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Magazin für Theologie und Ästhetik


White Cube XVI

Markus Kleine-Vehn - about: Der hl. Lukas malt die Jungfrau Maria

Karin Wendt

Setzt das Internet neue ästhetische Maßstäbe? Wenn ja, wie sehen sie aus bzw. wie lassen sie sich sichtbar machen? Oder werden die Maßstäbe lediglich anders angelegt, so dass man von einer spezifischen Verschiebung traditioneller Fragestellungen sprechen müsste? Erscheinen uns ästhetische Kriterien nur in einem anderen Licht, hat sich also der Kontext geändert, oder gehen wir unter digitalen Bedingungen tatsächlich anders mit Wahrnehmungsmustern um und nehmen also anderes wahr? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die Internetarbeiten des Künstlers Markus Kleine-Vehn. In seinem jüngsten Projekt unterzieht er ein berühmtes Beispiel der altniederländischen Tafelbildmalerei einer digitalen Bearbeitung. "Within the context of digital visual media my work critically reflects the status of the traditional media of painting. I focus in particular on the relation between digital representations and the classical panel."[1] Zur Erläuterung heißt es:

  1. Ein Gemälde wurde zur Ablage in einer Datenbank reproduziert und komprimiert.
  2. Die datenreduzierte Abbildung des Gemäldes wird der Datenbank entnommen und auf ihre Ausgangsgröße reskaliert.
  3. Die reskalierte Abbildung des Gemäldes kann mit Hilfe eines Viewers am Rechner ausschnittweise in Originalgröße betrachtet und ausgedruckt werden.

    Basis: Rogier van der Weyden
    -> Der hl. Lukas malt die Jungfrau Maria, um 1435-1440, Öl auf Holz, 140 x 110 cm
    Boston, Museum of Fine Arts
    -> Start

    Klickt man auf -> Start, erscheint das folgende Bild

Der Betrachter sieht eine dunkle Fläche, die sich, sobald er mit der Maus darüber fährt, Rechteck für Rechteck erhellt. Scharf gestellt sieht man einen bestimmten Ausschnitt aus einem Gemälde, während das Umfeld genau diesen Ausschnitt in Originalgröße und damit für das Auge unscharf, wie zu nah herangezoomt, zeigt. Erkennbar ist also immer nur das gerade aktivierte Feld. Wie ein Maler die Palette mischt, Details malt und wieder verwirft, so bewirkt der Benutzer durch die Bewegungen mit der Maus scheinbare Farbverwischungen. Nach und nach erschließt sich das in acht mal acht Segmente gerasterte Bild, man lässt sich auf die Qualität des Unscharfen ein und erlebt mehr und mehr die im Bild wechselnden Farbvalenzen. Mit der Beschleunigung der Mausbewegung bleiben mehrere Felder gleichzeitig scharf, die Idee, das Bild würde sich als ganzes scharf stellen, wenn man nur schnell genug möglichst viele Segmente aktiviert, erweist sich jedoch als falsch. Weil man natürlich aber mehr sehen will, als das, was das Auge in der Lage ist, für den Moment und in der Folge wahrzunehmen, folgt man bald dem Link "Drucken". Auch im Ausdruck bleiben größere Partien des Gemäldes jedoch nur in einem Screenshot sichtbar.

Kleine-Vehn geht es aber nicht bloß um eine Analogie zwischen dem Malen mit dem Pinsel und dem Aktivieren von Signalen, sondern das Fahren über das Bildfeld bildet erst den Anfang eines Weges oder einer Spur, um etwas über das Bild zu erfahren. Daher legt er die Basis seiner Arbeit offen und verlinkt unter dem Titel das Gemälde dort, wo es in der Datenbank gespeichert ist. Folgen wir diesem Link, sehen wir das ganze Bild: das fürstliche Gemach, das zwischen Säulen den Blick auf einen tiefer gelegenen Garten mit einer schmalen Terrasse freigibt, wo ein Mann und eine Frau mit dem Rücken zu uns weit in eine Flusslandschaft mit angrenzenden Häuserfluchten blicken. Wir sehen, dass Maria unter einem Baldachin auf einem Thron, dem Zeichen ihrer Hoheit, sitzt, während sie ihr Kind stillt. Und wir sehen genau, wie der Evangelist Lukas, dem im rechten Nebenraum ein Stier zur Seite steht, mit einem Silberstift auf einer Tafel die Madonna porträtiert. Wir erkennen jetzt das schöne Muster des Fußbodens, das tiefe Blau von Marias und das leuchtende Rot von Lukas Mantel. In der Datenbank sind außerdem der Standort und Hinweise zu seiner kunsthistorischen Bedeutung notiert. Dort erfahren wir u.a., dass sich das Original heute im Museum of Fine Arts in Boston befindet. Hat man dies gelesen, so ist man bereits unweigerlich auf dem Weg zur eigenen Recherche, die wissenschaftliche Neugier oder auch nur die Gewohnheit lassen einen weiter forschen. So ergeben sich interessante Details. Von dem Gemälde gibt es drei weitere Fassungen, eine in Brügge, die zweite in St. Petersburg und die dritte in der Alten Pinakothek in München. Mit Hilfe von Röntgenaufnahmen hat man feststellen können, dass die Bostoner Fassung die originale ist. So wurden oberhalb des Kopfes der Maria Übermalungen gefunden. Rogier van der Weyden hatte also bereits selbst Änderungen im Bild vorgenommen.

Neu an der altniederländischen Kunst war, dass das darstellerische Interesse nicht nur dem zentralen Thema galt, sondern mindestens genauso der Schilderung der Umgebung, der Charakterisierung von Details und Oberflächenbeschaffenheiten und nicht zuletzt der perspektivischen Tiefenwirkung. Dass der Glanz von Stoffen, die feinen Zeichnungen von Goldstickereien, die Zartheit des Inkarnats und die Kühle von Steinfußböden so greifbar und real erscheinen, verdankt sich vor allem einer ausgereiften Anwendung der Ölmalerei, die zwar früher bereits bekannt gewesen war, die jedoch erst Künstler wie Rogier van der Weyden oder sein Zeitgenosse Jan van Eyck wirklich beherrschten. Der Aufbau in Lasuren, die nicht decken, sondern transparent bleiben, erlaubte anders als die in Italien gängige Temperatechnik eine ungewohnte materiale Differenzierung. Diese Materialität, so scheint es, interessiert Kleine-Vehn nicht direkt. Die Komplexität des Aufbaus, die Schichtentechnik der niederländischen Malerei also, findet sich aber wieder in der mehrschrittigen Bearbeitung der Vorlage, dem Scannen, Komprimieren und Reskalieren. Dem Erzeugen von Scheinmaterialität im Gemälde korrespondiert vielleicht so der künstlerische Umgang mit digitalen Ressourcen als Materie.

Das religiöse Thema der Lukasmadonna, das den Akt der Anbetung mit dem Vorgang des Malens, also der Beobachtung und der Nachahmung verknüpft, lässt sich auch umgekehrt deuten als Selbstporträt des Malers, der seine Arbeit als Sehen und Zeigen des Göttlichen und mithin als Kunst des Schauens versteht. Wenn der niederländische Künstler Malen als einen symbolischen Akt der Vergegenwärtigung interpretiert, könnte man sagen, dass Kleine-Vehn das Verfahren der Digitalisierung als Verlust an Wahrnehmungsschärfe deutet? Zeichnet sich das Gemälde von van der Weyden durch eine souveräne Eroberung des Tiefenraumes aus, so hat sich bei Kleine-Vehn der Raum erneut verschlossen, genauer verdunkelt und verunklart. Während der konsequente Einsatz der Zentralperspektive im Gemälde die räumliche Einheit des Bildes schafft und die Unterscheidung verschiedener Schauräume ermöglicht, zerstört Kleine-Vehn dieses perspektivische Kontinuum, indem er es zergliedert und nur in Ausschnitten sichtbar macht. Die Zergliederung bedeutet jedoch keine willkürliche Fragmentierung, sondern folgt einer kalkulierten Teilung. Mit der Zerlegung des Bildes in einzelne Segmente entstehen keine zweidimensional aneinandergrenzende Flächen, sondern ineinander verrechnete Raumebenen, die jeweils virtuell das ganze Bild enthalten. Gleichwohl hat der Betrachter zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit einer exakten Rekonstruktion des Ganzen über die Summe aller Teile. Sichtbar wird ja jeweils etwas anderes vom Bild, mithin ein anderes Bild, in dem ein präzises Detail mit seiner unscharfen Vergrößerung 'malerisch’ zusammenspielt. Mit Hilfe von Flashprogrammierung werden trotz Einsatz von streng rationalen Verfahren wie teilen, skalieren und zuordnen keine eindeutigen Informationen vom Bild erzeugt. Dass diese ästhetische Öffnung aber möglich ist, ohne das ursprünglich Ganze zu zerstören, verweist uns darauf, dass die künstlerische Vorlage nicht das Originalgemälde ist, sondern bereits dessen digitale Repräsentanz. Die Internetarbeit hilft uns daher weniger zu entziffern, wie das Gemälde gemacht ist, sondern eine Vorstellung davon zu bekommen, wie weit und inwieweit wir vom Original entfernt sind. Darin stellt sie nicht zuletzt die Frage nach dem Verhältnis von einem Bild und einem ästhetischen Bild, sprich einem Kunstwerk. Wenn wir ein Bild sehen, entwickeln wir Vorstellungen vom abgebildeten Gegenstand. Wenn wir dagegen ein Kunstwerk sehen, können wir erfahren, welche Projektionen einfließen, wenn wir vom Bild auf den abgebildeten Gegenstand zu schließen versuchen. In diesem Sinne ist das Projekt "about: der hl. Lukas malt die Jungfrau Maria" mehr als ein Bildschirmschoner - als den man die Arbeit, wie der vom Künstler angebrachte Link "Screensaver" zum Download andeutet, gleichwohl problemlos einsetzen und auch genießen kann.

Was bei den perspektivisch entworfenen Räumen der Niederländer des 15. Jahrhunderts auffällt, ist, dass trotz ihrer Großzügigkeit die Figuren darin weniger mit der Handlung als mit dem Schauen beschäftigt sind. Wolfgang Kemp schreibt dazu: "In der niederländischen Malerei dagegen nehmen die Dritten einen anderen Charakter an; als vornehmlich anschauende Subjekte werden sie sowohl unbeweglicher als auch teilnahmsloser. In bezug auf die Figurenregie hat Riegl die Phänomene des beziehungsarmen Nebeneinander, der Passivität und der Unabhängigkeit vom Gegenstand der Handlung als ein Spezifikum der holländischen und weitergehend der nordischen Malerei bezeichnet. 'Koordination’ statt 'Subordination’, 'äußere’ (sprich vom Betrachter herzustellende) versus 'innere’ (sprich: vom Bild hergestellte) 'Einheit’ sind bekanntlich die Oppositionen, die er für den holländischen und den italienischen Kompositionsstil verbindlich gemacht hat. Die Maximen des nordischen Malers lauten danach: '[...] erstens die Haupthandlung durch Entgegensetzung von Nebenhandlungen nach Möglichkeit jeder subordinativen Wirkung zu entkleiden, zweitens an Stelle des aktiven Willens, der die Handlung diktieren sollte, nach Möglichkeit den Ausdruck des passiven Gefühls und namentlich der neutralen, Aktives und Passives vereinigenden Aufmerksamkeit zu setzen.’"[2] Die Figuren im Raumtyp des 15. Jahrhunderts, so folgert Kemp, erscheinen deshalb so passiv und vor allem dem Schauen verpflichtet, weil sie als "Bewohner, ja Funktionäre des Anschauungsraumes [...] die Pluralität der Teilanschauungen und auch die Pluralität der Anschauungsformen 'wahrzunehmen’" haben.[3] Fragt man sich, was aus diesem ästhetischen Konzept vom Raum als Anschauungsraum in der kritischen Aneignung von Kleine-Vehn geworden ist, so könnte man sagen, dass genau diese neue Dimension integriert erscheint. Seine Arbeit macht die Verselbstständigung der Anschauung sichtbar, indem sie uns mit der Bewegung der Maus die Vielfalt der Teilanschauungen vor Augen führt. So ist es auch ein Versuch zur Re-Visualisierung ästhetischer Neuerungen aus der Perspektive ihres möglichen Verschwindens. Die buchstäbliche Zergliederung eines Bildes in Anschauungs-Formen verbindet sich dabei jedoch nicht mehr mit einer übergeordneten (Sinn-)Ebene eines ganz neuen Gemäldes, in dieser Hinsicht ist sie daher wohl nicht als Symbol, vielleicht aber als ein Symptom (Baudrillard) der Gegenwart zu deuten.

Anmerkungen
  1. Markus Kleine-Vehn, Statement, http://www.rhizome.org/print.rhiz?32224
  2. Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996, S. 136 und Fußnote 122 (A. Riegl: Das holländische Gruppenporträt, Wien 1931, S. 13).
  3. A.a.O., S. 144.

© Karin Wendt 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 35/2005
https://www.theomag.de/35/kw42.htm