied zu normativ stilisierten Erwartungen werden kognitiv stilisierte Erwartungen anhand von Erfahrungen überprüft und ggf. korrigiert." Ich versuche für mich diese sozialphilosophische Sprache in einen normalen Alltagsdiskurs zurückzuübersetzen und lande so ziemlich bei Gedanken, die vom Sprüchebuch her bekannt vorkommen, Wissen schafft Bildung, ist aber in einem lebenslangem Lernprozess zu bewähren und zu entwickeln. Wie kommt die Wissensgesellschaft dazu auf diesen Gedanken zurückzugreifen?

Dafür gibt es im Großen und Ganzen zwei Gründe, die schon angedeutet sind: Das Verständnis der Menschen in einer postmodernen, oder wie es auch heißt postindustrialisierten Gesellschaft und die Entwicklung der Wirtschaft, die Wissen immer stärker als Produktionsfaktor benötigt und auch mit einer immer höheren Kapitalbewertung versieht.

Die individualisierte Lebensform der Postmoderne gerät immer wieder in die Kritik. Die Abwendung von den Institutionen der Gesellschaft, worunter auch die Kirchen leiden, sei im Grunde auf Entsolidarisierung und puren Egoismus zurückzuführen. Undine Eberlein[11] setzt sich differenziert auch mit diesen sozialwissenschaftlichen Gedanken auseinander und sieht neuen Individualitätskonzepte zwischen Integration und Eigensinn. Das Konzept des Lebens wird auf dem Hintergrund postmodernen Denkens als romantischer Individualismus beschrieben, als "Bastelexistenz", mit zukunftsoffener und flexibler, sich dem Leistungsdruck in freier Welt beugender Existenz, die Brüche des Lebens als produktive Krise erlebend, wobei sich gegenüber dem herkömmlichen Konzept der Selbstfindung das der Selbstkonstruktion durchsetzt. Jeder und jede schreiben ihre Lebensgeschichte selbst. Die Abwendung vom traditionellen Gruppen- und Gesellschaftsdenken schließt aber neue Protestformen durchaus ein. Der Fundus herkömmlicher kultureller Identitäten ist nicht abgeschafft, sondern wird wahlweise in die eigene Lebenskonstruktion integriert.

Welche Bedeutung hat aber in diesem Zusammenhang der Erwerb von Wissen. Gesamtgesellschaftlich werden die Menschen damit zu ökonomisch mehr oder weniger interessanten Wissensträgern. Schon Karl Marx hat das Verschwinden des Produktionsfaktors Arbeit zugunsten des Faktors Wissen vorhergesehen, wie es Andre Gorz darstellt[12]. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich heute auch die Computersysteme als Wissensträger anbieten, so dass Wissen auch auf diesem Weg als Ware vermarktet werden kann. Im Zusammenhang des nachindustriellen Kapitalismus, übernimmt die Wirtschaft dabei allerdings auch die Verbreitung von Sinn über die Instrumente der Werbung und der Freizeitindustrie. Der lebenslange Lernprozess schließt ein, dass Freizeit nicht eigentlich von Arbeit frei ist, sondern die Fortsetzung der Arbeit mit anderen Mitteln. In der Erfassung des Lebens und in dem Wissen, was demnach ökonomisch gefragt ist sieht er den Vorrang rein mathematischen Wissens, das auch zur Idee der Beherrschbarkeit der Natur führt und Risiken sogar experimentell in Kauf zu nehmen scheint. Daneben scheint aber in der Wirtschaft eben nicht nur reines Fachwissen, sondern eher in der Freizeit erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten wichtig zu sein: "Kreativität, Fantasie, Beherrschung mehrer Sprachen, künstlerische Begabung usw.". In der Beschreibung von Wissen und Bildung ist daher zwischen formellen und informellen Wissen zu unterscheiden. Informelles Wissen kann nicht allein durch Unterricht gelernt werden, sondern ist Sache der Erziehung. Die Bildungspolitik hat diesem Rechnung zu tragen, so meint Gorz. "Es gilt den Erwerb von formellem, und informellem Wissen mit Erfahrungen und Erlebnissen zu verbinden, in denen sich der Bezug zur sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit, Sensibilität und Sprache, Austausch und Gemeinsinn entwickelt, aber auch das Bewusstsein des Unausgesprochenen und Unvermittelbaren im Hintergrund aller Erfahrungen..."[13]. An dieser Stelle ist religiöses Wissen und Kompetenz anzusiedeln, auch wenn er dies so nicht nennt. Die Unterscheidung formelles und informelles Wissen finde ich daher hilfreich, weil sich religiöse Bildung gerade an der Brücke dieser beiden ansiedeln kann. Die individuelle Existenz des Einzelnen ist von Gorz als Selbstentwicklungsarbeit beschrieben worden. "Die Produktion und Produktivität beruhen auf "Leistungen", die nicht mehr mit dem Maßstab der Arbeitszeit messbar sind. Sie mobilisieren ein "Wissen", das sowohl aus Fachkenntnissen als auch aus informellen persönlichen Fähigkeiten besteht. Diese Fähigkeiten lassen sich nicht in Ausbildungskursen erwerben. Man erwirbt sie vielmehr in spielerischen, künstlerischen und sportlichen Aktivitäten vor und außerhalb der Arbeit und entwickelt sie dann innerhalb der Arbeit weiter. ... Die Selbstentwicklungsarbeit ist im Leben von vielen zeitaufwändiger und für sie selbst wichtiger als die geleistete unmittelbare Produktionsarbeit."[14] Außerberufliche Aktivitäten, die der "Selbstentfaltung und Sinnsuche" dienen sind also durchaus gefragt.

Wenn der postmoderne Individualismus gar nicht so neu ist, sondern eher eine späte Auferstehung der Romantik, worunter auch Sören Kierkegaard zu rechnen wäre, wenn dazu gerade informelles Wissen geradezu nachgefragt und in betrieblichem Zusammenhang zwingend vorausgesetzt ist, dann wird die Vermittlung religiöser Inhalte als nötig erweisen, da Religion nötig ist um die Kontingenzerfahrungen des Lebens zu bewältigen. Wenn es gerade der Bastelexistenz wichtig ist, viele verschiedene Segmente im Lebensvollzug zu integrieren, dann wird es dabei, wenn ein solcher Lebensgeschichte zu denken beginnt, auch die Frage des Sinns gestellt und beantwortet werden müssen.

Um das Wissen, dass zur Sinnbildung und Sinnschaffung gebraucht wird, in dessen Rahmen nun auch religiöse Erfahrungen einzuordnen sind, näher zu umgreifen, scheint sicher der Begriff Orientierung anzubieten. Bischof Wolfgang Huber hat in seinem Vortrag beim Bildungskongress in Berlin 2004 in Aufnahme einer Unterscheidung des Philosophen Jürgen Mittelstraß den Begriff Orientierungswissen gewählt[15]. Obwohl er hier weitestgehend die EKD Studie einführt und erläutert geht er doch gerade hierin über sie hinaus. Um der Ort der Religion innerhalb solcher Orientierung näher zu beschreiben zeigt er auf, inwiefern Religion zur Bildung dazugehört: "Dass Religion zur allgemeinen Bildung gehört, gilt also nicht nur deshalb, weil sie für die geschichtliche Entwicklung unserer Kultur eine prägende Bedeutung hat. Es gilt zugleich, weil für den Umgang mit den großen gesellschaftlichen Zukunftsfragen wie auch für die Beantwortung persönlicher Existenzfragen auf ihr Potential nicht verzichtet werden kann."[16] Das gilt besonders für den Bereich der Werte: "Ohne eine Orientierung an Werten wird die sich immer schneller ändernde Lebenswirklichkeit mit ihrer Fülle stets neu verfügbarem Wissen zu einer Welt ohne Richtung und Ziel - sie verliert ihr menschliches Maß. ... In den Zusammenhang von Werten und Normen gehört schon allein phänomenologisch die Religion. Religiöse Orientierungen spielen bei der Ausbildung und der Kritik von Werten und Wertsystemen eine wichtige Rolle."[17] Die Bildung, die sich daraus ergibt muss neu konzeptioniert werden: "Es geht um ein Konzept von Bildung, das sich an dem christlichen Bild des Menschen orientiert, das jeden Mensch als Geschöpf Gottes, als Gott entsprechenden Menschen, als Ebenbild Gottes ansieht. Es geht davon aus, dass jeder Mensch kraft dieser Berufung dazu bestimmt ist, selbst Subjekt seiner Lebensgeschichte und seines Bildungsprozesses zu sein." Das dazu nötige Orientierungswissen kann in dem Bereich angesiedelt werden, der traditionell religiös geformt ist, oder anders gesagt: religiöses Wissen ist ein Teil des dazu nötigen Orientierungswissens.

Sicherlich wird die Bewältigung dieser Aufgabe in Zukunft nicht leichter als heute, aber sie hat ihren Ort. Einerseits werden noch weiterhin Menschen in ihrer Bastelexistenz sich von der Kirche insgesamt distanzieren, da sie ja vordergründig als gesellschaftliche Institution auftritt. Wenn sie dann aber trotzdem auch persönlich nach Sinn und Orientierung fragen, werden sie die Kirche als das entdecken, was Paul Tillich "Geistgemeinschaft" genannt hat[18]. Und die Kirche wird wiederum entdecken, wie hier schon Wolfgang Huber, das der praktisch gelebte Individualismus letztlich ebenfalls ein Produkt christlich geprägter Menschheitsgeschichte ist. Vor Gott steht jede und jeder prinzipiell als eine Einzelne, als ein Einzelner. Für jeden Menschen, der an seiner Lebensgeschichte arbeitet gilt doch der Satz Gottes an Abraham: "Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde." (Genesis 12, 1) Das Wissen darum, dass mehr noch als nach religiöser Bildung auch nach religiösem Wissen gefragt wird, scheint mir die Losung des Kirchentages 2005 in Hannover nahe zulegen: ""Wenn dein Kind dich morgen fragt... 5. Mose 6, 20". Die Aufteilung der Themenbereiche geht nicht so sehr auf die Frage nach der Vermittlung dieses Wissens ein, sondern zeigen eher eine Grundstruktur religiöser Didaktik: "Wie können wir glauben? Wie wollen wir leben? Wie sollen wir handeln?"[19] Der Kirchentag nimmt also genau die Fragen auf, um die es heute und in Zukunft immer mehr zu gehen hat, um die Grundfragen menschlicher Existenz im Horizont des Orientierungswissens, das in der Religion beheimatet ist.

Schluss

Bildungsfragen sind zur Zeit in der öffentlichen Diskussion. Die EKD hat sich rechtzeitig in die Diskussion eingeschaltet. Die Bedeutung der religiösen Bildung und religiösen Wissens betrifft jedoch nicht nur den innerkirchlichen Diskurs, sondern gehört ebenfalls in die Öffentlichkeit. Die Kirche wird um so mehr ernstgenommen, je weniger sie ihre eigene Identität preisgibt und je mehr sie ihre Inhalte in die Beschreibung des Bildungsverständnisses eingibt. Dies soll kein Appell sein, zur kirchlichen Formelsprache zurückzukehren, welche die EKD Studie hinter sich gelassen hat. Es geht vielmehr um den ehrlichen Dialog mit den Menschen in der Gesellschaft. Die Menschen fragen nach Sinn. Die Gesellschaft nimmt alle Impulse auf, die ihr in der Frage nach Orientierung angeboten werden, religiöse Antworten eingeschlossen. Daher appelliere ich dafür, dass sich die Kirche um die Vermehrung des religiösen Wissens bemüht und so, wie es schon im Sprüchebuch heißt, junge Menschen zu Klugheit und Besonnenheit führt.

Anmerkungen
  1. Nennungen der PISA Studie in der EKD Denkschrift, Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Gütersloh 2003 u.a.: "PISA - eine mehrfache Herausforderung" S. 12ff, "PISA konzentriert sich ...auf sprachlich – literarische, mathematische und naturwissenschaftliche Grundkompetenzen S. 14, "Die hier (EKD) angesprochenen Kompetenzen gehe über die von PISA untersuchte Grundbildung hinaus." S. 21
  2. Parallel zu dem hier zitierten Text verwende ich die Übersetzung der Einheitsübersetzung, das sie den Urtext sprachlich genauer wiedergibt.
  3. Siehe Anmerkung 1. Ich zitiere die Studie im Text von nun an mit der Abkürzung "EKD".
  4. Die hier genannten Stichworte werden im 4. Kapitel unter der Überschrift "Zeitgemäße Bildung" näher ausgeführt: EKD S. 66 – 88
  5. Friedrich Schweitzer, (Hrsg.): Der Bildungsauftrag des Protestantismus. Gütersloh 2002
  6. ThLZ 129. Jhg. 7/8 2004, Sp. 841
  7. Eine gute Auseinandersetzung mit dieser Frage ist die Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Mülheim an der Ruhr: Frank Vogelsang (Hrsg.) "Die Furcht des Herrn ist aller Weisheit Anfang". Mülheim an der Ruhr 2003.
  8. Die neue Echter Bibel. H. F. Fuhs. Sprichwörter. Würzburg 2001, S. 23
  9. Die Artikel von André Gorz (siehe Anmerkung 12) und Martin Heidenreich (siehe Anmerkung 10) finden sich neben weiteren Literaturlinks auf der Seite www.wissensgesellschaft.org/themen/orientierung/orientierung.html; der Artikel von Undine Eberlein (siehe Anmerkung 11) findet sich auf der Seite www.wissensgesellschaft.org/themen/risiko/risiko.html.
  10. Martin Heidenreich. Merkmale der Wissensgesellschaft. www.uni-bamberg.de/sowi/europastudien/dokumente/blk.pdf
  11. Undine Eberlein. Neue Individualitätskonzepte zwischen Integration und Eigensinn - sozialwissenschaftliche und sozialphilosophische Überlegungen. www.wissensgesellschaft.org/themen/risiko/individual.pdf
  12. Adre Gorz. Welches Wissen? Welche Gesellschaft? www.wissensgesellschaft.org/themen/orientierung/welchegesellschaft.pdf auch in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Gut zu Wissen. Westfälsiches Dampfboot 2002.
  13. Andre Gorz a.a.O.
  14. Andre Gorz a.a.O.
  15. Wolfgang Huber. Wissen - Werten - Handeln. Welches Orientierungswissen gehört zur Bildung? Vortrag zur Bildungskonferenz Berlin 2004. www.ekd.de/studium_bildung/4177_38092.html
  16. Wolfgang Huber a.a.O.
  17. Wolfgang Huber a.a.O.
  18. bes. in Paul Tillich. Systematisch Theologie III. Stuttgart 1966, S. 282 - 285
  19. Einladung zum 30. Deutschen Evangelischen Kirchentag Hannover 2005, www.kirchentag.de

© Christoph Fleischer 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 32/2004
https://www.theomag.de/32/cf1.htm

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