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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren XXII

Aus der Bücherwelt

Andreas Mertin

Blaue Bücher

Als nicht zu überbietendes phantastisches Buch preist der Klappentext den 248. Band der noch von Hans-Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek an. Dieses Buch ist "mein Pulvermagazin" soll August Strindberg zu seinem Blauen Buch gesagt haben. Ob das stimmt, kann jeder nun anhand der tatsächlich "phantastisch" schön gemachten Ausgabe dieses Buches überprüfen. Es kommt in einem blauen samtenen Einband und ist mit blauer Schrift auf blaues Schreibpapier gedruckt. Jeder Essay bzw. Kurztext bildet einen eigenen Abschnitt. Eingeschoben sind Illustrationen, die freilich durch die gewählten Farbkontraste nicht immer den notwendigen Kontrast aufweisen.

Annonciert wird das Buch mit folgenden Worten: "Es handelt von Gott und der Welt, von Mathematik und von den Frauen, von Botanik und Okkultismus, Sprache und Religion. Unergründlich verschwistern sich in Strindbergs Buch, das er 'die Synthese meines Lebens' nennt, Naturalismus und Metaphysik, Empirie und Spekulation. Gewidmet hat er es dem Mystiker Emmanuel Swedenborg. Aber seine kabbalistische Weisheitslehre ist durchschossen von einer erbitterten Zeitkritik. Von einer Seite zur andern wechselt der Tonfall. Man sieht dem Autor zu, wie er grübelt und wütet, sinnt und höhnt. Mit seiner 'kontrainduktiven Methode', die das Verfahren der Surrealisten vorwegnimmt, brüskiert er die moderne Wissenschaft und provoziert nicht nur seine Zeitgenossen, sondern auch den heutigen Leser. Die plötzlichen Eingebungen, die ihn heimsuchen, entzünden sich an den banalsten Alltagserscheinungen. Die Nummer an einer Straßenbahn, der Flug eines Fischadlers: alles, was Strindber g beobachtet, kann halluzinatorische Ahnungen bei ihm auslösen. Und so verschwimmt auch vor den Augen des Lesers die Grenze zwischen schlichter Wahrnehmung und mystischer Erfahrung, Zwischen Realität und Esoterik."

Freilich handelt es sich nur um eine Auswahl der ursprünglich vierbändigen Essay- und Aufsatzsammlung, die etwa 1100 Seiten umfasste. Daraus hat die Übersetzerin Angelika Gundlach, auch Herausgeberin der unvollendet gebliebenen Frankfurter Ausgabe von Strindbergs Werken, eine Auswahl getroffen.

Die Faszination eines Buches hängt immer stark von dem Rezipienten ab. Mich jedenfalls haben die Texte Strindbergs in diesem Buch dann doch nicht durchgehend fasziniert. Ich weiß nicht so recht, was ich den einzelnen Geschichten entnehmen soll. Sprachlich ist es kaum avanciert, inhaltlich höchst assioziativ. Und den Blick in das Innenleben eines Literaten oder Philosophen hat mich selten begeistert. Als nicht zu überbietendes phantastisches Buch würde ich daher diesen Band der Anderen Bibliothek nicht einstufen. Im Vergleich etwa zu Aphorismen von Nietzsche in "Menschliches, Allzumenschliches" oder Adornos in den "Minima Moralia" sind die Notizen Strindbergs in diesem Blauen Buch doch allzuoft nur hergeholt und beliebig, vor allem kaum wegweisend. Und allein die schöne Ausgabe vermag nicht darüber hinweg zu trösten.

Sudelbücher

Zu den Klassikern der intellektuellen Notizen, die über Gott und die Welt räsonnieren, gehören die Aphorismen und Sudelbücher von Georg Christoph Lichtenberg. In der Regel liest man sie im Rahmen einer Auswahl, bei der man nicht weiß, aufgrund welcher Kriterien sie getroffen wurde. Im Verlag Gerd Haffmanns ist bei Zweitausendeins jetzt eine wohlfeile Ausgabe erschienen , die die alte Ausgabe von Albert Leitzmann aus dem Jahr 1902 wieder zugänglich macht. Bei über 1000 Seiten ist der Band mit weniger als 8 Euro unschlagbar preiswert. Zwar muss man auf eine besondere bibliophile Gestaltung verzichten, aber das Buch ist mit einem umfangreichen Personen- und Sachregister ausgestattet, das auch die Suche nach Wörtern wie "verhunzdeutscht" erleichtert.

Und tatsächlich macht man auf vielen Seiten der Sudelbücher Entdeckungen, die zum Nach- und weiterdenken anregen. Es ist nicht so, dass die Aphorismen von Lichtenberg seit ihrem Erscheinen an Brisanz und Aktualität verloren hätten.

Tucholsky beschreibt Lichtenberg so: "Ein Kobold mit einer Blendlaterne. Ein Romeo, der feixen konnte und der am allerheftigsten dann grinste, wenn er Furcht vor seinem Gefühl hatte ... ein Geist, der Aphorismen geschaffen hat, wie sie dann ein Jahrhundert lang nicht mehr wieder gekommen sind."

Lichtenberg hat "vermischte Einfälle, verdaute und unverdaute Begebenheiten, die mich besonders angehen" (Lichtenberg) 33 Jahre lang in kleine selbst genähte Hefte notiert, später in "Schmier"- oder "Sudelbücher" genannte Notizbücher, aus denen nach seinem Tod nur eine schmale Auswahl von Texten veröffentlicht wurde.

Erst der Germanist Albert Leitzmann sichtete Anfang des 20. Jahrhunderts die erhaltenen Handschriften und gab eine chronologische Ausgabe der Aphorismen in der originalen, ursprünglichen Schreibweise Lichtenbergs heraus - diese Edition wurde der Beginn einer umfangreichen Lichtenberg-Renaissance.

Jetzt begann man zu erkennen, dass es sich bei dem Werk "des modernsten Geistes des 18. Jahrhunderts" (Albert Leitzmann) um eines der großen, unauslesbaren Bücher der Weltliteratur handelt. Wo Lichtenberg "einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen", beobachtete bereits Goethe, und Günter Grass rät: "Lichtenberg lesen, dessen Prosa kühlt".
[Klappentext]

Auf jeder Seite findet man Annotationen, die umstandslos auf die Gegenwart übertragen könnte, sei es im hochkulturellen, sei es im populärkulurellen Bereich. Dass Lichtenberg Sohn eines Pfarrers ist, spürt man einer Vielzahl seiner in dieser Hinsicht zum Teil bissigen, vor allem aber aufklärerischen Gedanken ab. Deshalb schließe ich meine Lektüreempfehlung mit einem entsprechenden Eintrag im Sudelbuch J 12:

"Die Haare stehen einem zu Berge, wenn man bedenckt: was für Zeit und Mühe auf die Erklärung der Bibel gewendet worden ist. Wahrscheinlich ein Million Octav Bände jeder so starck als einer der allgemeinen deutschen Bibliotheck. Und was wird am Ende der Preiß dieser Bemühungen nach Jahrhunderten oder tausenden seyn? Gewiß kein anderer als der: die Bibel ist ein Buch von Menschen geschrieben, wie alle Bücher. Von Menschen die etwas anderes waren als wir, weil sie in etwas ändern Zeiten lebten; etwas simpler in manchen Stücken waren als wie wir, dafür aber auch sehr viel unwissender; daß sie also ein Buch sey worin manches wahre und manches falsche, manches gute und manches schlechte enthalten ist. Je mehr eine Erklärung die Bibel zu einem gantz gewöhnlichen Buche macht, desto besser ist sie, alles das würde auch schon längst geschehen seyn, wenn nicht unsere Erziehung, unsere unbändige Leichtgläubigkeit und die gegenwärtige Lage der Sache entgegen wären." [J 12]


© Mertin 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 37/2005
https://www.theomag.de/37/161.htm