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Magazin für Theologie und Ästhetik


"Ja und Amen ..." – ?

Theologische 'Querlektüren' in Robert Gernhardts Gedichten*

Johannes Goldenstein

Lothar Perlitt zum 75. Geburtstag

"Nichts ist ihm heilig, keine Tradition und kein großer Name – sei’s der Literatur, sei’s der Geschichte –, keine noch so verborgene Schwäche bleibt seinem Scharfblick verborgen, und kein Gefühl bleibt vor seinem Witz verschont," urteilt eine neuere Darstellung der deutschsprachigen Literatur nach 1945 über den Dichter Robert Gernhardt und sein Werk.[1] Nichts ist ihm heilig, natürlich auch nicht Religion und Theologie.

Gernhardt (* 1937) steht damit freilich inzwischen seinerseits für eine Tradition, nämlich die der von ihm selbst mitbegründeten "Neuen Frankfurter Schule",[2] einer Gruppe von Satirikern und Schriftstellern, die aus der Redaktion der Satirezeitschrift 'Pardon' hervorging, zu der Namen wie F. W. Bernstein, Bernd Eilert, Eckhard Henscheid, Pit Knorr, Chlodwig Poth, Hans Traxler und Friedrich Karl Waechter zählen, und die unter anderem durch das "endgültige Satire-Magazin" 'Titanic' bekannt wurden. Ihre namentliche Anlehnung an die 'Frankfurter Schule' von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ist Programm und nur halbwegs scherzhaft zu verstehen, da die Mitglieder der Neuen Frankfurter Schule bei allem Interesse an der Komik den kritischen und insbesondere gesellschaftskritischen Ansatz des Originals teilen – ganz im Sinne der tiefgründigen Feststellung von F. W. Bernstein: "Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche."

Religion und Theologie sind gewiß nicht das Erste, was einem in den Sinn kommt, wenn der Name Robert Gernhardt fällt. Gleichwohl finden sich in seinem Werk allein an die dreißig Gedichte – Bildgeschichten, Comicstrips, Kurzgeschichten und anderes mit theologischem Inhalt nicht mitgerechnet –, die geeignet sind, das fachliche Interesse nicht nur des Feuilletonisten und des Literaturwissenschaftlers, sondern auch des Theologen zu wecken. Stellen wir dem Dichter Gernhardt darum die Gretchenfrage: "Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?"[3] – und lassen wir seine Gedichte antworten.

Wie viele Dichter zehrt auch Robert Gernhardt in seinem lyrischen Werk vom Sprachgebrauch religiöser Texte. "Die Liturgien, Kirchenlieder, Katechismen, Gebetbücher, auch Anleitungen zu frommer Erbauung oder Mystikertexte etwa, vor allem aber die Bibel selbst [...] haben mit vielfältig produktiven Impulsen eingewirkt auf die säkulare Literatur, haben Spuren von unabsehbarer Reichweite in ihr hinterlassen."[4] Das gilt auch für das Nonsensgedicht und die satirische Lyrik der Neuen Frankfurter Schule. Gernhardt benutzt und parodiert in seinen Gedichten auf unterschiedlichste Weise Gattungen religiöser Literatur, vom Psalm[5] über das Gebet[6] bis hin zum Choral[7] oder zur Litanei[8]. Und er verarbeitet Stoffe aus der Bibel, seien es der Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,4a)[9] oder die Erzählung vom Tanz ums goldene Kalb (Ex 32,1ff),[10] seien es die Geschichte von der Geburt Jesu (Lk 2,1ff)[11] und von seiner Versuchung (Mt 4,1-11)[12] oder die Briefe des Paulus[13].

Die Art und Weise, wie Gernhardt diese Formen und Stoffe in seinen Gedichten umsetzt, verdienen es, für sich betrachtet zu werden. Um sie soll es hier nicht gehen, auch nicht um seine eher zeitgeschichtlichen Beiträge zum ökumenischen Dialog oder zu postmodernen Frauengruppen.[14] Unser Interesse gilt vielmehr der Frage, welche theologischen Vorstellungen und Aussagen in seinen Gedichten zu finden sind, speziell: wie Gernhardt die Beziehung zwischen Gott und Mensch sieht. Die folgenden Beobachtungen sind der Versuch, dieser Frage an ausgewählten Texten nachzuspüren – nicht im Sinne einer systematischen Darstellung der 'Theologie Robert Gernhardts anhand (aller) seiner Gedichte', sondern im Sinne theologischer 'Querlektüren'[15] ausgewählter Gedichte. Sie betreffen drei Aspekte: 1.) die Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Mensch als Schöpfer und Geschöpf, 2.) das Handeln Gottes am Menschen und 3.) das Handeln des Menschen. Abschließend soll es 4.) um die Signifikanz dieser Texte für die Theologie gehen.

1. Schöpfer und Geschöpfe, oder: "Mach dir nur einen Reim ..."

"Mach dir nur einen Reim / auf beide, Mensch und Gott... :"[16] Auch die (selbst)ironische Lyrik der literarischen Postmoderne hat es mit den großen Themen zu tun, nicht nur mit Bussard, Heimlichtun und Tischtuch,[17] sondern auch mit Liebe und Tod, Glück und Schmerz, Gott und Mensch. Unabhängig von seiner eigenen Haltung zu Theologie und Religion in ihren unterschiedlichen institutionellen, kulturellen und rituellen Manifestationen nimmt Gernhardt die (worauf auch immer gerichtete) Religiosität des Menschen als anthropologische Gegebenheit und hat, aller Aufklärung zum Trotz, weder Gott noch den Teufel aus seinem Weltbild verdammt.[18] Im Gegenteil: Gemessen am anarchischen Potential vieler seiner Texte steht der 'Spaßmacher' Gernhardt mit seiner Sicht Gottes und des Menschen fest auf dem Boden der abendländischen Tradition jüdisch-christlicher Prägung. Ganz selbstverständlich greift er das anthropomorphe Gottesbild auf, wie es für die mythisch geprägte Erzähltradition des Alten Testaments charakteristisch ist – etwa wenn er den erschöpften Schöpfer am Sabbat nach vollbrachtem Werk beim Selbstgespräch belauscht:

SCHÖPFER UND GESCHÖPFE: Am siebenten Tag aber legte Gott die Hände / in den Schoß und sprach: / Ich hab vielleicht was durchgemacht, / ich hab den Mensch, den Lurch gemacht, / sind beide schwer mißraten. / Ich hab den Storch, den Hecht gemacht, / hab sie mehr schlecht als recht gemacht, / man sollte sie gleich braten. / Ich hab die Nacht, das Licht gemacht, / hab beide schlicht um schlicht gemacht, / mehr konnte ich nicht geben. / Ich hab das All, das Nichts gemacht, / ich fürchte, es hat nichts gebracht. / Na ja. Man wird’s erleben.[19]

Der allmächtige und allwissende Schöpfer, der ahnt, was er in Gang gesetzt hat, indem er seinen Geschöpfen Freiheit gewährte, spricht das Schlußwort über seine Kreatur: "Ich fürchte, es hat nichts gebracht. / Na ja. Man wird’s erleben." Gernhardt setzt damit einen realistisch-pessimistischen Kontrapunkt zu dem ostinatohaften "und siehe, es war gut" im ersten Kapitel der Bibel, das die sechs Schöpfungswerke (Licht, Himmel und Festland, Pflanzen, Tag und Nacht, Fische und Vögel, Landtiere) abschließt und das am Ende gar zum Gesamturteil "siehe, es war sehr gut" gesteigert wird.[20]

Die im Gedicht erwähnten Geschöpfe verdanken sich gleichermaßen den biblischen Quellen wie der poetischen Logik des Dichters. Nacht und Licht sind die Werke des ersten Schöpfungstages (Gen 1,4f), der Mensch Werk des sechsten (Gen 1,26f). Daß dieser in die Gesellschaft des Lurchs gerät, geschieht einerseits in voller Übereinstimmung mit dem biblischen Schöpfungsbericht – am selben Tag wie der Mensch werden die Kriechtiere geschaffen (Gen 1,24f) –, andererseits freilich schlicht um des Reimes willen: der Lurch darf die Kriechtiere hier allein wegen des Gleichklangs von "was durchgemacht" und "den Lurch gemacht" repräsentieren. Nach demselben Prinzip stehen Storch und Hecht pars pro toto für die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres (Gen 1,20f; 26.28) und zugleich als erste Hälfte des Reimpärchens "Hecht gemacht" / "recht gemacht". Über die biblische Vorlage sachlich hinaus geht allein die Behauptung der vierten Strophe, Gott habe auch "das Nichts gemacht". Theologisch gesehen, ist diese Formulierung eine raffinierte Variante der Vorstellung einer creatio ex nihilo. Gott hat demzufolge nicht ex nihilo, d.h. völlig voraussetzungslos, ohne eine ihm vorgegebene Materie die Welt und alles Leben erschaffen;[21] er hat (außer Mensch und Lurch, Storch, Hecht und All) auch das Nichts geschaffen. Wer das nur positiv versteht – das Nichts als materia für alles weitere Schöpfungshandeln –, überhört die kritische Spitze dieser Aussage, die dem creator mundi den Satz "Ich hab das [...] Nichts gemacht" in den Mund legt. Ob man der Wendung soviel Finesse unterstellen darf, sei dahingestellt: letztlich verdankt auch sie sich schlicht der reimerischen Notwendigkeit, denn das "es hat nichts gebracht" in der Folgezeile braucht ein Äquivalent.

Das Gedicht lebt vom Kontrast solcher schöpfungstheologischen Spitzensätze zu dem Gottesbild, das es zeichnet: Floskeln wie 'die Hände in den Schoß legen,' "ich hab vielleicht was durchgemacht," "sind ... schwer mißraten," "mehr konnte ich nicht geben" vermitteln den Eindruck, es sei eher ein erfolgloser Hobbybastler, der hier sein Herz ausschüttet, als der omnipotente creator mundi. Das Handeln dieses Gernhardt’schen Schöpfergottes ist auf den einmaligen Akt der Schöpfung beschränkt. Am Ende seiner Sechs-Tage-Arbeitswoche entläßt er seine Geschöpfe in die Freiheit ihrer eigenen, und das heißt nun: eigenverantwortlichen Existenz. Er selber legt "die Hände in den Schoß". Weitergehende Verantwortung im Sinne einer creatio continua, d.h. der kontinuierlichen Fortsetzung des Schöpfungsgeschehens zur Erhaltung seiner Schöpfung,[22] übernimmt der Schöpfer nicht. Statt dessen begnügt er sich, trotz seiner pessimistischen Diagnose des Ergebnisses – "mehr schlecht als recht", "schlicht um schlicht", "schwer mißraten" –, mit der Rolle des passiven Beobachters, der abwartet, wie sich seine Kreatur weiter entwickelt: "Na ja. Man wird’s erleben."[23]

Aber Gernhardt sieht in Gott keineswegs nur den alten Mann mit dem weißen Bart. Er beschreibt Gott auch in der Terminologie der klassischen metaphysischen Gotteslehre als transzendente Wesenheit, die ontologisch nur in scharfer Antithese zur Welt gedacht werden kann; schöpfungstheologisch vermittelt: Gott, das Sein-Selbst als das kategoriale Gegenüber zu seiner Schöpfung, als reine Essenz, die in ihrer Wirkmacht völlig autonom und jedem Zugriff entzogen existiert und agiert. Für das Geschöpf gilt: "Finger weg" von diesem Gott!

FINGER WEG: Nun soll man ja nicht fragen: / Mein Gott, wer bist dann du? / "Ich bin das gänzlich Andere, / das wortentrückt Besandere, / stand stets und steh auch hier und jetzt / hoch über Sprach- und Reimgesetz, / so durch und durch besonders: / Noch anders bin ich onders." / Nein, man soll ja nicht fragen...[24]

"Gott ist in seiner Göttlichkeit der ganz Andere, dessen Anderssein nicht zuletzt darin besteht, daß er – ohne etwas anderes vorauszusetzen als sich selbst – das andere seiner selbst, das Geschaffene, als frei gewollte und als in die (so) eigene Wirklichkeit freigesetzte Schöpfung hervorbringt."[25] Als sei er derlei fremde Definitionen, alle Fragestellungen der Philosophen und der Theologen um sein Wesen und um das Problem eines analogischen Redens von sich leid, läßt Gernhardt Gott selbst das Wort ergreifen und definieren, was er ist: "das gänzlich Andere." Passend zur Ausdrucksform der fiktiven Gottesrede läßt der Dichter Gott seine Definition auf die Kategorien der Sprache und der Poetik, auf "Sprach- und Reimgesetz" übertragen. Und weil Gott Macht hat über das Wort – das Medium seines völlig freien und souveränen göttlichen Schaffens (vgl. Gen 1) –, ja weil er sogar selber das Wort ist (vgl. Joh 1), greift er in den Gebrauch von Sprach- und Reimgesetz ein und spielt mit den a/o-Lauten der Lexeme 'anders' und 'besonders'. Als "das gänzlich Andere" definiert Gott sich selbst als "das wortentrückt Besandere" und behauptet von sich: "Noch anders bin ich onders." Damit setzt Gernhardt die wesenhafte Unterschiedenheit Gottes vom Menschen sprachästhetisch nicht nur sinnbildlich, sondern (in Form der Gottesrede) auch performativ um. Indem er die durch a/o-Ablaute adaptierte Begrifflichkeit der klassischen Gotteslehre Gott selbst in den Mund legt, schafft er sprach-spielerisch eine Synthese aus dem biblisch-anthropomorphen Gottesbild und einem apersonal-metaphysischen Gottesbegriff. Das ist dichterisch durchgeführte Dogmatik at it’s best.

Wie der Schöpfergott Gernhardts Meinung nach über den Menschen denkt, haben wir schon gehört: Er ist "schwer mißraten". Fragt man umgekehrt, welches Bild der Dichter vom Menschen in seinem Gottesbezug zeichnet, trifft man bald auf das Gebet eines seinem Schöpfer gegenüber emanzipierten, selbstbewußten Geschöpfs:

GEBET: Lieber Gott, nimm es hin, / daß ich was Besond’res bin. / Und gib ruhig einmal zu, / daß ich klüger bin als du. / Preise künftig meinen Namen, / denn sonst setzt es etwas. Amen.[26]

In sechs Zeilen hat Gernhardt die Hybris des postlapsalen Menschen, der seit dem Sündenfall bemüht ist, sich "einen Namen [zu] machen" (Gen 11,4), weil er sich als etwas "Besond’res" und "klüger" als Gott empfindet, auf den Punkt gebracht. Es ist nur folgerichtig, daß dieses 'besondere' Geschöpf seinem Schöpfer unter Androhung von Gewalt den Anspruch auf Verehrung streitig macht und die Abhängigkeitsverhältnisse auf den Kopf zu stellen versucht, indem es fordert: "Preise künftig meinen Namen."

Das Motiv eines solchen Richtungswechsels findet sich bereits bei Paul Celan:

Bete, Herr, / bete zu uns, / wir sind nah.[27]

Gernhardt verleiht diesem Motiv die Leichtigkeit des Komischen, indem er es in die Gestalt eines Kindergebets bringt. Er erreicht das stilistisch durch die kurze Form aus knappen, klar gegliederten Sätzen, durch die eingängigen Paarreime, die Anrede "Lieber Gott" und nicht zuletzt durch den vertraulichen Umgangston des Beters mit seinem Gegenüber. Gleichwohl steht diese äußere Form in diametralem Gegensatz zu dem Anspruch, der in den Bitten – oder besser: Forderungen zum Ausdruck gebracht wird. Gott soll einen Menschen anbeten, der sich ihm gegenüber wie ein ungezogenes, trotziges Kind benimmt. Die Komik, die Gernhardt hier durch den Gegensatz von Form und Inhalt erzeugt, ermöglicht eine tiefere Einsicht in die Differenz zwischen dem Selbsturteil und der Realität des Menschen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Denn daß der sich über Gott erhebende Mensch autonom und in Freiheit handelt, scheint, wie der folgende "Choral" zeigt, keineswegs sicher:

CHORAL: O Herre Christ, erbarm! / Ich bin voll Stimmen. / Von guten Stimmen voll, / doch voller noch von schlimmen. / O Gotteslamm, zur Hilf! / Ich glaub, die schlimmen / tun eben grad / die guten überstimmen! / O Gott, du Schaf, zu spät! / Nur eine Stimme / spricht fürder noch aus mir: / Die stolze. [28]

Gernhardt läßt hier einen Menschen zu Wort kommen, der sich als Kampfplatz innerer Stimmen erlebt, denen er hilflos ausgeliefert zu sein scheint. Die Nähe dieses Bildes zu der in der christlichen Theologie spätestens seit Augustin vertretenen Ansicht, daß der unter der Macht der Sünde lebende Mensch keinen freien Willen habe, ist unverkennbar. Im Streit mit Erasmus von Rotterdam um die Willensfreiheit beschreibt Martin Luther 1525 den menschlichen Willen unter anderem als ein Reittier, auf dem wahlweise Gott oder der Satan reiten:

"wenn Gott darauf sitzt, will er und geht, wohin Gott will [...]. Wenn der Satan darauf sitzt, will er und geht, wohin der Satan will. Und er hat nicht die Entscheidungsfreiheit, zu einem der Reiter zu laufen oder ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst streiten darum, ihn festzuhalten und zu besitzen."[29]

Vollständig läßt sich das Bild der widerstreitenden inneren Stimmen aus Gernhardts Gedicht mit Luthers Bild vom Reittier nicht in Einklang bringen; gleichwohl sind die Parallelen offensichtlich. Sowohl die Stimmen als auch die Reiter sind die handlungssteuernden Subjekte; der Mensch agiert fremdbestimmt.

Bei Gernhardt gerät die Metapher in Dynamik. In seinem Hin- und Hergerissensein ruft das lyrische Ich Christus bzw. Gott um Hilfe an. Daß den Wettstreit der guten und der schlimmen Stimmen eine schlimme gewinnt – "die stolze", die Hybris –, ist alleine Gottes Schuld. Das Ich identifiziert sich am Ende mit der stolzen Stimme und macht Gott eine lange Nase: "Zu spät!"

Sprachlich lebt der Text vom Kontrast zwischen den Anleihen an die Kirchenliedtradition ("Choral", "O Herre Christ", "O Gotteslamm", "O Gott")[30] samt den zugehörigen Archaismen ("erbarm!", "zu Hilf!", "fürder" sowie die Anrede "Herre") einerseits, und andererseits virtuosen Sprachspielereien: Am Beginn der dritten Strophe bricht Gernhardt die dreifache, litaneiartige Anrufung auf, indem er die traditionelle Anrede "O Gott" durch den im Leseablauf völlig unerwarteten Ausruf "du Schaf" ins Lächerliche wendet, – eine Fortsetzung, die ihrerseits auf die hochgradig religiös aufgeladene Metapher vom "Gotteslamm" in Str. 2 zurückgreift. Komik entsteht hier durch die Verfremdung liturgisch geprägter, archaischer Sprache; außerdem durch das Spiel mit Reimen: Der erkennbaren reimerischen Logik folgend, würde man nach "Stimmen" / "schlimmen" (Str. 1) und "schlimmen" / "überstimmen" (Str. 2) in Str. 3 auf "Stimme" den Reim "die schlimme" erwarten. Gernhardt unterbricht die Folge und erzielt damit einen Überraschungseffekt, der die reimlose Variante ("die stolze") umso stärker betont und gleichwohl die Identifikation nahelegt, die stolze Stimme sei die schlimme.

Ganz so frei, wie es im "Gebet" (s.o.) den Anschein hat, ist Gernhardts Mensch also nicht. Was im "Choral" nur angedeutet ist, kann man im "Jakobinischen Wandersmann" ausdrücklich nachlesen. Auch dort verwendet Gernhardt das Motiv des zwischen den Stimmen hin- und hergerissenen Menschen, nun allerdings mit der Pointe, daß der Mensch gezwungenermaßen seine eigene Entscheidung zwischen Gott und dem Teufel treffen muß:

Gott spricht nur immer Ja, / der Teufel immer Nein: / Drum ist der Mensch verdammt, / der Schiedsrichter zu sein.[31]

Der Vers ist Zitat und Fortschreibung einer Doppelzeile aus der 1657 entstandenen Epigrammsammlung "Cherubinischer Wandersmann" von Angelus Silesius (Johannes Scheffler):

GOtt spricht nur immer Ja; der Teufel saget nein: / Drumb kan er auch mit GOtt nicht Ja und eines seyn.[32]

Bezeichnenderweise verändert Gernhardt das Zitat, indem er statt "der Teufel saget nein" dichtet: "der Teufel immer nein". Dadurch entsteht eine Symmetrie der beiden immerwährenden Einflüsterungen, und das vom Menschen geforderte Entscheidungshandeln wird zu einer Daueraufgabe.

Im Stil frommer Kinderreime, mit sprachspielerischer Virtuosität und in alledem mit einer fast zur Alberei neigenden Komik beschreibt Gernhardt in seinem "Gebet" und im "Choral", wie das zur Wirklichkeit geworden ist, was sich Menschen ersehnen, seit es sie gibt: Sein zu wollen wie Gott (vgl. Gen 3,5). In beiden Gedichten manifestiert sich wie der "gänzlich Andere" von seinem Geschöpf depotenziert wird. Daß er "so durch und durch besonders" ist, konnte einst allein der Schöpfer von sich sagen. Nun hält sich auch das Geschöpf für "was Besond’res." Doch dieses Besonderssein hat seinen Preis. Wo der Mensch aus der Unmündigkeit heraustritt, muß er zwangsläufig seine eigenen Entscheidungen treffen. Die sind für ihn freilich nicht ohne Konsequenzen, zumal auch dort, wo der Mensch den Schiedsrichter zwischen Gott und Teufel gibt, die Kontrahenten die Hauptakteure bleiben.

2. Willkür statt Heil, oder: Was Gott für den Menschen übrig hat

Trotz aller Depotenzierungserfolge bleibt dem Menschen also ein Rest tremendum, ein ehrfürchtig-angstvoller Schauder vor dem "gänzlich Andere[n]" namens Gott. Es sind die Erfahrung von Krankheit und die Einsicht in die Endlichkeit des eigenen Lebens, die das stolz gewordene Geschöpf dazu bringen, mit zunehmendem Alter wieder das Gespräch mit dem Schöpfer zu suchen.

GESPRÄCH DES GESCHÖPFS / MIT DEM SCHÖPFER: "Schier sechzig Jahr auf deiner Welt – / bekomme ich jetzt Schmerzensgeld?" / "Mein Kind, mir geht dein Wunsch zu Herzen: / Geld hab ich keins, doch kriegst du Schmerzen!"[33]

Auch wenn das Amen fehlt: Der erste Teil dieses Gesprächs ist nichts anderes als ein Bittgebet – das Bittgebet des selbstbewußten Menschen, der sich für "was Besond’res" hält und Gott gegenüber Schadensansprüche für sechs Jahrzehnte 'Koexistenz' mit der mißratenen Schöpfung geltend macht. Die Forderung nach Schmerzensgeld wirkt dabei ähnlich entlarvend wie die Diskrepanz zwischen dem forschen Habitus und der kindlichen Form des obigen "Gebet[s]". Wenn Gott den Bittsteller im Folgenden mit "mein Kind" anredet, parodiert Gernhardt nicht nur kirchlichen Jargon in seinem herablassenden Gestus, sondern trifft sehr präzise die Ambivalenz der Gesprächssituation.

Der zweite Teil des Dialogs entspricht im Kern einer Erfahrung, die viele Menschen beim Beten machen: Gott erhört Gebete, aber oft erfüllt er Bitten anders, als der Beter es erhofft. Der Betende, hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch nach Autonomie und dem Angewiesensein auf fremde Hilfe, kann das souveräne, nicht wunschgemäße Handeln Gottes nicht verstehen. Das Geschöpf mißinterpretiert die Antwort des Schöpfers und erlebt ihn als ungerecht und abgewandt. Dieses Phänomen, das (wenngleich es in der Sache ungleich älter ist) seit Gottfried Wilhelm Leibniz unter dem Stichwort 'Theodizee' verhandelt wird,[34] legt Gernhardt hier Gott selbst in den Mund; so kommt es, daß Gott sich für machtlos ("Geld hab ich keins") und zynisch erklärt ("doch kriegst du Schmerzen"). Am Ende reicht ein loser Zahn, um Gott als Mörder zu enttarnen:

ENTTARNT: Durch einen Fehler im Weltenplan / lockerte sich mein Schneidezahn. / Da schoß es mir eiskalt durch den Sinn: / Wie, wenn ich nicht unsterblich bin? / Da schien mir urplötzlich sonnenklar, / daß ich ein endliches Wesen war. / Da war ich schlagartig gewarnt: / So habe ich Gott als Mörder enttarnt.[35]

Das ist das bittere Resümee des Geschöpfs, aus dem "fürder" nur noch "die stolze" Stimme sprach, und das nun mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert wird: Der Schöpfer, ein Mörder! Einen Kausalzusammenhang zwischen seiner Sterblichkeit und dem eigenen Verhalten stellt das lyrische Ich nicht her. Es denkt nicht in Kategorien von Schuld und Strafe.[36] Der Tod ist nicht "der Sünde Sold" (Röm 6,23). Das Ergehen des Menschen ist nicht die Folge seiner Überheblichkeit gegen Gott, sondern hat seine Ursache allein in Gottes souveränem – und letztlich willkürlichem – Handeln. Negative Daseinsfaktoren des menschlichen Lebens wie Krankheit und Sterblichkeit lassen sich der inneren Logik dieses Gottesbildes zufolge nur als Konstruktionsfehler des (freilich dann doch nicht allmächtigen) Schöpfers verstehen, oder als Mordversuch, der den Menschen "eiskalt", "urplötzlich" und "schlagartig" trifft.

Diese Sicht der Beziehung zwischen Gott und Mensch hat ihre deutlichste (und älteste) biblische Entsprechung in der späten, skeptisch-kritischen Weisheitsliteratur des Alten Testaments, bei Hiob und – auf etwas andere Weise – dem Prediger Salomo (Kohelet). Wenn Gernhardt zu diesem Thema Hiob selbst das Wort gibt, geschieht das also nicht von ungefähr: HIOB IM DIAKONISSENKRANKENHAUS: Ihr habt mir tags von Gott erzählt, / nachts hat mich euer Gott gequält. / Ihr habt laut eures Gotts gedacht, / mich hat er stumm zur Sau gemacht. / Ihr habt gesagt, daß Gott mich braucht – / braucht Gott wen, den er nächtens schlaucht? / Ihr habt erklärt, daß Gott mich liebt – / liebt Gott den, dem er Saures gibt?[37]

Der biblische Hiob, das Musterbeispiel eines frommen und gottesfürchtigen Menschen, der von Gott (bzw. dem Satan) ins äußerste Elend gestürzt wird, verflucht in langen Gesprächen mit seinen drei Freunden den Tag seiner Geburt und rebelliert gegen Gott. Ganz ähnlich debattiert der von Gott mit Krankheit gequälte, geschlauchte Dichter im Krankenhaus mit dem Pflegepersonal als den Vertreterinnen der traditionellen Religion ihr Gottesbild. Sie predigen, Gott quält. Sie beten und singen, Gott "[macht] zur Sau". Sie behaupten, Gott brauche den Menschen als sein Gegenüber,[38] ja, er liebe seine Geschöpfe (vgl. 1. Joh 4,10);[39] Gott aber schlaucht und gibt Saures. Sie machen viele, geräuschvolle Worte – sie erzählen, gedenken, sagen, erklären – vergeblich. Gott hingegen handelt stumm, aber wirksam. Die Diskrepanz zwischen dem Gott, den die Diakonissen in Wort und Tat verkündigen und dem, den der Patient erlebt, könnte größer nicht sein.

Der biblische Hiob bezog sein Ansehen und sein darauf basierendes Selbstverständnis aus seinem Wohlstand, der im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs als Frucht seines gottesfürchtigen und rechtschaffenen Verhaltens verstanden werden konnte: Gott segnet die freiwilligen (Opfer-)Gaben eines 'freudigen Geistes' (Ps 51,14) dem Menschen durch Lebensglück. Was als Geschenk Gottes stabil erschien, erwies sich freilich als nichtig und flüchtig.

"Entschwunden wie der Wind ist meine Würde [hebr. nediwah],
und wie eine Wolke verzog sich mein Heil [hebr. jeschuah]," (Hi 30,15)[40]

klagt der verzweifelte Hiob, der miterleben mußte, wie die Verläßlichkeit Gottes, eben jene Eigenschaft, die dem zeitgenössischen Weltbild zufolge Kosmos und Individuum buchstäblich erhielt, gleichsam vom Winde verweht wurde. Diese Verlusterfahrung führt ihn von der Klage über sein Schicksal zur Anklage Gottes:

"Er [sc. Gott] hat mich in den Dreck geschmissen, so daß ich bin wie Schmutz und Asche. Ich rufe um Hilfe zu dir, doch du antwortest nicht. Ich stehe da, aber du achtest nicht auf mich. In einen Grausamen hast du dich mir verwandelt und mit der Gewalt deiner Hand befeindest du mich. Du läßt mich auf dem Wind dahinfahren und vergehen im Sturm. Denn ich weiß, du wirst mich zum Tod gehen lassen, zum Haus, da alle Lebendigen zusammenkommen." (Hi 30,19-23)

Jede Verläßlichkeit Gottes ist dahin. Das einstmals ansprechbare Du hat sich in einen Erbarmungslosen verwandelt. Damit aber "steht und fällt das ganze Bild der weisheitlichen Weltordnung, steht und fällt die Vorstellung eines Gottes, der als allmächtig-guter Schöpfer und weiser Erhalter dieser Ordnung gilt."[41] Insofern ist die Theodizee-Frage, wie das Hiobbuch sie stellt, keine Spezialfrage der Gotteserfahrung eines Einzelnen, sondern ein Aspekt der Frage, wie man von Gott und vom Menschen überhaupt denken kann; ein Versuch, der das Ganze des Daseins und der Welt einbezieht.

In der einzigen Gottesrede des Hiobbuches (Hi 38,1-40,14) wird Hiobs Herausforderung angenommen, und Hiob bekommt eine Antwort. Eine Antwort freilich "von zermalmender Wucht: Willst du sein wie Gott, dann handle wie Gott!, ist ihr Grundton. Der Mensch, der seine wesenhafte Grenze verkennt, ist nicht 'wie Gott' (hebr. ka’el, Hi 40,9), sondern wie der Affe Gottes."[42] Wenn Hiob das Weltregiment übernehmen und alles richtig zu machen vermöchte, dann, so schließt Hi 40,14, "dann will sogar ich dich preisen, / weil deine Rechte dir geholfen hat."

Doch das "wie Gott" ist – in Hi 40,9 wie in der Geschichte vom Sündenfall (Gen 3,5) – keine menschliche Möglichkeit, sondern Hybris. Der Verzicht auf dieses "wie Gott" soll Hiob nicht demütigen, sondern demütig machen, das heißt: "lebensfähig in der Einsicht auf sein Wesen: seine Geschöpflichkeit. Zu deren bittersten Seiten gehört das Leiden und das Leiden nicht zu verstehen."[43]

An die Stelle der verzweifelten Auseinandersetzung des biblischen Hiob mit Gott tritt bei Gernhardt Zynismus. Ein Gott, der den Menschen sterben läßt, muß seine Geschöpfe hassen. "Gott kan nichts hassen," behauptet Angelus Silesius im "Cherubinischen Wandersmann" und dichtet unter dieser Überschrift: Mensch rede recht von Gott; Er hasst nicht seyn Geschöpffe: / (Unmöglich ist es jhm /) auch nicht die Teuffels Köpffe.[44]

Gernhardt übernimmt das Incipit, formuliert es um und dichtet (gleichsam als Replik auf die Stimme aus der Literatur) seine eigene Fortsetzung, in der er die Aussage der Vorlage ins Gegenteil verkehrt: Mensch, rede nicht von Gott. / Was ist von Gott zu sagen? / Er siegte, sah und kam, / um uns ans Kreuz zu schlagen.[45]

"Von Gott" – mit "De Deo" ist in der klassischen Dogmatik der Artikel von der Gotteslehre überschrieben[46] – ist grundsätzlich also vor allem dieses "zu sagen", daß er den Menschen im Feldherrengestus besiegt und kreuzigt. Die dritte Zeile, "Er siegte, sah und kam," ist nichts anderes als die Umkehrung des Gaius Iulius Caesar zugeschriebenen Ausrufs "veni, vidi, vici."[47] Gernhardts Gott ist also nicht ein Gott, der das Unrecht und den Tod besiegt, wie die neutestamentlichen Autoren bezeugen (Mt 12,20; 1Kor 15,54f; ), sondern den Menschen in seiner Hybris. Er ist nicht ein Gott, der auf die Welt kam, um sich stellvertretend für die Menschen kreuzigen zu lassen (Röm 5,8; 8,32; 2Kor 5,21, Gal 3,13, u.ö.), sondern vielmehr um die Menschen zu kreuzigen. Mit dieser Aussage geht Gernhardt deutlich weiter als das Hiobbuch, weiter auch als der Prediger Salomo (Kohelet) in seiner von der hellenistischen Philosophie beeinflußten melancholischen Skepsis gegenüber einem unerreichbaren und unfaßbaren Gott.[48] Hatte zumindest der alttestamentliche Hiob in Klage und Anklage noch den Dialog mit dem fernen und ungerecht erscheinenden Gott gesucht – Kohelet schon nicht mehr –, so fordert Gernhardt dazu auf, nicht einmal mehr von Gott zu reden.

Trotzdem redet er über Gott. Er beschreibt ihn als einen, der den Menschen schmäht und schändet – so, wie es die Götter eines Goethe taten –,[49] und davon selber unbeeindruckt bleibt: Vor Gott ist alles eins. / Sein Nehmen ist ein Geben: / Er gibt den Tod und nimmt / im Gegenzug das Leben.[50]

Was der Mensch dabei denkt und fühlt, ist diesem Gott gleichgültig; für ihn ist des Menschen Herz wie ein Herd, "auf welchem er sein Supp’ / kocht, abschmeckt und verzehrt."[51]

Von einem solchen Gott kann man als Mensch kaum anders als sich "zur Sau gemacht" empfinden. Was auf den ersten Blick wirkt, als habe der Dichter hier poetisch die contenance verloren, ist mehr als bloße Provokation. Der Gernhardt’sche Hiob fühlt sich "im Diakonissenkrankenhaus" in seinem Leiden gerade nicht auf seine Geschöpflichkeit verwiesen, sondern als Geschöpf gedemütigt. Darum tritt er zu diesem Gott auch sprachlich in deutliche Distanz, indem er den Diakonissen erklärt: Es ist "euer Gott", nicht meiner.

Gernhardt kann aus eigener leibhafter Erfahrung auch von Segen sprechen. Kapern und Chianti im Mittagslicht des Piemont, mit dem Blick auf schwankende Olivenbäume und dem Reißen von Pinienzapfen im Ohr sind für ihn der Inbegriff einer "gesegneten Mahlzeit."[52] Aber nicht der gnädige, freundliche, segensreiche Gott dominiert in seinen Gedichten, sondern das Bild eines unerreichbaren, souveränen und selbstbezogenen Gottes, der – auf Kosten des Menschen – sein eigenes Süppchen kocht und sich allem Anschein nach vom Menschen durch keinen religiösen Akt beeindrucken läßt.[53] "Ja und Amen" kann Gernhardt darum allenfalls zu einem italienischen Septembermorgen sagen;[54] auf diesen Gott reimt sich für ihn nur 'bankrott', 'Schrott' und 'Spott'.[55]

3. "... daß ich nicht der Heiland war", oder: Was dem Menschen übrig bleibt

Was bleibt dem Menschen angesichts eines solchen Gottes übrig? Eine veränderte Selbsterkenntnis und, damit verbunden, mindestens eine ethische Konsquenz.

Nicht nur das durch einen lockeren Zahn sich seiner Sterblichkeit bewußte Menschenwesen und der sich von Gott gequält fühlende Patient im Krankenhaus sind auf ihre Geschöpflichkeit gestoßen, sondern jedermann. Das lyrische Ich in seinem Bestreben, zu sein wie Gott, muß früher oder später einsehen, daß es vielleicht "was Besond’res" ist, aber seinem Wesen nach nichts Göttliches hat:

Ich sprach ...: Ich sprach nachts: Es werde Licht! / Aber heller wurd’ es nicht. / Ich sprach: Wasser werde Wein! / Doch das Wasser ließ dies sein. / Ich sprach: Lahmer, du kannst gehn! / Doch er blieb auf Krücken stehn. / Da ward auch dem Dümmsten klar, / daß ich nicht der Heiland war.[56]

Weder die Erschaffung des Lichts (vgl. Gen 1,3), mit der der Heiland streng genommen nichts zu tun hatte,[57] noch das Weinwunder von der Hochzeit zu Kana (vgl. Joh 2,1-11) noch die Heilungen, wie sie der irdische Jesus vollbracht hat,[58] kann der Mensch aus eigener Kraft wiederholen. Auf die sog. Wortformel des ersten biblischen Schöpfungsberichtes, "und Gott sprach" (Gen 1,3.6.9.11.14.20. 24.26), wird sogleich der Vollzug berichtet: "und es ward" (Gen 1,3), "und es geschah so" (Gen 1,7.9.11.15.24.30). Auch Jesu Wort hat unmittelbare Wirkung. "Er sprach zu dem Gelähmten: 'Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!' Und der stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen." (Mk 2,10ff). Das dreifache "Ich sprach" aus Menschenmund hingegen verklingt wirkungslos. Dunkel, Wasser und Lahmer bleiben, wie sie sind. Deshalb variiert Gernhardt in der 4. Strophe die biblische Vollzugsformel "und es ward": "da ward auch dem Dümmsten klar, / daß ich nicht der Heiland war." So ward zwar kein Licht (Gen 1,3), doch immerhin elementar einleuchtende Klarheit des Menschen über sich selbst: Das schöpferisch-wirksame, performative Sprechen bleibt Sache Gottes und seines Sohnes. Der Mensch mag selbstbewußt und emanzipiert sein, – letztlich ist und bleibt er machtloses Geschöpf.

Das gilt, Gernhardt zufolge, mutatis mutandis auch hinsichtlich der negativen Dimension menschlicher Macht. Der Mensch trägt zwar eine Mitverantwortung an dem Unrecht, das auf der Erde geschieht und ist sich dessen bewußt,[59] aber nicht alles Böse hat seine Ursache in menschlichem Handeln; Gott und der Teufel sind dafür gleichermaßen verantwortlich.[60] Von beiden hat der Mensch sich emanzipiert – und ist ihnen gleichwohl letztlich machtlos ausgeliefert. Allein in dem sehr überschaubaren, von ihm erkämpften bzw. ihm gesetzten Rahmen ist er frei zu selbständigem Handeln.

Aus dieser anthropologischen Einsicht zieht Gernhardt als klare ethische Konsequenz die Forderung nach mehr Menschlichkeit. Angelus Silesius hatte im "Cherubinischen Wandersmann" gedichtet:

Zufall und Wesen. / Mensch werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht / So fällt der Zufall weg / das wesen das besteht.[61]

Wieder übernimmt Gernhardt den Anfang, widerspricht und fordert das Gegenteil:

'Mensch, werde wesentlich' – / wer solches sagt, der irrt. / Er sorge vielmehr, dass / sein Wesen menschlich wird.[62]

Nicht wesentlich soll der Mensch werden; vielmehr soll das mißratene Wesen menschlich werden. Das Geschöpf soll es besser machen als der Schöpfer. Wo Gott seiner Fürsorge im Sinne einer creatio continua(ta) (s.o.) nicht nachkommt, muß der Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst Sorge für sich tragen. Er allein hat dafür zu sorgen, daß "sein Wesen menschlich wird."

Die Forderung ist klar und klingt doch seltsam erbaulich. Das Adjektiv "menschlich" hat hier gerade nicht den negativen Ton wie in der biblischen Urgeschichte, wo es im Grunde synonym für 'böse' steht.[63] Es beschreibt vielmehr den Gegensatz zu eben jenem Verhalten Gottes, der bei Gernhardt zwar zahlreiche anthropomorphe Züge trägt, aber nur äußerlich, und ansonsten als der "gänzlich Andere" ganz und gar bei sich bleibt und den Menschen "quält", "schlaucht" und "zur Sau macht". Wenn schon Gott es nicht tut, soll wenigstens der Mensch darum bemüht sein, seinem Wesen zu entsprechen. Dieses Wesen zeichnet sich, ganz in der Tradition der Aufklärung und des Sturm und Drang, als "menschlich" vor allem durch seine Empfindungsfähigkeit aus, vorzugsweise durch Mitgefühl, Schonung und Erbarmen gegen andere.[64] Die geforderte Menschlichkeit ist also vor allem affektiv-sittlich determiniert.

Sein Vorbild findet das um menschliches Wesen bemühte Geschöpf gerade, weil es nicht der Heiland ist, – im Heiland:

PLÄDOYER: Daß er die Kindlein zu sich rief, / daß er auf Wassers Wellen lief, / daß er den Teufel von sich stieß, / daß er die Sünder zu sich ließ, / daß er den Weg zum Heil beschrieb, / daß er als Heiland menschlich blieb – / ich heiße Hase, wenn das nicht / doch sehr für den Herrn Jesus spricht.[65]

In den ersten zwei Doppelzeilen skizziert Gernhardt mit wenigen Worten vier Szenen aus dem Leben Jesu: die Kindersegnung (Mk 10,14 par.), seinen Seewandel (Mk 6,48 par.), die Versuchung (bes. Mt 4,10) und seine Gemeinschaft mit Sündern (Mk 2,17 par.; bes. Lk 15,2). Im dritten Zeilenpaar bietet er seine Charakterisierung des "Herrn Jesus", für den er mit dem letzten Zeilenpaar plädiert.

Gernhardts Jesus trägt durchaus Züge, die ihn als göttlich qualifizieren: Er hat eine besondere Macht über die Elemente der Schöpfung (er kann auf dem Wasser gehen) und über das Böse (er hat der Versuchung des Teufels widerstanden), und er hat Kenntnis von einem Weg zum Heil, die er den Menschen weitergibt. Insofern ist er, vere deus, ganz Heiland.[66] Was ihn freilich besonders auszeichnet, ist, "daß er als Heiland menschlich blieb." Das heißt: Nicht die Gottheit Jesu, sondern sein Menschsein ist für Gernhardt – wie für die Theologie (und Teile der Philosophie) in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s überhaupt[67] – von entscheidender Bedeutung. Im Vordergrund steht der Jesus vere homo: als Anwalt der Unmündigen ("der die Kindlein zu sich rief") und der von der Gesellschaft an den Rand gedrängten Menschen ("der die Sünder zu sich ließ").[68] Das Menschsein dieses Jesus besteht in seiner Menschlichkeit, d.h. in seiner von Mitgefühl, Schonung und Erbarmen bestimmten affektiv-sittlichen Lebensweise. Im Sinne des parallelismus membrorum – eines u.a. für die alttestamentliche Poesie charakteristischen Stilmittels[69] – lassen sich die beiden Zeilen des dritten Reimpaares als synonyme Aussagen lesen. Dann wäre Jesu Menschlichkeit der Weg zum Heil. In ihr sieht Gernhardt die Vorbildfunktion des "Heilandes" für den Menschen.

4. 'bankrott', 'Schrott' und 'Spott', oder: "Weiche Ziele"?

"Ja und Amen"? Nein. Auch für Robert Gernhardt gilt, so zeigen die hier vorgestellten nicht ganz zehn [70] Gedichte, was Albrecht Schöne über Bertolt Brecht schreibt: Er ist "gottlos und bibelfest zugleich".[71]

Diese Spannung läßt sich auf der Basis von Selbstzeugnissen biographisch verorten.

Indizien dafür bietet etwa ein Interview, in dem Gernhardt sich zu seiner religiösen Biographie äußert: "Die evangelische Kirche hat mich geprägt und mit Sicherheit auch geschädigt – beispielsweise durch das Bild eines Gottes als höchste Überwachungsinstanz: 'Der liebe Gott sieht alles.' Das war ein Gott, vor dem sich das Kind noch kleiner machen mußte, als es ohnehin schon war: 'Ich bin klein, mein Herz ist rein.' Letzteres war natürlich gelogen, um so größer die Furcht vor Aufdeckung des Schwindels und göttlicher Strafe. [...] Wer jemals als junger Mensch in den Krakenarmen einer Religion fast erstickt wäre, wer wertvollste Lebenszeit damit zubringen mußte, einen Arm nach dem anderen abzuhacken, um anschließend aufatmend ins Freie zu treten, all das endgültig hinter sich zu lassen, die Hölle und das Heil, die Erbsünde und die Erzengel, den Teufel und die Theologen, der ist, wie ich, ein gebranntes Kind."[72]

Wichtiger als eine Erklärung ist jedoch der schlichte Befund. Bei aller Distanz gegenüber der Kirche und jeder Form von Religion, die er explizit formuliert hat,[73] bezeugen (nicht nur) seine Texte, wie umfassend und genau Gernhardt sich in der biblischen und kirchlichen Tradition auskennt und wie gekonnt er "in Zungen rede[t]."[74] Dabei geht es weniger um den Umfang, in dem er Anleihen aus dem Sprachschatz der heiligen Schrift, der kirchlichen Tradition oder schlicht aus religiös aufgeladener Alltagssprache nimmt. Es geht um die Virtuosität und Tiefgründigkeit seiner "parodistischen Sprachhaltung"[75] auf dem Gebiet der Theologie. Die gewählten Beispiele versuchen, beides darzustellen und zu würdigen – von der Variation der creatio ex nihilo über die Umsetzungsästhetik zur Kennzeichnung der Unterschiedenheit Gottes von seiner Schöpfung bis hin zur Fallhöhe von den Archaismen zur Umgangssprache,[76] oder der Skizze einer anthropozentrischen Christologie.

Den Theologen interessiert bei derlei Streifzügen durch die Literatur zunächst schlicht der fremde Blick auf das eigene Thema. Ein wenig erstaunt nimmt er zur Kenntnis, daß Gernhardts Analyse der menschlichen Lebenswirklichkeit, wie sie in den hier ausgewählten Gedichten erkennbar ist, durchaus mit dem biblischen Menschenbild, etwa der Urgeschichte oder des Hiobbuches, oder der Theorie vom unfreien Willen zusammengeht. Selbst die negative Akzentuierung des Gernhardt’schen Gottesbildes, das den Abgrund der Unbegreiflichkeit Gottes durch Ironie und Sprachwitz erträglich zu machen versucht, hat sich nur einen Schritt weiter von der Theologie der spätalttestamentlichen Weisheitsliteratur entfernt. Daß Gernhardt diesen Gott nicht anders sehen kann als einen, der gekommen ist, "um uns ans Kreuz zu schlagen",[77] liegt letzten Endes an seiner anthropozentrischen Engführung der Christologie, die 'von unten' (vom Menschen Jesus) nicht mehr 'nach oben' (zu Gott) gelangt und damit die Soteriologie dem Menschen überläßt.

Was die theologische 'Querlektüre' dieser Texte so reizvoll macht, ist die ihnen eigene Mischung aus Melancholie und Heiterkeit. Humor und Heiterkeit haben in der Literatur – zumal seit dem Abschied von der Heiterkeit der Kunst bei Theodor W. Adorno (1967) und der Aufforderung zur Trauerarbeit bei Alexander und Margarete Mitscherlich (1967) – wie auch in der Theologie keinen leichten Stand.[78] Anders etwa als Kurt Marti, der in seinen Gedichten das Lachen als "Wärmestrom des Anti-Fatalismus" zur "Zynismusprophylaxe" einsetzt,[79] schwankt Gernhardts Lyrik zwischen verschiedenen Spielarten der Heiterkeit – Sprachartistik wie in "Schöpfer und Geschöpfe" oder "Finger weg", Parodie wie in "Choral", (Selbst)Ironie wie in "Ich sprach ...", Spott wie im "Gebet" – und dem zynisch-melancholischen Fatalismus eines "Hiob im Diakonissenkrankenhaus" oder, stärker noch, des "Jakobinische[n] Wandersmann[es]". Dabei erleichtert die (statistisch überwiegende) Heiterkeit den Zugang zur mitunter anspruchsvollen Sache. Die Melancholie enthebt die Heiterkeit dem Verdacht der mangelnden existentiellen Ernsthaftigkeit. Im Nebeneinander von beiden liegt die für Robert Gernhardt charakteristische Ästhetik, deren Wirkung sich auf dem per se eher komik-freien Gebiet der Religion und Theologie noch einmal anders entfaltet als sonst.

Ein Zusätzliches tut die Gedichtform. "Das Gedicht hat Qualitäten, die es zu einer Ausdrucksform machen, welche gerade der heutige, von Impressionen und Informationen überhäufte Mensch schätzen sollte: Es ist kurz, also rasch zu rezipieren. Neben Nachricht, Slogan und Witz zählt es zu den knappsten eingeführten sprachlichen Mitteilungsarten. Anders als die drei erstgenannten kann das Gedicht auf eine jahrtausendealte belegte Geschichte zurückblicken [...]."[80] Beides gilt auch für die hier traktierten Texte. Sie sind kurz – das Theodizee-Problem in acht Zeilen! Die Fallhöhe von der jahrtausendealten religiösen Poesie der Psalmen und den Gattungen christlicher Lyrik zur verspielten Reimerei des Zeitgenossen ist enorm. Heiterkeit allein schon hat in der Theologie ihren besonderen ästhetischen Reiz. Wieviel mehr erst Heiterkeit und Reim. "Das gewitzte Gedicht ist nicht zu schlagen."[81] Seine Ästhetik belebt die Theologie.

Niemand kann sagen, wieviel von alledem die Rezipienten, Gernhardts Zuhörer oder Leser, erkennen oder gar verstehen. Bibelkenntnisse und theologisches Sachwissen sind in der zunehmend säkularen Gesellschaft allenthalben stark rückläufig; Gernhardts Zugriff auf Texte und Themen ist oft sehr subtil. Gerade deshalb lohnt sich freilich die Beschäftigung mit seinem Werk. Es geht dabei nicht um eine "Instrumentalisierung der Literatur zur 'ancilla theologiae'."[82] Gernhardts Gedichte dokumentieren die Lebendigkeit kulturhistorischer Spuren des Christentums auch unter seinen Kritikern, "im Rat der Spötter" (Ps 1,1). Diese Spuren aufzuspüren, ist dem Theologen aufgetragen und im Fall von Robert Gernhardt mit besonderem Lustgewinn verbunden.

Anmerkungen
  • Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages im Rahmen der Aktion "Campus: City!" zum Abschluß des Projektes "Hochschulstadt Bielefeld 2003 – Wissen schafft Einblicke" am 28. Februar 2004 in der Boulevard Buchhandlung Bielefeld. Der Vortragsstil wurde z.T. beibehalten. Für die kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich Herrn Prof. Dr. Wolfgang Braungart (Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft).
  1. Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart u.a. 22003, Metzler, 453.
  2. Vgl. Klaus Cäsar Zehrer, Dialektik der Satire. Zur Komik von Robert Gernhardt und der "Neuen Frankfurter Schule", Osnabrück 2002, Der andere Verlag, bes. 153ff.
  3. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I (Marthens Garten), Z. 3415.
  4. Albrecht Schöne, Dichtung als verborgene Theologie. Versuch einer Exegese von Paul Celans 'Einem, der vor der Tür stand', Göttinger Sudelblätter, Göttingen 2000, Wallstein, 8.
  5. In: Wörtersee (1981) = Gedichte 1954-94, Zürich 1996, Haffmans, 117.
  6. "Gebet", in: Besternte Ernte (1976) = Gedichte (Anm. 5) 37; "Gespräch des Geschöpfs mit dem Schöpfer", in: Im Glück und anderswo. Gedichte, Frankfurt 2002, S. Fischer, 166; "Erdgebet" in: aaO, 246.
  7. In: Lichte Gedichte, Zürich 1997, Haffmans, 60.
  8. "Litanei vom Schmerz", in: Lichte Gedichte (Anm. 7) 197.
  9. "Schöpfer und Geschöpfe", in: Körper in Cafés (1987) = Gedichte (Anm. 5) 290.
  10. "Psalm", in: Wörtersee (1981) = Gedichte (Anm. 5) 117.
  11. "Die Geburt", in: Lichte Gedichte (Anm. 7) 30.
  12. "Der Tag des Herrn", in: Im Glück und anderswo (Anm. 6) 215.
  13. "Weils so schön war", in: Wörtersee (1981) = Gedichte (Anm. 5) 92.
  14. "Ökumenischer Dialog", in: Wörtersee (1981) = Gedichte (Anm. 5) 94; "Couplet von der Erblast", in: Lichte Gedichte (Anm. 7) 181.
  15. Vgl. Wilfried Barner (Hg.), Querlektüren. Weltliteratur zwischen den Disziplinen, Göttingen 1997, Wallstein.
  16. Aus: "Jakobinischer Wandersmann", in: Weiche Ziele (1994) = Gedichte (Anm. 5) 382-384. Zit: 383.
  17. Vgl."Intercity", "Das Hohelied vom Heimlichtun" und "Tischtuchgedicht", Gedichte (Anm. 5) 348f. 329f. 234.
  18. Vgl. das Interview von Tanja Rauch, Der Moralist als Spaßmacher. Im Gespräch: Robert Gernhardt, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 1. 12. 1995, 20ff.
  19. In: Körper in Cafés (1987) = Gedichte (Anm. 5) 290.
  20. Vgl. Gen 1,4.10.12.18.21.25 sowie Gen 1,31. Daß der Schöpfer damit nach Gernhardts Darstellung bereits am Ende von Gen 1 sein negatives Urteil über den Menschen aus Gen 6,5 vor und 8,21 nach der Sintflut vorwegnimmt, entspricht der literarhistorischen Wirklichkeit der betreffenden biblischen Texte: Es läßt sich zeigen, daß die positiven Aussagen über Schöpfung in Gen 1 aus der kritischen Perspektive von Gen 6ff. her formuliert worden sind.
  21. Vgl. nur Röm 4,7: "Gott, [...] der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, daß es sei."
  22. Vgl. Johann Andreas Quenstedt, Theologia didactico-polemica, Bd. 1, Wittenberg 21691 [11685], 531: "Deus res omnes conservat continuatione actionis, qua res primum produxit," Gott erhält alle Dinge durch die Fortführung des Handelns, durch das er die Dinge zum ersten Mal hervorgebracht hat.
  23. Ganz ähnlich findet sich dieses Motiv im "Gespräch mit dem Engel" (in: Weiche Ziele [1994] = Gedichte [Anm. 5] 382): "Das ist das Stöhnen Gottes / beim Betrachten seiner Welten. / Das heißt: Manchmal lacht er auch über sie. / Aber selten."
  24. In: Körper in Cafés (1987) = Gedichte (Anm. 5) 289.
  25. Dorothea Sattler / Theodor Schneider, Schöpfungslehre, in: Handbuch der Dogmatik, Bd. 1, hg. v. Theodor Schneider, Düsseldorf 21995 [ND 2000], Patmos, 120-238, 155f.
  26. In: Besternte Ernte (1976) = Gedichte (Anm. 5) 37; auf die Melodie "Stille Nacht, heilige Nacht" vorgetragen vom "Neuen Frankfurter Schulorchester" ("Attaca!" Mitschnitt der Uraufführung in der Alten Oper Frankfurt vom 2. Februar 2002).
  27. Paul Celan, Tenebrae (1959), V.3, in: ders., Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann, stb 3665, Frankfurt a. M. 2005, Suhrkamp, 97. Bereits in Hi 40,10-14 nennt Gott Umstände, unter denen er Hiob preisen würde (hebr. ydh hif.); die Aussage hat freilich einen ironischen Ton und steht im Kontext einer Gottesrede, nicht als Anspruch an Gott aus Menschenmund.
  28. In: Lichte Gedichte (Anm. 7) 60.
  29. Martin Luther, De servo arbitrio (1525), WA 18,635 [Übersetzung: H. Jürgens, in: Heiko A. Oberman, Die Kirche im Zeitalter der Reformation. Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. 3, Neukirchen-Vluyn 31988, Neukirchener Verlag, 121].
  30. Allein im Stammteil Evangelischen Gesangbuches (Lieder Nr. 1-535) finden sich 31 Lieder mit dem Incipit "O ..."; Strophenanfänge innerhalb der Lieder nicht mitgezählt; vgl. Evangelisches Gesangbuch, Stammausgabe, Hannover u.a. 1993, Lutherisches Verlagshaus.
  31. In: Weiche Ziele (1994) = Gedichte (Anm. 5) 382-384.
  32. Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe, hg. v. Louise Gnädinger, RUB 8006, Stuttgart 2001, Reclam, 72 [Andertes Buch, Nr. 8]. Zum "Ja" ist dort angemerkt: "allusio ad Nomen Dei Hebraicum I. A. H."
  33. In: Im Glück und anderswo (Anm. 6) 166.
  34. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee [Essais de Théodicée, 1710], übers. v. A. Buchenau, PhB 71, Hamburg 1925 u.ö., Felix Meiner.
  35. In: Lichte Gedichte (Anm. 7) 200.
  36. Der Zusammenhang von Schuld und Strafe ist Gernhardt allerdings nicht grundsätzlich fremd; daß Gott Menschen straft, behauptet er im Blick auf ehebrecherische Männer (vgl. "Gestrafte Männer", in: Lichte Gedichte [Anm. 7] 25).
  37. In: Lichte Gedichte (Anm. 7) 57.
  38. Die Vorstellung, daß Gott ein Gegenüber brauche, ist der klassischen christlichen Dogmatik zufolge häretisch, denn sie beschränkt die Freiheit Gottes, ohne die er nicht Gott wäre. Gleichwohl hat man den Gedanken, daß Gott des Menschen bzw. einer Schöpfung bedürfe "in der christlichen Spekulation überraschenderweise oft nicht einmal als Blasphemie, sondern als eine besondere Verherrlichung Gottes verstanden, [Gottes,] der in seiner unendlichen Lebendigkeit aus sich heraustreten, sich verwirklichen, denken, lieben und erschaffen 'muß', der also um seines Wesens Willen auch Schöpfer sein ›muß‹." (Wolfgang Trillhaas, Dogmatik, Sammlung Töpelmann I/3, Berlin 1962, Alfred Töpelmann, 136). Gernhardt hat diese Vorstellung vermutlich bei Angelus Silesius gefunden: "GOtt lebt nicht ohne mich. Jch weiß daß ohne mich GOtt nicht ein Nun kan leben / Werd’ ich zu nicht Er muß von Noth den Geist auffgeben." (Angelus Silesius, aaO [Anm. 32] 28 [Erstes Buch, Nr. 8]). Vgl. ders., Erstes Buch, Nr. 96, "Gott mag nichts ohne mich." (aaO, 41) und die Vorrede (bes. aaO, 20f); ferner Rainer Maria Rilke, Ausgewählte Werke, Bd. 1, Frankfurt 1966, Insel Verlag, 31 (aus dem "Stundenbuch"): "Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? / Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?) / Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?) / Bin dein Gewand und dein Gewebe, / mit mir verlierst du deinen Sinn. [...]" Aus der aktuellen theologischen Diskussion vgl. Werner Licharz/Milton Aylor (Hg.), Gott braucht den Menschen, der Mensch fragt nach Gott. Ein Dialog mit Abraham Joshua Heschel, Theos 56, Hamburg 2003, Kovac.
  39. 1. Joh 4,10: "Darin besteht die Liebe: nicht, daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden." Zur Bestimmung des Wesens Gottes als Liebe vgl. Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin 1995, de Gruyter, 237ff.
  40. Diese Übersetzung verdanke ich – wie den entscheidenden Zugang zum Hiob-Stoff und seiner Bedeutung für die Theologie – der Hiob-Vorlesung von Lothar Perlitt im Wintersemester 1992/1993 an der Georg-August-Universität Göttingen (Zit. nach der Mitschrift des Vf.).
  41. Georg Langenhorst, Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung, Theologie und Literatur 1, Mainz 1994, Grünewald-Verlag, 333. – Aus dem Œuvre Robert Gernhardts behandelt Langenhorst allerdings nur die Erzählung "Kippfigur" (im Zusammenhang der Hiob-Satire, aaO, 312f).
  42. Lothar Perlitt, aaO (Anm. 40).
  43. Ebd.
  44. Angelus Silesius, aaO (Anm. 32) 223 (Fünftes Buch, Nr. 247) [Hervorhebung: J.G.].
  45. Aus: "Jakobinischer Wandersmann" (Anm. 16) [Hervorhebung: J.G.]. – Das oben beschriebene Verfahren der Aufnahme und Fortschreibung gilt für fast alle Strophen des "Jakobinischen Wandersmann", vgl. Str. 1 mit Silesius, Buch III/Nr. 233, Str. 2 mit V/247, Str. 3 mit V/264, Str. 4 mit II/201, Str. 5 mit I/224, Str. 6 mit I/288, Str. 7 mit I/289, Str. 8 mit I/66, Str. 9 mit II/96, Str. 10 mit I/184, Str. 11 mit II/4, Str. 12 = I/204, Str. 13 mit II/30. Gernhardts Auswahl und Umdeutung der Vorlage verdient eine eigene Untersuchung.
  46. Vgl. z.B. Heinrich Schmid, Die Dogmatik der Evangelisch-Lutherischen Kirche, dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 71893, Bertelsmann, 67.
  47. Vgl. Plut Caes 50,3; Suet Caes 37,2; historischer Kontext ist der Sieg Caesars über den König Pharnakes II. vom Bosporus 47 v. Chr.
  48. Vgl. Koh 7,13f: "Betrachte das Wirken Gottes: Ja, wer kann gerade machen, was er gekrümmt hat? Am guten Tage laß es dir wohl ergehen und am bösen bedenke: Auch diesen wie jenen hat Gott gemacht, – und weiterhin, daß der Mensch hernach auf nichts mehr trifft." Zur Theologie Kohelets vgl. Otto Kaiser, Anweisungen zum gelingenden und gesegneten Leben. Eine Einführung in die biblischen Weisheitsbücher, ThLZ.F 9, Leipzig 2003, Evangelische Verlagsanstalt, 32-56.
  49. Vgl. das Lied der Parzen in Goethes "Iphigenie auf Tauris" [1787] (Johann Wolfgang von Goethe, Werke, hg. v. Erich Trunz, Bd. 5, München 121994, C. H. Beck, 54f [Z. 1726ff]). Eine ähnliche Tendenz hat Ernst Blochs (sich von den biblischen Texten weit entfernende) Deutung Hiobs als eines "hebräische[n] Prometheus", vgl. Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Reinbek b. Hamburg 1970, Rowohlt, 113, und die Kritik dazu bei Diether Gerbracht, Aufbruch zu sittlichem Atheismus. Die Hiob-Deutung Ernst Blochs, EvTh 35 (1975) 223-237.
  50. Aus: "Jakobinischer Wandersmann" (Anm. 16).
  51. Ebd.
  52. "Gesegnete Mahlzeit", in: Im Glück und anderswo (Anm. 6) 28.
  53. Die von Gernhardt beschriebenen religiösen Akte (vor allem Gebete) sind freilich allesamt Zeugnisse des stolzen, emanzipierten Menschen und insofern keineswegs der Versuch, Gott für sich einzunehmen.
  54. "Ja und Amen 9 Uhr 30", in: Klappaltar, Zürich 1998, Haffmans, 71f.
  55. Belege im Reimwörterbuch bei Daniel Arnet, Der Anachronismus anarchischer Komik. Reime im Werk von Robert Gernhardt, EHS I/1587, Bern u.a. 1996, Peter Lang, 177.
  56. Aus: "Ich über mich", in: Besternte Ernte (1976) = Gedichte (Anm. 5) 52f.
  57. Gernhardt adaptiert hier die Vorstellung von der Präexistenz und der Schöpfungsmittlerschaft Christi; vgl. Joh 1,3; 1Kor 8,6; Hebr 1,2 u. bes. die altkirchliche Christologie (Apologeten des 2. Jh.).
  58. Vgl. z.B. Mk 2,1-12 parr.; Mt 4,24; 8,6 par.; 9,2 par.; 11,5 par.; 15,30f; 21,14; Joh 5,1-9. Die Apostelgeschichte berichtet auch von Heilungen durch Jünger (3,2; 8,7; 9,33; 14,8).
  59. Vgl. "Erdgebet", in: Im Glück und anderswo (Anm. 6) 246: "Himmel, großer Deckel du, / deck mich kleine Erde zu. / Hab ich Unrecht heut getan, / zeige mich bei Gott nicht an. / Läßt du mich nur selig ruhn, / will ichs morgen wieder tun." Die Verse parodieren das als Kindergebet weit verbreitete geistliche Abendlied "Müde bin ich, geh zur Ruh" von Luise Hensel (1817), vgl. Evangelisches Gesangbuch (Anm. 30) Nr. 484.
  60. Zu Gott s. oben unter 2.). Zum Teufel bzw. Satan vgl. z.B."Lied", in: Wörtersee (1981) = Gedichte (Anm. 5) 81; "Die Geburt", in: Lichte Gedichte, (Anm. 7) 30; "Gestrafte Männer", aaO, 25; "Ritter, Tod und Teufel", aaO, 202; "Der Tag des Herrn", in: Im Glück und anderswo (Anm. 6) 215; "Versucher zum Ersten [... Zweiten / Dritten / Vierten]", in: Klappaltar (Anm. 34) 69.74.79.80. Die Rolle des Teufels im Blick auf das Böse und im Verhältnis zu menschlicher (Mit)Schuld ist dabei durchaus unterschiedlich; auch das Verhältnis zwischen Gott und dem Teufel bleibt in Gernhardts Gedichten unklar.
  61. Angelus Silesius, aaO (Anm. 32) 76 (Andertes Buch, Nr. 30).
  62. Aus: "Jakobinischer Wandersmann" (Anm. 16).
  63. "Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf." (Gen 8,21).
  64. Vgl. Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Sechster Band. L. M. Bearbeitet von Moriz Heyne, Leipzig 1885, S. Hirzel [= ND München 1999, Bd. 12], 2087. Als Beispiele dienen dort u.a. Friedrich Schiller ("wenn du ein Mensch bist und ein menschliches Herz hast") und Johann Gottfried Herder ("menschlich, edel und guttätig").
  65. In: Wörtersee (1981) = Gedichte (Anm. 5) 88.
  66. Mit der Christusbezeichnung "Heiland", dem als Gebetsanrede gebräuchlichen "Herr Jesus" und dem Diminuitiv "Kindlein" greift Gernhardt erneut auf sprachliche Archaismen als Stilmittel zurück, durch die er Komik erzeugt, indem er sie mit schlichten Paarreimen und umgangssprachlichen Wendungen wie "ich heiße Hase", "doch sehr" oder ›für etwas sprechen‹ (und letztlich auch "Plädoyer" statt 'Bekenntnis') komponiert.
  67. Vgl. dazu Ulrich Kühn, Christologie, UTB 2393, Göttingen 2003, Vandenhoeck & Ruprecht, 29-91. Ein ganz ähnliches Bild von Jesus als Mensch für die Zukunft des Menschseins findet sich in der marxistischen Philosophie des 20. Jh.s, vgl. etwa das Jesus-Kapitel bei Vítezslav Gardavský, Gott ist nicht ganz tot. Betrachtungen eines Marxisten über Bibel, Religion und Atheismus, München 1968, Kaiser, 48ff.
  68. Obwohl Gernhardt traditionelle christologische Terminologie gebraucht, wenn er in seinen Gedichten vom "Heiland" (in: "Plädoyer" [und "Ich sprach ..."]), vom "Herrn Christ" (in: "Choral" und "Plädoyer"), oder vom "Gotteslamm" (in: "Choral") spricht, thematisiert er damit inhaltlich nicht die spezifische Gottesbeziehung Jesu und seine darin begründete soteriologische Funktion für den Menschen. Die Vorstellung des stellvertretenden Opfertodes Jesu, der für den Menschen Gnade, Versöhnung und ewiges Leben erwirkt, spielt in Gernhardts Gedichten keine Rolle. Die Bedeutung Jesu für die Frage des Menschen nach Gott wird dabei allenfalls indirekt thematisiert, wenn man seine Zuwendung zu den Sündern im Sinne einer über die rein zwischenmenschliche Gemeinschaft hinausgehenden Integrationsfunktion versteht oder seine Beschreibung des Weges zum Heil als eine über ein gelingendes irdisches Leben hinausweisende Botschaft vom Heil hört.
  69. Vgl. Walter Bühlmann / Karl Scherer, Sprachliche Stilfiguren der Bibel. Von Assonanz bis Zahlenspruch. Ein Nachschlagewerk, Gießen 21994, Brunnen, 37f.
  70. Der "Jakobinische Wandersmann", auf den immer wieder ausschnittweise zurückgegriffen wurde, verdient als Ganzes eine ausführliche eigene Analyse.
  71. Albrecht Schöne, aaO (Anm. 4) 10.
  72. Interview mit Tanja Rauch, aaO (Anm. 18).
  73. Vgl. Klaus Cäsar Zehrer, aaO (Anm. 2) 184ff.
  74. Robert Gernhardt, In Zungen reden. Stimmenimitationen von Gott bis Jandl, Frankfurt a.M. 2000, Fischer Taschenbuch Verlag.
  75. Petra Kiedaisch, Ist die Kunst noch heiter? Theorie, Problematik und Gestaltung der Heiterkeit in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 87, Tübingen 1996, Niemeyer, 256.
  76. Zur "Fallhöhe" als terminus technicus der Komiktheorie vgl. Robert Gernhardt, Gedanken zum Gedicht, München / Zürich 2002, Diana, 35f.
  77. Aus: "Jakobinischer Wandersmann" (Anm. 16).
  78. Vgl. Theodor W. Adorno, Ist die Kunst heiter [SZ vom 15./16. 7. 1967], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1974, Suhrkamp, 599-609; Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967, Piper. Zum Ganzen: Harald Weinrich, Kleine Literaturgeschichte der Heiterkeit. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe, München 2001, C. H. Beck; speziell zur Entwicklung nach 1945 die Arbeit von Petra Kiedaisch (Anm. 75). Aus dem Bereich der Theologie vgl. z.B. Peter Bukowski, Humor in der Seelsorge. Eine Animation, Neukirchen-Vluyn 22001, Neukirchener, und Thomas Holtbernd, Humorzitien. Die etwas anderen Exerzitien, Münster 2004, Aschendorff (jeweils mit weiterer Lit.).
  79. Karl-Josef Kuschel, Im Spiegel der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1997 [ND 2000], Patmos, 103f; Textbeispiele aaO, 96ff.
  80. Robert Gernhardt, aaO (Anm. 76) 9.
  81. Steffen Jacobs, Wider den lyrischen Ernst, FAZ vom 9. 3. 2004, 35.
  82. Josef Kopperschmidt, Gott ist tot. Versuch über die literarische Umsetzung dieses Satzes, in: ders. (Hg.), Der fragliche Gott. Fünf Versuche einer Antwort, Düsseldorf 1973, Patmos, 67-108: 68.

© Johannes Goldenstein 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 35/2005
https://www.theomag.de/35/jg1.htm

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