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Magazin für Theologie und Ästhetik


Autonome Kunst und kirchlicher Auftrag

Eine Erinnerung an Johannes Paul II.

Horst Schwebel

Der Tod von Papst Johannes Paul II. hat in den Medien eine Fülle von Kommentaren und Bewertungen hervorgerufen. Man kann zur Bedeutung von Johannes Paul II. sicher ziemlich unterschiedliche Urteile fällen, insbesondere was seine kirchliche, interkonfessionelle und interreligiöse Lebensleistung betrifft. Im Blick auf das Themenfeld des Magazins für Theologie und Ästhetik gilt es aber, eines besonders herauszustellen: Johannes Paul II. war der erste Papst, der die Autonomie der Künste uneingeschränkt begrüßt und bejaht hat. Das mag damit zusammen hängen, dass er selbst lange Zeit als Künstler tätig war, aber in der Atmosphäre der ausgehenden 70-Jahre war seine Haltung doch etwas Besonderes. Das wird vor allem an dem Text deutlich, den wir im Folgenden vorstellen und der wenige Jahre nach der Papstrede an die Künstler in der Münchener Residenz deren Bedeutung zusammenfasst. 1984 erschienen, macht er den Bruch deutlich, der in der Anerkenntnis der Autonomie für die Kirche liegt. Wir danken Horst Schwebel, dass er uns die Erlaubnis zum Wiederabdruck des Artikels gegeben hat. Der Artikel erscheint hier in gekürzter und zugleich um einige Papstzitate erweiterter Form.
[Die Redaktion]


1. Offizielle Verlautbarungen aus dem Bereich der römisch-katholischen Kirche

Als Papst Johannes Paul II. anlässlich seiner Deutschlandreise 1980 vor Künstlern und Publizisten in der Münchner Residenz von der Autonomie der Kunst sprach, fanden diese Ausführungen große Beachtung [1]. Dass es seit etwa 1800 zur Emanzipation der Kunst aus der Kirche gekommen ist, die in der Folge zu einer weitreichenden Trennung der beiden Bereiche geführt hat, ist unumstritten. Wie allerdings diese Entwicklung theologisch einzuschätzen sei - ob negativ oder positiv -, darüber bestand und besteht keinerlei Einvernehmen. Aufklärung, Säkularisierung, Industrialisierung, technische Welt bekamen in kirchlichen Kreisen überwiegend die Schuld zugeschrieben für die zunehmende Entkirchlichung, den Verfall der Sitten und die "Not der Seelen". Nur vereinzelt regten sich Kräfte, die den Prozess der Säkularisierung positiv zu deuten verstanden und in ihr gar - wie Gogarten - die "notwendige und legitime Folge des christlichen Glaubens" sahen.[2] Die Entwicklung der Kunst diente in diesem Zusammenhang als visueller Beleg für den Verlust des Maßes, des Glaubens und der Mitte mit seinen sozusagen "katastrophalen" Folgen[3]. Autonomie der Kunst meinte eben jenen theologisch überwiegend negativ bewerteten Schritt aus der christlich geprägten Bildwelt in eine vermeintliche, als Niemandsland gedeutete Freiheit. Wollte der Papst in seiner Rede von der Autonomie der Kunst die negative Einschätzung fortsetzen? Oder wollte er gar zu einer Wende im Umgang mit diesem umstrittenen Begriff aufrufen?

a) Positionspapier der Deutschen Bischofskonferenz

Bevor wir uns den Ausführungen des Papstes zuwenden, wollen wir uns die "Anmerkungen und Empfehlungen zum Verhältnis von Kirche und Kunst in der Gegenwart" vergegenwärtigen, die von der Kommission der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen der Wissenschaft und Kultur Anfang 1980 vorgelegt wurden[4].

Die "Anmerkungen" gehen von der Feststellung aus, dass "die historische Verbindung zwischen Kirche und Kunst, zwischen christlichem Glauben und künstlerischer Gestaltung... in der Neuzeit fortschreitend aufgelöst worden" ist (S. 71). "Die Säkularisierung", so heißt es weiter, "hat auch die verschiedenen Ausdrucksformen der Kunst erfasst. Religiöse Motive und Anregungen spielen in der modernen Kunst nur eine untergeordnete Rolle; gelegentlich werden sie als bloße historische Reminiszenz, manchmal in herausfordernder oder sogar blasphemischer Weise aufgegriffen. Eine positive Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben ist sowohl in den traditionellen wie auch in den vielgestaltigen neuen Kunstformen nur selten anzutreffen" (ebd.).

Welches sind die Gründe des Auseinandertretens? "Im Zusammenhang mit der neuzeitlichen geistesgeschichtlichen Entwicklung hat sich auch die moderne Kunst in ihren verschiedenen Sparten nicht dem dominierenden Einfluss des wissenschaftlich-technischen Denkens und der alle Lebensbereiche erfassenden Intellektualisierung entziehen können (und wollen)" (ebd.). Es wird davon gesprochen, dass das vordem einheitliche Welt- und Menschenbild verloren gegangen sei und der Mensch auf Rationalität und Funktionalität eingeengt werde. "Die so entstehende partikularistische Sicht der Menschen und der Welt hat eine einschneidende Reduzierung des humanen Selbstverständnisses zur Folge, die sich in allen Lebensbereichen und nicht zuletzt auch im künstlerischen Schaffen niederschlägt. Die Auflösung eines umfassenden Menschenbildes, das der vollen Wirklichkeit gerecht wird und in gewissem Rahmen auch leitbildhaft wirken kann, ist in der Entwicklung der modernen Kunst ständig fortgeschritten" (ebd.).

Doch nicht nur dies: Da der Mensch Gottes Ebenbild ist, bedeutet die Zerstörung des Menschenbildes auch eine Zerstörung des Gottesbildes. Die Kommission kommt zu der unfruchtbaren Gegenüberstellung von der "Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen" einerseits und den pluralen unterschiedlichen Menschenbildern der Gegenwartskunst. Vom "modernen Menschen" führt kein Weg zur Gottesebenbildlichkeit. Das liegt an seiner Autonomie. "Die Ablösung der Kunst von ihren religiösen Wurzeln und ihre Entlassung in eine von keinen inhaltlichen oder formalen Begrenzungen eingeschränkte Autonomie haben ihr nicht nur neue Möglichkeiten erschlossen, sondern zugleich wesentliche Quellen der Erneuerung verschüttet" (ebd.). Es handelt sich um ein eindeutig antimodernistisches Positionspapier, das die Gegenwart als gottentleert begreift, weil sich in ihr eine bestimmte Vorstellung vom Menschen (und von Gott) nicht verwirklichen lässt. Das Erstaunliche an dieser Position ist weniger das altbekannte Denkschema des "Verlustes der Mitte", als der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung -Frühjahr 1980 - und die kommentarlose Präsentation in der Kunstzeitschrift "Das Münster". Es wird immerhin der Kunst der letzten 200 Jahre aufgrund ihrer Autonomie der Anspruch, in ihren Erscheinungsformen Wahrheit zu bergen, von Grund auf bestritten. Von Transzendenz zu reden, Phänomene von Transzendenz in der Gegenwartskunst aufzuzeigen - wie es beispielsweise Günter Rombold, Wieland Schmied und andere tun - wäre hierzu die Gegenposition (siehe S. 112, 232).

Was ist nun von Seiten der Kirche zu tun, wenn die Kunst - wie die Kommission der Deutschen Bischofskonferenz unterstellt - dem Christlichen in solcher Weise entgegengesetzt ist? "Von Kirche und Theologie ... sollten ... mehr als bisher Anstrengungen unternommen werden, um zu einer Klärung der entstandenen Unsicherheit beizutragen" (ebd.). Das heißt: Die Kirche wird auf ihre Mitverantwortlichkeit angesprochen. Ihre Aufgabe wäre es, dem negativen Zustand mit Hilfe von christlicher Kunst entgegenzuwirken. Hierzu werden verschiedene "Empfehlungen" (S. 72) ausgesprochen, unter anderen auch diese, dass "zur Förderung des theologischen Grundwissens und des liturgischen Verständnisses der Künstler auf verschiedenen Ebenen geeignete Bildungsmaßnahmen entwickelt werden" sollen (ebd.). Zwischen einer "christlichen" und einer "profanen" Kunst wird in dem Kommissionspapier deutlich unterschieden. Mag es zwischen beiden auch Berührungen geben, die Kunst in der Kirche kann nur eine christliche sein: "Die christliche Kunst zielt bei aller Eigengesetzlichkeit und Unterschiedlichkeit der Künstler und ihrer Werke letztlich darauf ab, an dem apostolischen Auftrag der Kirche mitzuwirken und Christus als den Menschen bildhaft zu verkünden" (S. 71). Für die autonome Kunst träfe dies nicht zu.

b) Rede des Papstes im Herkulessaal in München

Die Rede des Papstes im Herkulessaal setzt demgegenüber den Schwerpunkt anders. Auch Johannes Paul konstatiert, dass sich seit 1800 "die Verbindung von Kirche und Kultur und damit von Kirche und Kunst" gelockert habe.[5] "Das geschah im Namen der Autonomie und wurde im Namen einer fortschreitenden Säkularisierung verschärft" (ebd.) Er stellt weiter fest, dass dies zu einer gegenseitigen Entfremdung von Kultur und Christentum geführt habe. "Die Haltung der Kirche war Abwehr, Distanzierung und Widerspruch des christlichen Glaubens" (ebd.).

Spricht der Papst von einem "war", legt dies die Vermutung nahe, dass die gegenwärtige Einstellung der Kirche zur Kunst nunmehr eine andere sei. In der Tat: "Eine grundsätzliche neue Beziehung von Kirche und Welt, von Kirche und moderner Kultur und damit auch von Kirche und Kunst wurde durch das Zweite Vatikanische Konzil geschaffen und grundgelegt. Man kann sie bezeichnen als Beziehung der Zuwendung, der Öffnung, des Dialogs. Damit ist verbunden die Zuwendung zum Heute, das 'Aggiornamento'" (ebd.).

Worin besteht das Neue dieser Einstellung? Dies lässt sich auf die Kurzfassung bringen: Der Begriff der Autonomie, der bisher in offiziellen kirchlichen Verlautbarungen eindeutig negativ bestimmt war, gewinnt nun eine theologisch positive Füllung. Wörtlich sagt der Papst: "Die Welt ist eine eigenständige Wirklichkeit, sie hat ihre Eigengesetzlichkeit. Davon ist auch die Autonomie der Kultur und mit ihr die der Kunst betroffen. Diese Autonomie ist, recht verstanden, kein Protest gegen Gott und gegen die Aussagen des christlichen Glaubens; sie ist vielmehr der Ausdruck dessen, dass die Welt Gottes eigene, in die Freiheit entlassene Schöpfung ist, dem Menschen zur Kultur und Verantwortung übergeben und anvertraut." Vergleicht man diese Ausführungen mit früheren Wertungen - einschließlich der der Kommission der Deutschen Bischofskonferenz -, so kann man sie werten "als kühne Neuerung und als eine progressive Öffnung der Kirche zur zeitgenössischen Kunst" (Herbert Schade).6 Kunst und Künstler werden weder beschimpft, noch des Widerchristlichen verdächtigt, sondern werden als "Partner" auf ihre "Partnerschaft" hin angesprochen (S. 39). Ihr gemeinsames Thema ist der Mensch. Geht es der Kirche um die Vermittlung von Jesus Christus als dem "wahre(n) und eigentliche(n) Bild des Menschen und des Menschlichen" (ebd.), so stellt die Kunst vor allem die Spannungen und Verstrickungen des Menschen in den Vordergrund.

Selbst die Darstellung des Bösen in der Kunst wird vom Papst nicht perhorresziert. "Ohne die Realität des Bösen ist auch die Realität des Guten, der Erlösung, der Gnade, des Heils nicht zu ermessen. Das ist kein Freibrief für das Böse, aber ein Hinweis auf seinen Ort" (S. 40). Indem das Böse in seiner Realität aufgezeigt wird, vermag es zur Erschütterung und zur Umkehr gemahnen. Insofern gewinnt der Papst auch solchen Kunstwerken einen Wert ab, die man vorab verdammt hätte. In der Zuordnung von Gegenwartskunst und christlicher Verkündigung bedient sich Johannes Paul des von Tillich entwickelten Korrelationsverfahren. Kultur und Wort Gottes stehen im Verhältnis von Frage und Antwort.

"Wenn der christliche Glaube als Wort und als Antwort für die Menschen vermittelt werden soll, dann müssen die Fragen dazu genannt und bewusst gemacht werden" (Johannes Paul II., ebd.). Ist "die Kirche auf das 'Aggiornamento', das Heutigwerden des christlichen Glaubens" (ebd.) bedacht, dann braucht sie die Kunst zum Verstehen der Situation und zur Vermittlung der Botschaft. Die Bejahung der Autonomie der Kunst erfolgt auf der Grundlage der Erkenntnis, dass die Vermittlung der Botschaft sich im Heute vollzieht und die theologische Wertung das Heute nicht als Abfall von der heilen Welt des Früheren begreift, sondern als den Kulminationspunkt der geistigen Auseinandersetzung zwischen Glaube und Unglaube, Wahrheit und Irrtum.

c) Vergleich der Äußerungen

Vergleicht man die von der Kommission der Deutschen Bischofskonferenz vertretene Position mit der des Papstes im Herkulessaal, so lässt sich nicht leugnen, dass beide in einem nicht unbeträchtlichen Spannungsverhältnis zueinander stehen.

1. Im Kommissionspapier wird die Autonomie der Kunst negativ bewertet, in der Papstrede positiv.

2. Das Kommissionspapier beschreibt das Verhältnis von Kirche und Kunst als eines der Heranführung und Belehrung der Kunst durch die Kirche. Beim Papst ist von gegenseitiger Partnerschaft die Rede.

3. Im Kommissionspapier wird das Negative der Kunst mit Begriffen wie "Verachtung der Menschenwürde und der personalen Werte" zusammengesehen. Für den Papst ist selbst die Darstellung des Bösen notwendig.

4. Trennt die Kommission der Deutschen Bischofskonferenz die Kunst in eine profane (autonome) und eine christliche, wobei nur die letztere von der Kirche bejaht wird, verzichtet der Papst auf eine solche Unterscheidung. Bei ihm begegnet weder der Begriff einer "christlichen Kunst", noch bedient er sich des Begriffspaares "sakral - profan".

Überwindung der Isolation

Einen Außenstehenden mag eine solche Diskrepanz überraschen. Vielleicht hat er sogar den Verdacht, es handele sich um Haarspalterei, denn beide, die Kommission der Deutschen Bischofskonferenz und der Papst, meinten letztlich dasselbe. Gewiss mag es eine Betrachtungsweise geben, die den Gegensatz überhöht. Für den Umgang mit Gegenwartskunst ergibt sich aber eine jeweils andere Praxis.

Die Kommission der Bischofskonferenz hält zur Gegenwartskunst Distanz bzw. lehnt sie massiv ab, während sie sich andererseits für eine christliche Kunst ausspricht. Beim Papst kommt es zu einer Anerkennung der Gegenwartskunst in ihrer Autonomie, ohne dass über die praktische Einbeziehung dieser Kunst in der Kirche etwas gesagt würde. Für denjenigen, der den Umgang der Kirche mit Kunst in den letzten Jahren verfolgt hat, ist dieser Gegensatz altbekannt.

So wie aus der Sicht einer bestimmt geprägten Kirchlichkeit die Gegenwartskunst in ihrer Autonomie negativ bewertet wird, genießt umgekehrt die "Kunst im kirchlichen Raum" keine allzu hohe Wertschätzung. Eberhard Roters schreibt dazu: "Jener Begriff ist eben negativ zu werten, denn er kennzeichnet unter der Hand eine Neigung zur Selbstgettoisierung. Die Kirchenbaukunst unserer Zeit hat sich - das gilt selbstverständlich mit bedeutenden Ausnahmen - aus dem Bedürfnis nach Gestaltung des kultischen Kunsthandwerks auf den Umgang mit einer Kunst zurückgezogen, die im landläufigen Sinne 'geschmackvoll' ist und die daher niemandem wehtut, die, mit anderen Worten, an die Gemeinde keine Anforderungen stellt und niemanden aus seiner Behäbigkeit herausreißt."[7]

Man wird daher verstehen, wenn immer wieder Personen aus der Kirche auftreten, die darum bemüht sind, die - um mit Roters zu sprechen - "Selbstgettoisierung" zu durchbrechen und den Anschluss an die Gegenwartsströmungen wiederherzustellen. Modelle dieser Art sind die Arbeit der Zeitschrift "Kunst und Kirche", die Initiativen der französischen Dominikaner nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Patres Couturier und Regamey, Monsignore Mauer mit der Galerie nebst St. Stephan in Wien, die Ausstellungen und Lehrtätigkeit von Herbert Muck sowie die Ausstellungen der Minoriten in Graz, auf evangelischer Seite der Arbeitsausschuss des Evangelischen Kirchbautags unter Oskar Söhngen und Rainer Volp, sodann Peter Poscharsky und seine Mitarbeiter (Universität Erlangen), Paul Gräb mit dem Öflinger Modell, Hans Roser in Roth, Hartmut Winde an der Gnadenkirche in Hamburg, Ulrich Arnold vom Kunstdienst Hamburg, Waldemar Wucher in Arnoldstein sowie das Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart in Marburg, um wenigstens einige zu nennen. Ein Höhepunkt dieser Initiativen des Brückenschlags war die beim Berliner Katholikentag von Wieland Schmied inszenierte Ausstellung "Zeichen des Glaubens - Geist der Avantgarde"[8]. In dieser Ausstellung wurde die religiöse Dimension als bestimmende Komponente der Kunst der Moderne aufgezeigt, wobei zum ersten Mal ein umfassender Überblick gewährt wurde von Van Gogh, Gauguin und den Symbolisten über Nolde, Marc, Klee, Kandinsky, Mondrian, die abstrakte Malerei, Rouault und Chagall bis hin zu Bacon, Beuys, Rainer, Rothko, Barnett Newman und anderen. Den "inneren Zusammenhalt der versammelten Werke" sieht Wieland Schmied in der "Spiritualität ... als dem geheimen Kennzeichen aller wahrhaft großen Kunst dieses Jahrhunderts".[9] Ist es nicht Blasphemie, den theologisch belasteten Begriff der Spiritualität mit den Erscheinungsformen moderner Kunst in Verbindung zu bringen? Versteht man unter Spiritualität die Gestaltwerdung des Christlichen, so vollzieht sich diese Gestaltwerdung immer in Formen des kulturellen Ausdrucks: in Sprache, Bild, Musik usw. Für die Christen der ersten Jahrhunderte stellte sich beispielsweise die Frage, inwieweit kulturelle Ausdrucksformen ihrer eigenen Zeit befähigt seien, Zeichen des Christusgeheimnisses zu werden. So wählten sie beispielsweise den Hirten, Orpheus, die Orante, das Bild des Philosophen, später sogar das Kaiserbild und das kaiserliche Hofzeremoniell, um die Hoheit Christi und das gottesdienstliche Geheimnis zum Ausdruck zu bringen. Solche Bilder oder Riten schienen ihnen ausdrucksmächtig, so dass sie Träger des christlichen Gehaltes werden konnten. Man könnte es auch anders sagen: Die Ausdrucksformen waren für das Geheimnis geöffnet, sie waren transparent für das Wirken des Geistes, sie waren spirituell. Ob sie es noch heute sind - Hirte, Orpheus, die Orante, das Bild des Philosophen und das Kaiserbild als Christus Pantokrator -, mag in Frage stehen. Ich würde es für alle genannten Beispiele für die heutige Zeit verneinen, während es im 4. Jahrhundert und auch später noch so war. Der Gegenwart ist freilich aufgegeben, die Formen von Spiritualität, das heißt, die Form von Transparenz für den Geist im Ausdruck gegenwärtiger Kultur ausfindig zu machen. Das kann nicht dadurch geschehen, dass man im Arsenal ehemals machtvoller, inzwischen aber abgestorbener Symbole das eine oder andere wieder zum Leben zu erwecken versucht. Insofern ist Wieland Schmieds Hinweis auf die Spiritualität - im eben definierten Sinn - als Hinweis auf die Transparenz des künstlerischen Ausdrucks für das göttliche Geheimnis ein Brückenschlag zwischen Gegenwartskunst und gegenwärtigem Glauben. Bedient sich Wieland Schmied des Begriffs "Spiritualität", so nimmt dieser Begriff die gleiche Brückenschlagfunktion wahr wie der Begriff "Symbol" bei Rainer Volp: "Denn das Symbol macht uns darauf aufmerksam, dass, wie die Bauernschuhe Van Goghs oder eine Komposition von Wols demonstrieren, in der verachteten Gestalt das Wesen unserer eigenen Geschichtlichkeit aufleuchten kann. Und diese ist es ja, die den Theologen wie den Künstler angeht, denn in sie hinein hat sich Gott verborgen".[10] Günter Rombold bevorzugt hingegen den Begriff der "Transzendenz" und entwirft anhand der Analyse der Gegenwartskunst eine Phänomenologie des Transzendierens.[11]

Diese Versuche, die Isolation zu überwinden und eine Brücke zur Gegenwartskunst zu schlagen, werden innerkirchlich zum Teil mit Misstrauen begleitet. Wo sich das Interesse an der "Spiritualität", der "Symbolik", der "Transzendenz" der Gegenwartskunst konzentriert, wird die christliche Kunst als Kunstausübung zweiter Wahl begriffen. Dazu Günter Rombold: "Zum erstenmal in der Geschichte der abendländischen Kunst übernimmt die profane Kunst die Führung: Ihr wenden sich die stärkeren Begabungen zu, in ihr finden sich die wichtigsten Neuerungen und fallen die bedeutendsten Entscheidungen. >Kirchliche< Kunst wird mehr und mehr ein Sonderbereich für zweitrangige Begabungen. Doch häufig dringen nicht einmal sie durch; das gläubige Volk und seine biederen Pfarrer bevorzugen den Kitsch."[12] Mag es für die Vertreter der autonomen Kunst unbefriedigend sein, dass ihre Werke kaum zum kirchlichen Raum Zugang bekommen, für die Vertreter der kirchlichen Kunst ist es ebenso unbefriedigend, der zweiten Garnitur oder gar dem Inferioren zugerechnet zu werden.

Anmerkungen
  1. Die Rede des Papstes ist abgedruckt in Kunst und Kirche 1/1981, S. 38-41, unter dem Titel »Braucht die Kunst die Kirche?« - Dazu: Herbert Schade SJ, Kirche und autonome Kunst. Zur Neubestimmung der Beziehung zwischen Kirche und Kunst, im Halbjahresheft 4/1983 der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst, München, S. 2-9; zuvor abgedruckt in: Stimmen der Zeit 10/1982.
  2. These des Buches von Friedrich Gegarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, Göttingen 1953.
  3. Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Salzburg 19515. Herbert Schade, a. a. 0. veranschaulicht dieses Denkmodell in seinem oben erwähnten Aufsatz, vor allem in der Wiedergabe der kirchlichen Stellungnahme auf S. 3. Positiv dagegen: Hans Maier (Hrsg.), Kirche, Wirklichkeit und Kunst, Mainz 1980.
  4. Anmerkungen und Empfehlungen zum Verhältnis von Kirche und Kunst in der Gegenwart, in: Das Münster 1/1980, S. 71 f.
  5. a.a.O., S. 39.
  6. Schade, a.a.O., S. 2.
  7. Eberhard Roters, Imago- Das künstlerische Credo, Kunst und Kirche 3/1983, S. 130-132, Zit. S. 132.
  8. Wieland Schmied (Hrsg.), Zeichen des Glaubens -Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1980.
  9. Wieland Schmied, Spiritualität in der Kunst des 20. Jahrhunderts, in: Internationale katholische Zeitschrift »Communio« 1/1983, S. 73-90, Zit. S. 90.
  10. Rainer Volp, Das Kunstwerk als Symbol. Ein theologischer Beitrag zur Interpretation der bildenden Kunst. Gütersloh 1966, S. 230.
  11. Günter Rombold, Transzendenz in der modernen Kunst, in: Zeichen des Glaubens - Geist der Avantgarde, a. a. 0. (Anm. 8), S. 14-27.
  12. Günter Rombold, Kunst-Protest und Verheißung, Linz1976,S. 71.

© Horst Schwebel 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 34/2005
https://www.theomag.de/34/hs2.htm