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Magazin für Theologie und Ästhetik


„Ich glaube, dass ich glaube“

Gianni Vattimos Schrift „Glauben – Philosophieren“[1] theologisch gelesen

Christoph Fleischer

Die Zeit ist reif für einen theologischen Paradigmenwechsel, wenn man nicht das Christentum als pure Freizeitbeschäftigung unter anderen in einer nachreligiösen Zeit ansehen will[2].

Obwohl Vattimo die christliche Lehre und ihre Gestalt ebenfalls von außen, aus der Sicht eines Philosophen betrachtet, verbindet er sie mit der Sicht auf seine persönliche Biografie, die aus der Verhaftung in der katholischen Frömmigkeit in eine deutliche Distanz und von dort wiederum in die Wahrnehmung der Wiederkehr von Religion führte, die er aber keinesfalls als Rückkehr bezeichnet. Im Grund ist er auch in dieser Periode der Wiederkehr Atheist geblieben, was er in der Dankesrede für die Verleihung des Hanna Arendt Preises der Stadt Bremen im Jahr 2002 folgendermaßen beschreibt: „Ich sage immer wieder, Gott sei Dank bin ich ein Atheist – ich glaube nicht an diese Idole der absoluten Wahrheit in Politik und gesellschaftlichem Leben und so fort. Ich glaube, dass Christentum ist wichtig für die Politik als ein Ideal der Gesellschaft, in der nicht Prinzipien dominieren, sondern die caritas, das heißt, der andere, der Dialog, das Gespräch und nur Gesetze, die wir zusammen etabliert haben und die nicht aus der Natur kommen.“[3] Die Aufgabe, die ich als Theologe von Gianni Vattimo gestellt sehe, ist also die, nicht nur die Fragen, sondern auch die von ihm angezeigte Weichenstellung in ein theologisches Denken zu übertragen. Dies ist insofern gar nicht so schwer, weil sich Vattimo einiger theologischer Ansätze bedient und Namen wie Luther und Bonhoeffer in seine Argumentation einbezieht. Weiterhin ist ausgesprochen hilfreich, dass er sich nicht nur mit der Argumentation einer traditioneller katholischen Theologie, sondern auch mit der dialektischen Theologie auseinandersetzt, die er als Beschreibung eines tragischen Christentums ansieht. Doch fangen wir von vorn an.

Schon der Anfang ist eine theologische Herausforderung, denn der von der katholischen Kirche entfremdete Philosoph Vattimo entdeckt sowohl in seinem Leben als auch in seiner Philosophie, dass er ohne die Grundgedanken des Christentum nicht auskommt, dass also bei ihm persönlich, sowie in der Kultur und Politik das Christentum wiederkehrt. Diese „Wiederkehr“ der Religion beschreibt er zum Teil in der ersten Person, „weil das Thema der Religion und des Glaubens eine notwendig „persönliche“ und engagierte Schreibweise erfordert.“[4] Was also geschieht andererseits, wenn Theologen und Theologinnen in scheinbar objektivierend, wissenschaftlicher Art und Weise theologisch schreiben und reden, und die Rede in der ersten Person vernachlässigen? Wenn wir also so tun, als könne man objektivierend von Gott reden, setzen wir eine Metaphysik voraus, eine feststehende Vorstellung vom Sein. In diese Kritik ist sowohl eine natürliche Theologie in Gefolge der Argumentationen eines Thomas von Aquin einbezogen, wie auch die der dialektischen Theologie, wenn diese die zunächst subjektivistische Rede nach Kierkegaard  in einen formalen Gegensatz von Glauben und Vernunft etwa im Sinn eines Glaubenssprungs überführt.  Vattimos Ausgangspunkt ist die Philosophie Heideggers: „Die ‚richtigen’ Gläubigen können natürlich die Idee der Wiederaufnahme und der Wiederkehr als Zeichen dafür lesen, dass es hier nur darum geht, einen Ursprung wiederzufinden, der einfach die Abhängigkeit des Geschöpfes von Gott ist; aber was mich betrifft, bin ich der Ansicht, dass ebenso bedeutsam und wichtig ist, nicht zu vergessen, dass dieses Wiederfinden auch die Anerkennung einer notwendig entleerten Beziehung ist. Wie im Fall der Seinsvergessenheit, von der Heidegger spricht, handelt es sich auch hier nicht so sehr darum, sich an den vergessenen Ursprung zu erinnern, ihn in jeder Hinsicht zu vergegenwärtigen, sondern darum, sich daran zu erinnern, dass wir ihn immer schon vergessen haben und dass das Gedenken an dieses Vergessen und diese Distanz das ist, was die einzig authentische religiöse Erfahrung ausmacht.“[5] Diese Grunderfahrung der Entleerung wird an anderer Stelle auch unter Verwendung des griechischen Wortes KENOSIS wieder aufgegriffen und gibt uns m. E. die Möglichkeit die Beobachtungen Vattimos theologisch zu vertiefen. Ich möchte daher jetzt die weitere Beschreibung der „Wiederkehr“ an dieser Stelle verlassen und versuchen, in den nächsten Kapiteln die Grundlinien seiner Argumentation zu verfolgen[6]. Zunächst einmal muss man als Theologe mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass sich die Kritik der Metaphysik zuerst gar nicht auf die Religion bezieht, sondern auf die Grundeinstellung der Moderne selbst. Die Moderne ist nämlich mit einem Rationalismus verbunden, der eine feste Vorstellung vom Sein voraussetzt, etwas im Sinne des Satzes von Marx: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“. Dieser Ausgang des modernen Denkens wird, wiewohl bis heute noch nicht endgültig überwunden, bereits von der Philosophie Nietzsches markiert, den Grundgedanken Vattimo folgendermaßen zusammenfasst: „...schließlich gelangt das Denken zur Erkenntnis, dass das Wahrhaft Wirkliche das – wie die Positivisten sagen – „positive“ Faktum ist, d. h. die durch die Wissenschaft festgestellte Gegebenheit; gerade dieses Feststellen ist jedoch eine Tätigkeit des menschlichen Subjekts, und die Wirklichkeit der Welt fällt mit dem zusammen, was durch die Wissenschaft ... „produziert“ wird. Es gibt keine „wahre“ Welt mehr... Heidegger greift die Kritik Nietzsches auf und stellt fest, „...dass das Ende der Metaphysik gekommen ist und damit jenes Denken, welches das Sein mit dem objektiv Gegebenen identifiziert...“[7] Das Ende des Rationalismus markiert gleichzeitig die Überwindung der Moderne, in der die Menschheit sich allenfalls immer weiter in eine künstliche Welt hineinentwickelt hat, die bekanntermaßen an ihre Grenzen gekommen ist. Diese Grenzerfahrung ist ja ein Grund für die Wiederkehr der Religion.[8] Der Nihilismus im Gefolge der Philosophie Nietzsches entdeckt nun erstaunlicherweise gerade das christliche Erbe wieder. Was Vattimo als „schwache Ontologie“ beschreibt, was beinhaltet, „das Sein so zu denken, dass es in keinem Sinne mit der für das Objekt charakteristische Präsenz identifiziert wird“[9]. Wenn in diesem gerade das Erbe der christlichen Religion gesehen wird, so scheint das zuerst erstaunlich. Wenn ich dann allerdings lese, dass sich hierin die fortschreitende Säkularisierung dadurch zeigt, dass die Menschwerdung Gottes konsequent gedacht wird, als Verzicht auf alle gewaltsamen Beschreibungen des Heiligen, als auf die natürliche Theologie, dann sehe ich dies als Theologie und nicht mehr als Philosophie an, an der ich anknüpfen kann. Ich stimme zu, wenn Vattimo in der Lektüre Girards schreibt: „Jesus wird nicht deshalb Mensch, damit der Vater ein seinem Zorn angemessenes Opfer erhält; sondern er kommt in die Welt, um eben dieses Band zwischen Gewalt und Heiligem zu enthüllen und damit auch aus der Welt zu schaffen.“[10] Hier folgt Vattimo nun Feuerbach, indem er alle Züge der Allmacht Gottes auf das objektive Sein zurückführt und damit allein den Gott der Metaphysik, das ipsum esse substistenz als die Projektion entlarvt, dem allein der schwache, gewaltlose und letztlich machtlose Gott entspricht, der sich in der Geschichte Jesu Christi offenbart. Der Nihilismus und die Auflösung der Metaphysik markiert also das Ende dieses Bildes von Gott dem das Sein als objektive Gegebenheit entspricht. Die Folge der Demaskierung des gewaltsamen Gottes im Zustand der Heiligkeit ist also schon von Jesus her eine Form von Säkularisierung, wozu natürlich auch gut Luthers Beschreibung vom Priestertum aller Gläubigen passt, denn wenn alle Priester sind, ist dies ja gerade kein exklusiver Titel mehr, sondern eine entwertete Beschreibung. Die Folge ist wie geschehen „ein Gewinn an Autonomie der menschlichen Vernunft gegenüber einem absoluten Gott“[11].

So zeigt Vattimo[12] sehr plausibel den Grund des augenscheinlichen Widerspruchs, dass unsere Kultur entchristlicht ist und trotzdem in der jüdisch – christlichen Religion nach wie tief verhaftet. Die Säkularisierung ist danach ein gereinigter Glaube, der zur Auflösung von sakralen Strukturen führt, zumindest soweit sie dem Bild der in der Gewalt fußenden Heiligkeit verhaftet sind. Die Wirklichkeit Gottes ist nicht als absolute Transzendenz zu denken, wie dies noch die dialektische Theologie im Sinn von Barth bis Tillich getan hat. Wobei Paul Tillich vermutlich Vattimo gerade darin recht geben würde, indem er die säkulare Welt in die Beschreibung der Gegenwart Gottes einbezieht. Die Offenbarung Christi geht weiter als Geschichte, als Interpretation und fortwährende Neuinterpretation und Auflösung aller naturalistischen Heiligkeit. Die Kirche als Instanz des Religiösen hat nur die Möglichkeit sich auf die Geschichtlichkeit einzulassen, die gerade vom Grundereignis des Christentums ausgeht. Damit ist die Aufklärung im Grunde kein Gegensatz zum Christentum mehr, sondern seine konsequente Fortsetzung. Schon der Glaube Jesu ist im Grunde eine Demaskierung und führt zu Aufklärung. Ohne die Voraussetzung einer Metaphysik werden dann aber alle Ausprägungen des Glaubens in ihrer geschichtlichen Vorläufigkeit angesehen. Vattimo sagt: „Haben wir die Objektivitätsansprüche der Metaphysik einmal hinter uns gelassen, sollte heute niemand sagen können, dass ‚Gott nicht existiert’, andererseits auch nicht, dass seine Existenz und sein Wesen ein für allemal festgelegt sind.“[13] Alles, was letztgültigen Anspruch erhebt, wird entmythologisiert, sowohl die Moral als auch die Dogmen. Jesus fordert gerade keinen Glaubenssprung und die Aufgabe der Vernunft. Das Sakrale wird nicht mehr als Ausübung von Gewalt verstanden. Die Geschichte des Heils vollzieht sich in der Praxis. Die Mitte der christlichen Verkündigung ist die Liebe, die aber auch keine wahre Letztheit darstellen kann, sondern in einen immer offenen Prozess eingegeben ist. Dabei wird deutlich, dass die christlichen Werte des Friedens und der Solidarität weitestgehend als modern anerkannt sind. Die Inhalte des Glaubens können nicht als metaphysisch essentielle Wahrheit dargestellt werden, da sie den Voraussetzungen der schwachen Ontologie unterliegen. Dies sagt Vattimo unter der Voraussetzung der Interpretation: „Ein weiterer Grund für die Wiederentdeckung des Christentums ist – neben der (allerdings: interpretativen) Anerkennung der Zugehörigkeitsbeziehung, die uns an die christliche Tradition bindet – gerade die Tatsache, dass in seiner Lehre die Interpretation ‚vorgesehen’ ist, dass der universelle (kenotische) Charakter der Seinsgeschichte vorgesehen ist.“[14] Auf die Frage eines Kollegen, ob er im Grunde noch an Gott glaube, antwortete Vattimo: „Ich glaube, dass ich glaube.“[15]

Er stellt sich darauf der Frage, ob er nicht etwa als kirchenkritischer Gläubiger in die Reihen der katholischen Kirche zurückkehren könne. Da er sich bewusst geworden war, sein Leben homosexuell zu führen, und so zu einer von der katholischen Lehre abgelehnten Minderheit zu gehören, wurde ihm klar, dass die kirchliche „Abscheu gegenüber dieser Art von ‚Abweichung’ ein Aspekt jener mit dem natürlichen Sakralen verbundenen Gewalt ist, die zu eliminieren die Menschwerdung Christi mich aufruft.“[16] Auch in der Ablehnung der Frauenordination sieht er einen Teil des Aberglaubens, dem diese Kirche nach wie vor verbunden ist. Hin und wieder spielt auch an auf die Ablehnung der Benutzung von Präservativen in der Zeit des AIDS – Risikos. Wiederkehr des Glaubens hat also nicht die Bedeutung von Rückkehr, sondern bedeutet, „die Inhalte der Offenbarung in säkularisierter Sprache neu zu denken, auch im Sinne ihrer ‚Zeitgemäßheit’“[17]. Er ist dafür, die Artikel des Glaubensbekenntnis persönlich in säkulare Sprache umzuformulieren, was mich nun doch sehr deutlich an Dorothee Sölle erinnert, die gerade mit der Umformulierung des Glaubensbekenntnisses größere Bekanntheit erlangte. Vielleicht könnte man folgenden Satz als Grundaussage seines Glaubensbekenntnisses ansehen: „Die Geschichtlichkeit meiner Existenz ist Abkünftigkeit, und die Emanzipation oder das Heil oder die Erlösung besteht gerade auch in der Bewusstmachung dieses ereignishaften Charakters des Seins, der mich in die Lage versetzt, aktiv in die Geschichte einzutreten und nicht nur ihre notwendigen Gesetze passiv zu betrachten.“[18]  In der Bibel wird einfach auf unterschiedliche Art und Weise auch in interpretatorischer Entwicklung gezeigt, wie „das göttliche Sein sich nach außen mitteilt, indem es sich aus Liebe reduziert und herablässt.“[19] Das Liebesgebot ist die Mitte der Bibel, aber nicht als abstraktes Gesetz, sondern gelebt in den verschiedenen Kontexten des Lebens. Von daher setzt er sich nun auch mit einer anderen Form der christlichen Religion auseinander, die er tragisches Christentum nennt, das letztlich die Welt für sinnlos und überholungsbedürftig hält. Die Tragik und das Scheitern der Menschheit in unterschiedlichen Situationen gelten diesem Denken als Gottesbeweis. Es kritisiert den Fortschrittsglauben. Dieses tragische Denken bleibt ebenfalls beim metaphysischen Gottesbild stehen und ist im Grunde genauso fundamentalistisch wie die Kirche. Wenn es den Glauben gegen die Vernunft setzt und einen Glaubenssprung fordert, zielt es letztlich auf eine Spaltung des Menschen. Der Ausgangspunkt dieses Denkens ist eine falsch verstandene Kreuzestheologie, die das Ereignis des Kreuzes von dem Ereignis der Menschwerdung Gottes löst. Christliche Theologie der Zukunft nach Vattimo löst sich ganz von jeder Sündentheologie. Nur solches Denken ist in letzter Konsequenz christlich, die von der völligen Entmachtung der Sünde ausgeht: „Aber müssen wir nicht anerkennen, dass Jesus von der Sünde auch und vor allem deshalb erlöst, weil er sie in ihrer Nichtigkeit aufdeckt?“[20] Der Grundsatz einer solchen Ethik ist, ohne auf die Sündentheologie zu beruhen: „Sie (die Nächstenliebe) verlangt nämlich eine gewisse Achtung gegenüber den moralischen Erwartungen der anderen, der Gemeinschaft, in der ich lebe; Erwartungen, die nicht um der Wahrheit willen, als deren Hüter ich mich vielleicht fühle, umgeworfen werden können – ist es möglich, wirklich zu denken, dass das Wirken Christi im Hinblick auf das Böse auch ein Wirken im Sinne seiner ironischen Auflösung sein kann; also das Gegenteil so vieler christlicher Einstellungen, die sich verpflichtet fühlen, die ungeheure Macht des Bösen in der Welt zu übertreiben, als sei dies ein Mittel, um die zu erlösende Macht dessen, der uns davon befreit, hervorzuheben.“[21] Wer noch einige Formulierungen von Osterliedern im Kopf hat, sollte hierin Vattimo unbedingt recht geben. Ob wir damit nun aber Gottes Gericht selbst in Frage stellen? Wenn Theologie und Anthropologie verschmelzen ist die Sicht folgendermaßen: „Gott kann sehr wohl Richter sein und dennoch vergeben, allenfalls ist dies das Mysterium, mit dem wir fertig werden müssen, das uns jedoch viel weniger unverständlich wird, wenn wir auf der anderen Seite anerkennen, dass wir der Vergebung bedürfen. Nicht so sehr und hauptsächlich deshalb, weil wir heilige, metaphysisch sanktionierte Prinzipien verletzt haben, sondern weil wir ‚gefehlt’ haben gegenüber denjenigen, die wir lieben sollten – gegen Gott selbst vielleicht und den Nächsten, in dessen Gestalt er sich uns zeigt.“[22] Wenn Vattimo das Sein als Ereignis und nicht als vorgegebene Struktur denkt, lässt er sich ein auf das Gefühl der Abhängigkeit im Sinne Schleiermachers und er lässt sich darauf an, dass dann, wenn er betet, nicht alles rational erklären muss und dass es also „einen gewissen Grad von ‚Mythos““ in seinem Leben gibt, „der nicht notwendig in die Sprache der Rationalität übersetzt werden braucht“[23].

Ich habe Giannis Schrift deshalb zusammengefasst und referiert, weil ich mich in seinen Gedanken doch hierbei weitestgehend wiedergefunden habe, sowohl in den Bedürfnis danach, den christlichen Glauben undogmatisch zu denken und zu leben, als auch eben in der Aufdeckung der Bindung an die Metaphysik sowohl in der Theologie als auch in die sogenannten Moderne. Er reduziert die Verkündigung Christi auf die Liebe und die Offenbarung Gottes auf die Entäußerung aus Liebe. Ich finde, dass sich die Kreuzestheologie in diese konsequent gelebte Lehre Jesu gut einbinden lässt und nicht von einer irgendwie gearteten Opfertheologie her erklärt werden muss. Gianni Vattimo hat gezeigt, dass Nietzsche sogar viel eher das Menschenbild der Moderne demaskiert und das theistische Gottesbild von dem sie sich abgrenzt. Mir gefällt ausgesprochen, dass man von diesen Grundgedanken her die Ethik Jesu der Gewaltlosigkeit, die zweifelsohne in der Bergpredigt steht und ohne die das Kreuz nicht verstanden werden kann, auf den Umgang mit dem Gottesbegriff selbst ausdehnt. Wichtig ist weiterhin, dass vom Begriff der Postmoderne her eben auch die Ideologien der Moderne entlarvt werden, hier tatsächlich im Einklang mit der Theologie, so ähnlich wie schon der Nationalsozialismus von Seiten der Theologie der Bekennenden Kirche. Schon Dietrich Bonhoeffer und Dorothee Sölle haben gezeigt, dass der Umgang mit der Säkularität für Christen kein Fremdwort sein muss. Die Postmoderne verliert hier den Charakter der völligen Beliebigkeit. Sie wendet sich ab vom puren Rationalismus und denkt das Leben ganzheitlich, auch unter Einbeziehung letztlich mythischer und dadurch nicht hinterfragbarer Elemente. Sie beerbt andererseits die Aufklärung, indem sie gerade zeigt, dass die Grundaussagen der christlichen Religion auf Demaskierung institutioneller Gewalt auch in Gestalt religiöser Institutionen zielt. Es ist doch heute klar, dass sich Menschen auch dann, wenn sie ihren eigenen Glauben haben und entfalten möchten, darüber frei entscheiden, ob sie einer christlichen Kirche angehören möchten oder nicht. Die Aussagen Vattimos zu seiner Kirche, die er aus der Perspektive einer von ihr abgelehnten Minderheit wagt, zeigen, dass die Kirchen durch metaphysisch begründete Grenzziehungen letztlich weithin den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Der Glaube an Gott steht in der Postmoderne außer Frage. Dann klagt sich doch derjenige nur selbst an, der darüber hinaus apologetisch argumentiert. Postmoderne Denker wie Vattimo, Derrida und zuletzt Habermas entdecken, dass die Moderne nicht aus dem Strom der christlichen Tradition herausgetreten ist. Vieles in unserer heutigen Situation verlangt nach ethischer Reflektion. Dabei kann eine Argumentation von oben nicht mehr greifen, wenn die Mehrheit die dabei angerufene Autorität nicht teilt. Ethik ist aber gut christlich in Bezug auf die Lehre Jesu begründbar, wenn man, wie es auch Vattimo sagt, im Sinne des Gottesbildes Jesu im anderen Menschen eine Gestalt der Gegenwart Gottes sieht. Zum Schluss gebe ich noch einmal Gianni Vattimo das Wort: „Statt sich als Anwalt der Heiligkeit und Unberührbarkeit der ‚Werte’ zu präsentieren, sollte der Christ vielmehr wie ein gewaltloser Anarchist agieren, wie ein ironischer Dekonstrukteur der Ansprüche der geschichtlich gewachsenen Ordnungen, nicht vom Streben nach einer größeren Bequemlichkeit für sich, sondern vom Prinzip der christlichen Liebe gegenüber den anderen geleitet.“[24]

Anmerkungen
  1. Gianni Vattimo. Glauben – Philosophieren. 1997 Stuttgart (Reclam Universal Bibliothek Nr. 9664) zitiert als „Glauben...“
  2. Internetseite: http://zeus.zeit.de/text/2005/33/ReligionWiederkehr z.B.: Herbert Schnädelbach: „Die Moderne ist nun einmal durch den „Verlust der Mitte“ gekennzeichnet; sie hat kein kulturelles Zentrum mehr, das einmal die Religion ausmachte. So wie in der modernen Kultur die verschiedenen Sphären nebeneinander stehen und sich das Religiöse zu einer Macht unter anderen herabgesetzt findet, so ist auch das Leben des Individuums bestimmt von den Ansprüchen sehr verschiedener kultureller Instanzen, was dem Einzelnen Freiheitschancen eröffnet, aber auch Orientierungsnöte erzeugt. Der Pluralisierung der Kultur in der Moderne entspricht eine zunehmende Aufspaltung der Ich – Identität, die sich auch in der Tatsache zeigt, dass Religion heute primär als Religiosität im Sinne einer spirituellen Erweiterung der subjektiven Erfahrungsmöglichkeiten nachgefragt wird.“
  3. Vattimo. Glauben... S. 7
  4. Vattimo. Glauben... S. 10f
  5. Für die Beobachtung der „Wiederkehr“ sollte man das Buch G. Vattimo, J. Derrida. Die Religion. Frankfurt/M. 2001 lesen, dass auf eine philosophische Diskussion auf der Insel Capri im Jahr 1994 zurückgeht, also der von mir jetzt gelesenen Schrift vorauszusetzen ist. 
  6. Vattimo. Glauben... S. 21
  7. Vattimo. Glauen... S. 13: „Auch die historischen Anlässe, die das Problem des Glaubens zu Bewusstsein bringen, haben jedenfalls ein Merkmal mit der Physiologie des Alterns gemeinsam: Im einen wie im anderen Falle stellt sich das Problem Gottes im Zusammenhang mit dem Treffen auf eine Grenze, mit der Erfahrung der Ausweglosigkeit.”
  8. Vattimo. Glauben... S. 28
  9. Vattimo. Glauben... S. 31f
  10. Vattimo. Glauben... S. 37
  11. Im Folgenden referiere ich nur kurz die Kerngedanken vom Vattimo, Glauben.... und setzte mich dazu in Beziehung.
  12. Vattimo. Glauben... S. 73
  13. Vattimo. Glauben... S. 74
  14. Vattimo. Glauben... S. 76
  15. Vattimo, Glauben... S. 82
  16. Vattimo. Glauben... S. 83
  17. Vattimo. Glauben... S. 87
  18. Vattimo. Glauben... S. 88
  19. Vattimo. Glauben... S. 100
  20. Vattimo. Glauben... S. 101
  21. Vattimo. Glauben... S. 103
  22. Vattimo. Glauben... S. 106f
  23. Vattimo. Glauben... S. 104

© Christoph Fleischer 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 37/2005
https://www.theomag.de/37/cf2.htm


© Christoph Fleischer 2005
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