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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren XX

Aus der Bücherwelt

Karin Wendt

Die gespaltene Moderne

Es gibt nur wenige Kunsthistoriker, die ihr Urteil so sehr an der Kunst der Moderne gebildet und in ihrem Rückspiegel die Geschichte der Kunst gerade in ihren Ambivalenzen lesbar gemacht haben wie Werner Hofmann. 1960 bis 1969 wirkte Hofmann als Gründungsdirektor des Museums des 20. Jahrhunderts in Wien und leitete anschließend bis 1990 die Hamburger Kunsthalle. In epochalen Ausstellungen wie die Serie "Kunst um 1800", in Vorträgen und Lehre sowie in zahlreichen Büchern hat er seine These von der kritischen Funktion der Kunst bis heute vertreten und exemplifiziert: Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830 (1995); Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte (1998); Caspar David Friedrich (2000); Goya. Vom Himmel durch die Welt zur Hölle (2004), sind nur die jüngsten. In 16 Aufsätzen liefert der hier vorgestellte Band nun seinerseits eine Art Brennglas, das Hofmanns ästhetische Reflexionen aus rund fünf Jahrzehnten bündelt, aber auch bricht und vielfältig untereinander reflektiert.

Das erste Kapitel trägt die Überschrift "Integration der Ambivalenz" nach einem Zitat von Gottfried Benn und stellt drei Essays über die Aktualität ästhetischer Gegenentwürfe zu Beginn des Jahrhunderts an den Anfang: erstens zur Kunst ("Kunst und Gegenkunst"), zweitens zur Ausstellungskultur ("Das Bild nicht mehr Ausschnitt der Welt. Versuch über den Rahmen") und drittens zur Wirklichkeit ("Der Gewinn an neuer Wirklichkeit. Über die bildnerische Situation unserer Zeit"). Diesem historischen Aufriss für die Gegenwart folgen zwei ausführliche Studien dazu, wie wichtige Protagonisten der Moderne: Kandinsky und Picasso, Ambivalenzen ihrer eigenen Arbeit im Werk selbst reflektiert und fruchtbar gemacht haben.

Im zweiten Kapitel "Leitbilder" stellt Hofmann Geisteswissenschaftler vor, die jeweils auf ihrem Gebiet den Spaltungen im modernen Denken ihre Stimme gaben und damit für ihre Disziplin ein bestimmtes Format prägten, das auch für Hofmanns eigene Forschung leitend wurde. Mit Jakob Burckhardts Auffassung von Geschichte als Palimpsest ("Gesichtspunkte für Jegliches"), Friedrich Nietzsches philosophischer Begabung für "Doppelblicke und Gegenwahrnehmungen", Aby Warburgs Verfahren der "Konstellationen", Julius von Schlossers Begriff der Kunst als einem "offenen System", Ernst Gombrichs Idee der "gestörten Form", Hans Sedlmayer "im Banne des Abgrunds" und Marcel Duchamp und Henri Matisse als zwei Künstlern "am Nullpunkt der Malerei" erschließen sich dem Leser nach und nach Gedankenwelten, die bis heute komplexe Wirkung zeitigen.

Was für Energien werden durch die Spaltungen freigesetzt? Das Thema der im dritten Kapitel versammelten Texte ist "das Verunsicherungspotenzial der Moderne, das sich in Entgrenzungen, Vermischungen und Revokationen ereignet." (S. 119) Nach einer Formulierung von Friedrich Nietzsche "... so bewegt sich die Kunst ihrer Auflösung entgegen" untersucht Hofmann darin Kriterien und Konsequenzen für das Merkmal der Polyfokalität, das er sowohl den modernen Kunstwerken als auch den Verfahren zu ihrer Analyse zuschreibt. Diese drei letzten Texte sind die anspruchvollsten und führen souverän vor, wie es Hofmann immer wieder gelingt, die Symptome der Moderne, Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit, lange vor dem 18. Jahrhundert aufzuspüren und in Theorie und Praxis nachzuzeichnen.

Bereits im Mittelalter werden die Grundlagen zu einer Ästhetik der Deformation gelegt, die die Moderne dann als Ästhetik des Hässlichen für sich reklamiert. An der Kunstform des Capriccio zeigt Hofmann, wie vielfältig und dicht mitunter Spuren nach hinten und nach vorne weisen. In einer geistreichen Montage aus Jean Paul und Shakespeare ("Glühend Eis" und "schwarzer Schnee") spürt er dem sukzessiven Terraingewinn nach.

Im zweiten Text geht es um "Geplante Zufälle, gestörte Konzepte", ein Parcours durch die Schrift- und Bildkultur der Romantik, deren Genese er durch Vorläufer wie Dürer, Leonardo da Vinci oder Erasmus von Rotterdam erläutert und deren Ästhetikrezeption er in den Werken von Paul Klee oder Piet Mondrian nachweisen kann.

"Das gespaltene Pathos der Moderne" ist schließlich der programmatische Titel des letzten Aufsatzes, in dem Hofmann dem, was man den modernen ‚Geist' nennen könnte, auf die Spur zu kommen versucht. Ob die Moderne auch mit gespaltener Zunge redet, wenn sie sich mit Widersprüchen auseinandersetzt? Die kritische Revision von Strategien der Moderne, wie "Gesten der Verweigerung und des Verlernens" zeigt einen Energieverbrauch an, den Hofmann jedoch vorrangig als Akzentverschiebung auswertet: "aus der einträchtigen Zwietracht wurde eine zwieträchtige Eintracht, wie die Ambitionen von Duchamp, Breton, Schwitters und Kandinsky demonstrieren. Sie tragen nicht die Vorzeichen einer pristinen Neuheit, eines Neuen Menschen, sondern verweisen das sogenannte Projekt der Moderne in die Bezirke der ideologischen Wunschbilder. Konsolidiert trat die Moderne folgerichtig in das Kontinuum größerer geschichtlicher Zusammenhänge ein. Heute sehen wir, dass im gespaltenen Pathos zwar ein Bruch vorliegt, doch in diesem Bruch kündigt sich zugleich der Rückbezug auf uralte Problemfelder und Orientierungsmuster an. Es sind solche, die sich mit dialektischen Mehrsinnigkeiten befassen und dafür ambivalente Erklärungsfiguren anbieten." (S. 179-180)

Statt eines Schlusswortes formuliert der Autor "Neue Ungewissheiten". Nachdenklich stimmt seine Einschätzung unseres ästhetischen Urteilsvermögens: "Zu den angeborenen Ungewissheiten des Gebilde-Bildes gehört die Tatsache, dass wir ihm nicht mit rationalen Kriterien beikommen können. Wir verfügen über keine objektiven Maßstäbe. Demnach gründen unsere Werturteile im subjektiven Ermessen, hinter dem sich das (ehrlichere) 'je sais quoi' versteckt. Dazu bekennt sich heute niemand: Künstler und Kritiker wollen als Überzeugungstäter überzeugen, nicht als ins Ungewisse tastende Schlafwandler." (S. 186) Im Klappentext heißt es: "Hofmann zeigt in diesem Essayband, dass die Moderne nicht ein linear gedachtes Projekt darstellt, sondern sich in Ambivalenzen und Selbstwidersprüchen ereignet." In der Tat zeigt Hofmann dies in der Analyse unzähliger Beispiele, die er oft genug verblüffend neu miteinander in Beziehung setzt. Nicht nur der Ertrag, sondern bereits die Lektüre seiner Texte ist daher so inspirierend.


© Karin Wendt 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 35/2005
https://www.theomag.de/35/kw43.htm

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