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Magazin für Theologie und Ästhetik


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Massive Attack

Karin Wendt

realiter

Man kann in der Absicht sprechen und handeln, sich und andere aufzuklären. Dass sich etwas aufgeklärt hat, dass etwas jenseits eines entfremdenden Gebrauchs klarer, verständlich oder sogar in seiner genuinen Bedeutung sichtbar geworden ist, zeigt sich uns jedoch immer nur indirekt, dann, wenn wir uns mit den Formen auseinandersetzen, die unser Handeln und Denken in der Zeit annimmt. Aufklärung spiegelt sich insofern in unserer Be- und Verarbeitung von Wirklichkeit. Eine Form, Wirklichkeit zu bearbeiten, ist zu simulieren. Indem wir einzelne Komponenten herausgreifen, konstellieren oder ganze Szenarien nachstellen, erhoffen wir uns Erkenntnisse darüber, wie es in Wirklichkeit ist. Simulation wäre also die fortwährende Annäherung an das, was wir als das Wirkliche voraussetzend annehmen. Im ethischen Fokus birgt das Simulieren die Möglichkeit einer Entfernung vom Wirklichen, indem wir uns vom Handeln mit Konsequenzen frei halten. Entgegen diesen eher traditionellen Perspektivierungen von Erkenntnisleistung und der Gefahr moralischer Indifferenz gibt es den konstruktivistischen Zweifel daran, dass es überhaupt möglich ist, Simulation zu den beiden Bereichen der Wirklichkeit in ein Verhältnis zu setzen. An dieser Möglichkeit grundsätzlich zu zweifeln, heißt den damit verbundenen Gegensatz selbst als fiktiv zu bestimmen. Fiktiv ist der Gegensatz von Simulation und Wirklichkeit insofern, als er eine Erkenntnis des Wirklichen jenseits des Simulierten voraussetzt. Wenn sich Wirklichkeit jedoch immer nur in der Annäherung erschließt, ist Simulation konstitutiver Bestandteil jedes Erkennens. Wenn also mindestens unklar ist, wie weit das Simulierte Teil unserer Wirklichkeit (geworden) ist, dann müsste man vielleicht noch einmal einen Schritt zurücktreten und fragen: Was begreifen wir, wenn wir die Entscheidung darüber offen lassen? Mit anderen Worten, nicht danach fragen, wie Simulation zu denken ist, sondern wie wir denken, wenn wir im Kontext von Simulationen denken. Welche Erfahrungen machen wir? Meine Vermutung ist, dass sich traditionelle Vermittlungsformen im Medienumfeld so verändern können, dass sich in bisher eindimensionale Vermittlungsprozesse eine explizite mediale Differenz einträgt, die nicht als defizitäres Moment sondern als Intensivierung von Gegenwart erfahren wird.

Ein Beispiel dafür, wie durch das gezielte Arbeiten mit den Medien eine Intensivierung der Präsentation erreicht werden kann, ist das Projekt "100th Window" (2003) der Band Massive Attack, eine mediale Vernetzung von Bühnenshow und Webauftritt.

Fenster zur Welt

Mittlerweile ist nahezu jede Musikband auch mit einer Homepage im Netz vertreten. Immer deutlicher unterscheiden sich aber die eher statisch aufgebauten Seiten, die mit Nachrichten, Foren, Chats, Online-Shops und Download-Angeboten eine Art Clubraum für ihre Mitglieder zur Verfügung stellen, von solchen, die über Flashprogrammierung ein eigenes, speziell auf das Internet zugeschnittenes Präsentationskonzept entwickeln, das dem Image der Band entsprechen soll.

Schon relativ früh nutzten Massive Attack das Internet als Aktionsraum, um Promotion und soziales Engagement zu verbinden. Im April 2000 gaben sie die Erlaubnis, dass ihr Track "Angel", der Opener des Albums "Mezzanine" (1998), in einer weltweiten Werbekampagne für das Armani Duftwasser "He/She" benutzt wurde und leiteten alle Einnahmen direkt an das Rote Kreuz weiter. Ein Teil der Gelder floss zusätzlich in den Beira-Fond, einen Hilfsfond, den die Stadt Bristol für die Partnerstadt Beira in Mozambique in Folge einer Überschwemmung eingerichtet hatte. Das gespendete Geld sollte dort für den Wiederaufbau von Schulen verwendet werden.[1] Im November desselben Jahres bot die Band zusammen mit dem Magazin Musical Express, dem britischen Roten Kreuz und Photographer's Gallery auf verschiedenen Seiten "rares Material wie B-Seiten und Remixe" sowie ein neues Stück an, deren Erlös erneut dem Roten Kreuz zukam. Zwei von den Bandmitgliedern stellten sich im Zuge der Initiative einem Chat zur Diskussion.[2]

Anlässlich ihrer Welttournee 2003 entschied sich die Gruppe anstelle einer Aktion für ein ästhetisches Statement zur Globalisierung.

Ziel des Projekts "100th Window" war eine spektakulär angelegte Bühnenshow, die erstmals verschiedene interaktive Elemente in den Konzertauftritt integrieren sollte. Die Frage war, wie sich die Tatsache der fortwährenden statistischen Erfassung und auch verfälschenden Darstellung aller Lebensbereiche durch die Medien so visualisieren ließe, dass der Prozess selbst Teil der Performance würde. Zusammen mit den Videokünstlern Chris Bird und Matt Clard von United Visual Artists (UVA) erarbeiteten Massive Attack ein Konzept, das vorsah, digitale Informationen und Statistiken in Sekundenschnelle aus dem Internet auf einem Bildschirm zu laden. Die entsprechende Software "Mosquito" wurde von der Firma Autopilot entwickelt.

Mit Beginn des Konzerts wurden auf eine riesige LED-Wand an der Rückwand der Bühne in betäubender Geschwindigkeit Statistiken, Zahlen und Nachrichten eingespielt. "The show's content included up-to-the-minute statistics on hot political issues like Iraq under occupation, weapons inventories, escalating costs of war and defence, the price of oil, the stock market, what's being spent where, and many other unsavoury elements of global capitalism and unilateral military action."[3] Wie man es von Infoscreens auf Bahnhöfen oder Flughafen kennt, tickerten die Informationen unaufhörlich in grellen wechselnden Farben über den Bildschirm, der zeitweilig als einzige Lichtquelle diente, so dass die Schattenumrisse der Spieler zu dunklen Rastern im Bildfeld wurden. Über Video wurde der Text zu beweglichen Mustern moduliert und vice versa, so dass Bild und Text reklameartig ineinander glitten und wieder auseinander. Jede Show nahm Bezug auf den konkreten Auftrittsort, indem der hochgeladene Text in die jeweilige Landessprache übersetzt wurde. Die Updates von seinem Laptop auf die Showcomputer machte Chris Bird ungefähr 30 Minuten vor Beginn des Konzerts, so dass aktuellste Nachrichten die Show begleiteten, vom Wetter bis zum Ergebnis des gerade laufenden Fußballspiels. So wurden gerade stattfindende Ereignisse Teil der Choreographie. Die Übertragung in Echtzeit war entscheidend, weil sich nur so Aufführung und weltweite Ereignisse wechselseitig als gerade stattfindende und mithin als (eigene) Lebenszeit erschließen konnten. So blieb der Kontext, dem die Informationen entnommen waren, real und die Informationsflut wurde nicth zum Dekor. Sie erschien vielmehr die Dislozierung in einen sound- und videoästhetischen Kontext als real message. "Using textual information to make points is a hardcore, confrontational and very direct way of communicating with an audience, especially in an entertainment context. The effect is truly shocking. There are no reassurances of fluffy pretty abstract graphics or banal I-Mag images - it's painful, real and highly emotional."

Online on stage

Mit Beginn der Konzertreihe sollte auch ein Relaunch im Netz stattfinden, der beide Orte miteinander vernetzte, so dass der Konzertscreen und die Website jeweils als eine Art Interface zwischen Konzertbesuchern und Webcommunity fungieren würden. Fans konnten auf der Homepage Nachrichten hinterlassen, die in die laufende Show eingespielt wurden. Heute gibt es neben der Hauptseite http://www.massiveattack.co.uk/ noch einen Ableger www.100thwindow.com, der ursprünglich als eine Art Appetizer gedacht war und entgegen der ursprünglichen Absicht nicht vom Netz genommen wurde. Hier können User weiterhin Emails zu bestimmten Konzerten senden, die dann vor Ort eingespielt werden.

Für den Online-Auftritt zeichnet die Flash Design Firma Hi-ReS ( www.hi-res.net) verantwortlich. Zum Konzept, das sie zusammen mit Robert Del Naja und Marc Picken entwickelt haben, schreiben sie: "Launched to coincide with the launch of Massive Attack's fourth album '100thWindow', the site was always meant to be a two faced site, innocence and experience, a flat site and an immersive site (to access the immersive experience, type '100thwindow' in the blinking command prompt the bottom left corner or wait for the "flame-man" to descend from above). The experience part of the site was always meant to be hidden away to some extent, sometimes surfacing, always lurking beneath the flat information, something which you would have to uncover, the 99 windows which are closed and the 100the window which is left open for you to go in - Visualising and using external data streams, the site reflects the dynamic nature of the submission system that was created for it, using statistical-, weather-, earthquake or financial data and presents it in a novel way, re-contextualising it and controlling part of the site. It's a system that is being influenced from inside (MA's submissions in the form of visuals, audio, video) and outside (news, images, pictures) we pull through Google's imagesearch into the site based on keywords in texts, earthquake data, etc.). The factor of unpredictability and surprice which in so many of our sites was predetermined by us was now not in our hands anymore."[4]

Der Webauftritt spielt mit dem Ineinander von öffentlichem und privaten Raum, dem irritierenden Off-Charakter, den das Internet zu einem intimen wie anonymen Ort zugleich macht. Die vielfach übereinander gelagerten Seiten erlauben wechselnde Perspektiven auf bestimmte Rubriken und je länger man dort verweilt, umso undurchsichtiger wird die interne Verweislogik, ein Effekt, der durchaus gewollt ist: "At first glance they are simple, easy-to-use and informative, but scratch the surface or just wait a while and the hidden recursive depths begin to reveal themselves. The websites are alive with hidden systems, passwords and hacks. The atmosphere is mysterious and uncertain, it's as if the machines are talking to themselves." Gleich beim Einstieg erfährt man, wie die Band gerade drauf ist und dies bestimmt auch das jeweilige Agieren der Seite: "Spikey and aggressive one day or more happy and flowing the next. Meanwhile the users are registering their mood allowing a tweaked response to the average mood of the community at large. The site was always conceived as a live system rather than a fixed 'site'." Ob dieses extreme Morphing, für das Annabel Dalby und ein Team von Hi-ReS sorgen, nur während der Konzerte stattfindet oder permanent, wurde mir nicht deutlich. Die Seiten haben wie die Musik von Massive Attack einen stark immersiven Sog und spiegeln den düsteren Flow des Trip Hop, die visuelle Mischung aus Graffitti, DJ-Culture und jugendlicher Urbanität und den kollektiven Gestus der Band, die immer wieder Gastspieler einlädt, überzeugend wider. Die Möglichkeiten zum Eingreifen bleiben jedoch begrenzt und die Instruktionen sind bisweilen sehr schematisch, so dass auf Dauer ein wenig der Eindruck des belanglosen Spiels entsteht, das, sobald es seinen Reiz verliert, auch den Reiz der gesamten Inszenierungsidee zu schmälern droht. Vielleicht haben sich mir aber auch nicht alle Möglichkeiten erschlossen.

After our

Ob die mediale Neupräsentation auf Kosten der musikalischen Kreativität ging bzw. umgekehrt die mediale Professionalisierung ein suggestives Sedativum für den nicht mehr innovationsfähigen Sound darstellt, möchte ich an dieser Stelle offen lassen.[5] Mir ging es darum, den eindrucksvollen Versuch zu beschreiben, dem nachzeitigen Charakter der Medien eine präsentische Bewegung einzuschreiben.

Anmerkungen
  1. Der gleiche Track war schon einmal ohne caritative Auflagen für eine Kampagne von Adidas verwendet worden (http://www.intro.de/musik/news/956826035). Nach wie vor initiiert die Gruppe Benefiz-Veranstaltungen, zuletzt ein Konzert zusammen mit der Band Portishead als Reaktion auf die Tsunami-Katastrophe (http://www.massiveattack.co.uk/).
  2. http://www.intro.de/musik/news/973586853
  3. http://www.mondiale.co.uk/tpi/massattack.html Das nachfolgende Zitat ebd.
  4. www.hi-res.net Die beiden folgenden Zitate ebd.
  5. Das 2003 veröffentlichte Massive Attack-Album '100th Window' stammt nur aus der Feder von Robert del Naja und Co-Produzent Davidge. Während Grant 'D G' Marshall eine Pause einlegte, stieg Andrew 'Mushroom" Vowles nach dem 1998er Album 'Mezzanine' endgültig aus der Band aus. Zurück blieb del Naja, allein im Studio. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und längeren Phasen ohne Inspiration, verwarf er das gesamte zusammengetragene Material wieder und begann noch einmal bei 0. Mit viel Verspätung brachte er schließlich '100th Window' auf den Markt, das trotz der 5-jährigen Pause seit Mezzanine nahtlos an den Vorgänger anschließt. Allerdings fehlt klar erkennbar die Handschrift von Daddy G und Mushroom. '100th Window' wird darum oft auch als del Najas Soloalbum bezeichnet. (http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Del_Naja) Zur Kritik: http://www.cojito.de/shop.Massive%20Attack%20-%20100th%20Window.n5928.k118.htm und http://www.cd-kritik.de/frameset/frset.htm?/kritiken/cd/massatt-100.htm

© Karin Wendt 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 34/2005
https://www.theomag.de/34/kw41.htm