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Magazin für Theologie und Ästhetik


Merkwürdige Literatur

"Zum Nutzen und Vergnügen eines sowohl melancholischen als aufgeräumten Gemüthes"

Andreas Mertin

Merkwürdige Literatur

Unbestreitbar waren Autoren und Verlage in der Vergangenheit phantasiereicher, was die Betitelung ihrer Werke und Aufsätze angeht. Ein Titel wie "Das beliebte und gelobte Kräutlein Toback oder Allerhand auserlesene Historische Merckwürdigkeiten. Vom Ursprung / Beschaffenheit / Würckung, sonderbaren Nutzen, Gebrauch und Mißbrauch des Tobacks, aus Berühmter Männer Schrifften gesammlet, und allen seinen Liebhabern zur ergötzenden Vergnügung und Zeitvertreib mitgetheilet von J.G.H." macht einen schon im Vorhinein neugierig auf den Inhalt des Buches bzw. der betreffenden Schrift. Und was gibt es da nicht alles an gesammelten Merkwürdigkeiten, Anekdoten und Überlieferungen. Die vorliegende Zusammenstellung von Hans-Jörg Uther umfasst über 30 zwischen 1485 und 1802 erschienene Werke, die von magischen Welten, ungewöhnlichen Begebenheiten und wundersamen Entdeckungen handeln. Sie sind in der Literaturwissenschaft und Volkskunde vor allem unter der Bezeichnung Kompilationsliteratur bekannt. Die Anthologie ist nicht nur eine Quelle für unterhaltsame und lehrreiche Kurzgeschichten und ihre Tradierung in unterschiedlichen Medien über längere Zeiträume hinweg, sondern macht auch den Wandel von Weltbildern und Vorstellungen deutlich, es handelt sich also gewissermaßen um einen Spiegel der Kulturgeschichte früherer Zeiten.

Die Sammlung enthält dabei bekannte wie auch unbekannte Werke wie

  • "Historia von D. Johann Fausten dem weitbeschreyten Zauberer vnnd Schwartzkünstler, Wie er sich gegen dem Teuffel auff eine benandte zeit verschrieben, Was er hierzwischen für seltzame Abentheuwer gesehen, selbst angerichtet vnd getrieben, biß er endlich seinen wol verdienten Lohn empfangen. Mehrertheils auß seinen eygenen hinderlassenen Schrifften, allen hochtragenden, fürwitzigen vnd Gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel, abscheuwlichen Exempel, vnd treuwhertziger Warnung zusammen gezogen, vnd in den Druck verfertiget."
  • Johann Jacob Bräuner, Physicalisch- und Historisch-Erörterte Curiositæten; Oder: Entlarvter Teufflischer Aberglaube von Wechselbälgen / Wehr-Wölffen, Fliegenden Drachen, Galgen-Männlein, Diebs-Daumen, Hexen-Tantz, Holung auf dem Bock, Irrwischen, Spiritu Familiari, Festmachung, Wütenden Heer, Lösel-Nächten, Alpdrücken, Nessel-Knüpffen, Hexen-Buhlschafft mit dem Teuffel, Crystallen Schauern, Wahrsagungen und andern dergleichen. Durch welche der leidige Satan einfältige und unwissende Leute zum Aberglauben reitzet, und in seine Stricke zu verleiten suchet, also fürgestellet und erläutert: Was von solchen Sachen zu halten und zu glauben ist. Auch bey jedem Capitel einige rare und recht wunderwürdige Historien, nebst noch andern seltsamen und lesenswerthen Sachen, zu nützlicher Erbauung und Zeitkürtzung in 50. curiosen Materien fürgestellet.
  • Blockes-Berges Verrichtung / Oder Ausführlicher Geographischer Bericht / von den hohen trefflich alt- und berühmten Blockes-Berge: ingleichen von der Hexenfahrt / und Zauber-Sabbathe / so auff solchen Berge die Unholden aus gantz Teutschland / Jährlich den 1. Maij in Sanct-Walpurgis Nachte anstellen sollen.Aus vielen Autoribus abgefasset / und mit schönen Raritäten angeschmücket sampt zugehörigen Figuren / von M. JOHANNE PRÆTORIO, Poetâ Laureatô Casareô. Nebenst einen Appendice vom Blockes-Berge / wie auch des Alten Reinsteins / und der Baumans Höle am Hartz.

Besonders gut gefallen hat mir zum Beispiel auch das "Fortgesetzte Betrugs-Lexicon worinnen die meisten Betrügereyen in allen Ständen nebst denen darwieder guten Theils dienenden Mitteln entdecket werden" von Georg Paul Hönn, wo es zum Beispiel zum Stichwort "Kupfferdrucker" heißt:

"Kupfferdrucker betriegen 1) wenn sie die Farbe und Fürniß nicht behörig zubereiten, die Farbe nach dem Auftragen von der Kupffer-Platte nicht sauber genug abwischen, oder aber zu wenig Farbe auftragen, folglich dem Verleger zu Schaden eine gar unsaubere und unanständige Arbeit an das Licht bringen, welches mehrentheils daher rühret, daß, da sie sollten selbst Hand dazu anlegen, ihre noch nicht informirte Weiber, Kinder und Mägde über diese Arbeit stellen. 2) Wenn ihnen von denen anvertrauten Platten eine gewisse Anzahl exemplaria abzudrucken angedungen wird, sie über dieselbe vor sich noch einen heimlichen Nachschuß thun, und zum Nachtheil des Verlegers verbotener Weise verkauffen, wie mit Portraits und andern angenehmen Kupffern, die à part verkaufft werden können, gar öffters zu geschehen pfleget.
Mittel: Zu Abhelffung des ersten Puncts dienet / daß man mit der Zahlung zum Theil biß zur Lieferung der Arbeit zuruck halte und was daran untüchtig befunden worden / dem Verfertiger heimschlage. Bey dem andern hätte die Obrigkeit solcher Orten / wo besondere Kupffer- Drucker wohnen / diese auch darauf zu verpflichten / sich solches betrügerischen Nachdruckens bey hoher Straff zu äussern."

Auch die weiteren Stichwörter sind von durchschlagender Aktualität, seien es die zu den Zeitungs-Schreibern, Poeten, Menschen, Krancke, Freunde, Bildhauer oder Kirchengänger. Aber leider gibt es auch hier eine Fülle von Stereotypen wie z.B. im Artikel über Juden.

Wenn man bedenkt, dass man auf diese Weise achtundzwanzigtausend "ergötzliche" Seiten Literatur bekommt, ist der empfohlene Preis von 45 Euro durchaus vertretbar. Als Buchreihe würde das Ganze sicher einiges im Regal füllen. Alles in Allem: Eine sehr empfehlenswerte CD-ROM zum Stöbern und Entdecken!

Märchenhafte Welterklärungen

Unbestreitbar von den Arbeiten Uthers profitiert haben die Herausgeber des folgenden Bandes der noch von Hans Magnus Enzensberger verantworteten Anderen Bibliothek. Der Band "Warum der Schnee weiß ist" geht aber einen anderen Weg als den der dokumentarischen Vorstellung verschiedener Welt- und Sacherklärungen. Stattdessen wird umformuliert und erzählt, was gerade den Reiz des sprachlich (und eben nicht nur inhaltlich) Fremden mindert. Es ist quasi "Schonkost" für den literarischen Appetit, eine Art "Readers Digest" historischer Ätiologien.

Und auch wenn sich eine Leserin in heiliger Einfalt bei Amazon beschwert, weil dieses Buch auch eine Erzählung enthält "Warum die Menschen Fische quälen dürfen", die man - wie viele andere auch - Kindern nicht zumuten dürfe und daher zu der Schlussfolgerung kommt: "Ich meine, man hätte diese auch ruhig im Mülleimer der Geschichte verrotten lassen können, als sie in so glänzender Verpackung neu zu präsentieren", so ist mir das Buch doch zu wenig sperrig, zu glatt und zu wenig erhellend. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass beim Lesen unweigerlich der Eindruck entstehen muss, dass sei alles menschheitsgeschichtliche und literarische Vergangenheit, mythische Relikte an Aberglauben und Vorurteilen.

Im Gegensatz zu Uthers Textsammlung, die bei aller Historizität unmittelbar auch von der Gegenwart spricht, weil ein Versuch einer Vermittlung ins Heute erst gar nicht unternommen wird, mindert der vermittelnde erzählerische Ansatz bei Kaiser und Balzamo den Gegenwartsbezug. Die Systematisierung in die Großkapitel "Weltall", "Menschenwelt", "Tierwelt" und "Pflanzenwelt" ist m.E. auch verquer zur Anarchie mythischer Erzählungen. Da ist nach Art eines Lexikons etwas systematisiert worden, das besser nicht in diese Form gegossen worden wäre. Vom aufklärerischen Charakter mythischer Erzählungen und vor allem von Ätiologien, die man ja sehr gut auch an biblischen Geschichten ablesen kann, ist zudem nur bedingt etwas zu spüren.

Das erläuternde Nachwort verunklart mehr, als es erhellt. Es enthält zum Teil derart grobe Darstellungen, dass es einen schon wundert: "Dafür, dass sie dem Teufel fast die gleiche Macht und den gleichen Rang wie Gott einräumten, hat die heilige Inquisition die Katharer mit Feuer und Schwert verfolgt." Das dürfte schon eine nahezu sinnentstellende Verkürzung der Auseinandersetzung von katholischer Kirche und der Katharerbewegung sein.

Das einzige, was meines Erachtens für dieses Buch im Vergleich mit der Textsammlung von Uther spricht, ist natürlich die wunderschöne bibliophile Ausstattung und Gestaltung. Es macht einfach viel mehr Freude, in den Bändern der Anderen Bibliothek zu blättern und zu lesen, als Texte mühsam am Bildschirm zu studieren.


© Andreas Mertin 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 36/2005
https://www.theomag.de/36/am155.htm

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