Film als Medium der ErinnerungEin Beitrag zum Thema "Kulturelles Gedächtnis" aus theologischer Sicht*Jörg Herrmann |
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Als am 10. Mai 2005 das Holocaust-Mahnmal in Berlin eröffnet wurde, zeigte sich erneut, wie wichtig Bilder und Erzählungen als Medium der Erinnerung sind. Denn das Feld mit über 2700 Betonstelen erklärt sich nicht von selbst. Das von dem Architekten Peter Eisenmann entworfene Denkmal bleibt abstrakt. Was es bedeutet, muss gesagt und gezeigt werden. Dabei kommt dem fotographischen Bild und dem Film, insbesondere dem Dokumentarfilm, eine herausgehobene Bedeutung zu. Das wurde auch in der Fernsehberichterstattung über die Eröffnungsfeier deutlich. In mehrfacher Hinsicht: Zum einen ging der Live-Übertragung ein dokumentarischer Bericht voraus, der mit Hilfe von authentischen Filmbildern an die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden erinnerte. Des Weiteren zeigte ein Bericht über das Mahnmal Bilder aus dem unterirdischen Ort der Information, in dem das Grauen des Holocaust ein Gesicht bekommt, in dem Fotos und Texte an einzelne Menschen und Familien erinnern, die verfolgt und ermordet wurden. Ich selbst erinnere mich genau an ein Foto aus diesem Bericht. Es zeigt Menschen, nackt zur Erschießung in einer langen Reihe aufgestellt. Darunter eine Mutter, die ein vielleicht vierjähriges Kind auf dem Arm trägt. Schock und Trauer gehen von diesem Bild aus. Was wir abstrakt wissen, kommt durch dieses Foto nahe. Wir können uns konkret vorstellen, was damals geschah. Das Foto zeigt uns einen Ausschnitt aus dem damaligen Geschehen, einen Moment zwischen Leben und Tod, eine Mutter, die ihr Kind auf dem Arm trägt und die mit ihm zusammen wohl nur Sekunden nach dem Klick der Kamera von staatlich legitimierten Mördern erschossen wurde. Dieser Ort der Information, in dem dieses und weitere Fotos gezeigt werden, war in dem ersten Entwurf von Eisenmann noch nicht vorgesehen. In der Phase der Überarbeitung und Modifikation seines Entwurfes hat er der Integration dieses Ortes der Information und Dokumentation dann später zugestimmt. In seinem Redebeitrag zur Eröffnung bekannte Eisenmann, dass er sich geirrt habe, als er anfangs noch meinte, ohne einen solchen Ort der Information auskommen zu können. Betonstelen können eben doch nicht oder nur sehr indirekt an menschliches Leiden erinnern. Dazu braucht es Bilder und Erzählungen, wie sie an diesem Ort der Information präsentiert werden. Im Rahmen der Eröffnungsfeierlichkeit selbst erinnerte Sabina von der Linden, eine Überlebende des Holocaust, in einem bewegenden Redebeitrag an die damaligen Ereignisse, indem sie ihre eigene Geschichte erzählte. In kultureller Hinsicht sind Bilder und Erzählungen die Domäne von Film und Literatur. Der Film ist dabei aufgrund seines fotographischen Charakters immer konkret. Das ist seine Stärke: Er zeigt uns Bilder physischer Realität. Er kann sie inszenieren und dokumentieren. Konstruktion ist in beiden Fällen am Werk, im Dokumentarfilm ebenso wie im Spielfilm. Bezogen auf das Thema der Erinnerung gilt für beide Genres die Einsicht von Jan Assmann, dass sie als Arbeit am kulturellen Gedächtnis als "fortlaufende Arbeit rekonstruktiver Imagination" beschrieben werden können. Auch Dokumentationen sind Rekonstruktionen aus der Perspektive der Gegenwart. Sie benutzen und kombinieren Dokumente, gestalten und verdichten, akzentuieren und eliminieren. Wesentlich ist das Interesse, dass verfolgt wird, die Frage, wohin sich der Blick richtet, welches Interesse ihn bestimmt. Im Blick auf den Spielfilm ist dieses Interesse nicht zuletzt durch seinen Doppelcharakter als Ware und als Kunst bestimmt. Innerhalb der Filmkultur kann idealtypisch zwischen dem auf Publikumsresonanz und wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten populären Film und dem künstlerisch ambitionierten Film unterschieden werden. Während der populäre Film dazu neigt, Komplexität zu reduzieren und die gesellschaftlichen Probleme durch Happy-End-Geschichten zu kompensieren, so arbeitet sie der künstlerisch ambitionierte Film auf oftmals provozierende Weise gerade heraus. Klar ist, dass diese unterschiedlichen Orientierungen auch die Wahrnehmung von Geschichte prägen. Wo Unterhaltung gefragt ist und alles auf ein Happy End hinauslaufen muss, wird auch die Geschichte schnell durch eine rosarote Brille betrachtet. Ein gutes Beispiel für dieses Phänomen scheint mir der Film "Forrest Gump" zu sein. Er erzählt die Lebensgeschichte von "Forrest Gump", einem jungen Mann, der trotz mancher Schwächen sehr erfolgreich ist. Zugleich mit Gumps wundersamer Lebensgeschichte lässt der Film 40 Jahre amerikanischer Zeitgeschichte Revue passieren. Dabei montiert er dokumentarisches Material und fiktionale Szenen auf eine solche Weise, dass der Eindruck entsteht, Forrest Gump habe Kennedy die Hand geschüttelt und John Lennon im Fernsehstudio getroffen. Der Filmkritiker Frank Schnelle schrieb darüber: "Tom Hanks wandelt durch das Archivmaterial, als sei er schon immer ein Teil der Bilder gewesen; man traut seinen Augen kaum - und weiß nun endgültig, dass man seinen Augen in Zukunft nicht mehr trauen darf. Denn hier werden die Computereffekte nicht eingesetzt, um das Unmögliche möglich werden zu lassen (etwa in Form einer Dinosaurierherde), vielmehr wird Reales, werden kollektive visuelle Erinnerungen manipuliert und verfremdet. 'Forrest Gump', das ist lustvolle Geschichtsklitterung als Erzählprinzip." Dieser vom Unterhaltungsinteresse geleitete Umgang mit Geschichte, der sich in der Montage von dokumentarischem und fiktionalem Material am prägnantesten zeigt, wird auch im Blick auf die Großereignisse der amerikanischen Geschichte deutlich, nicht zuletzt an der Darstellung des Vietnamkrieges. Gump konstatiert:"Das Gute an Vietnam war, dass man immer etwas vorhatte." Er selbst kommt mit einer Schussverletzung am Gesäß davon. Und sogar der schwer verletzte und an den Rollstuhl gefesselte Leutnant Dan Taylor, den Gump durch sein mutiges Eingreifen um den ehrenvollen Tod an der Seite seiner Männer gebracht hatte, kann sich am Ende mit Gott und seinem Schicksal versöhnen. Vietnam, ein Betriebsunfall der amerikanischen Geschichte, die am Ende doch immer gut ausgeht. Michael Althen formulierte eine plausible Antwort auf die Frage nach den Motivationskräften für diese Sicht Amerikas: "Was also ist es, was Forrest Gump’ mit all seiner Brillianz, Witz und Dramatik auf den Punkt bringt? Es ist die Sehnsucht einer ganzen Generation, mit ihrer Geschichte ins reine zu kommen und Anschluss an jenes Amerika vor dem Sündenfall zu finden." Abschließend urteilt Althen: "Sein Film, sagt Regisseur Zemeckis, sei der Versuch, die Generation der Baby-Boomer zu porträtieren im Stil des Malers Norman Rockwell, der wie kein anderer den amerikanischen Alltag zum Idyll umgestaltet hat. Dass der Preis für diese neue Beschaulichkeit ziemlich hoch sein könnte, weil sie die Augen vor der Vergangenheit verschließt, hat die Amerikaner selten gestört. Schließlich beschwört der amerikanische Traum auch nichts anderes als die Fähigkeit, sich ständig selbst neu zu erfinden. 'Forrest Gump' verhält sich zur amerikanischen Geschichte wie Disneyworld zum Rest der Welt. Das mag unterhaltsam sein, aber es ist nicht die Wahrheit. Und auch eine schöne Lüge ist eine Lüge." Dass der amerikanische Film auch anders konnte und dass nicht nur in Amerika das Interesse beobachtet werden kann, dunkle Kapitel schön zu färben, braucht wohl nicht eigens ausgeführt zu werden. Der Verweis auf Titel wie "Johnny zieht in den Krieg", "Geboren am 4. Juli", "Full Metal Jacket" und "Der Soldat James Ryan" mag genügen. Mit der historischen Wahrheit ist es gleichwohl so eine Sache. Mehr als Annäherungen sind kaum möglich. Selbst dokumentarische Bilder sind nur vermittelte Spuren von Ereignissen, nicht diese selbst. Ein kritischer Blick ist also in jedem Fall angebracht. Aber es macht schon einen entscheidenden Unterschied, ob das Interesse an historischer Wahrheit oder das Interesse an Unterhaltung im Vordergrund steht. Der christliche Blick auf Geschichte hat dabei noch mehr im Blick. Er ist nicht nur an der Wahrheit um der Wahrheit willen interessiert, er ist vor allem parteilich, denn er ist von der Wahrnehmungsperspektive der memoria passionis bestimmt. Das Christentum erinnert an die Leiden Jesu und im Spiegel seiner Passion zugleich an die Leiden aller Opfer von Gewalt und Unterdrückung. Das Christentum betrachtet die Geschichte aus der Sicht ihrer Opfer, nicht ihrer Sieger. Es hält das Gedächtnis des Leidens präsent. Als Mahnung, als kritische Erinnerung und als Ferment für eine humane politische Kultur. Vor diesem Hintergrund wird eine christlich inspirierte Filmkritik fragen, wie genau Filme, die historische Stoffe aufgreifen, die historischen Leidenserfahrungen der Menschen beschreiben oder wie sehr sie Geschichte im Sinne des Unterhaltungsinteresses stilisieren. Im Blick auf die Pflege unseres kulturellen Gedächtnisses mit Hilfe von Filmen könnte diese Perspektive bedeuten, dass zum Beispiel im Geschichtsunterricht an den Schulen ein gewisser Kanon von Filmen verbindlich gemacht wird, der die jüngere deutsche Geschichte aus der Sicht ihrer Opfer erzählt und der damit genau das umsetzt, was der Ort der Information im Berliner Mahnmal leistet. Ich denke dabei an Dokumentar- und Spielfilme wie "Nacht und Nebel", "Komm und sieh", "Shoah", "Schindlers Liste", "Das Leben ist schön", "Der Preis des Überlebens" und durchaus auch an einen Film wie "Sophie Scholl Die letzten Tage". Dass Filme für die Kultur des Erinnerns von zentraler Bedeutung sind, hat sich im Übrigen längst gezeigt. Immer wieder und zu Recht wird in diesem Zusammenhang die gesellschaftskulturelle Wirkung der 1979 im deutschen Fernsehen ausgestrahlten amerikanischen Fernsehserie "Holocaust" genannt. Heute verfügen wir über ein breites Spektrum von Filmen zu dieser Thematik. Sie sollten gezeigt werden, nicht zuletzt in der Schule. Wo sonst sollte man diese Filme zu Gesicht bekommen, wenn uns das Mediensystem nicht gerade aufgrund von Jubiläen und Jahrestagen mit einem punktuellen Overkill davon versorgt? Und wer, wenn nicht die Schule, kann ein Gegengewicht gegen den ganz auf Aktualität und Unterhaltung zielenden Trend der audiovisuell und multimedial bestimmten Gegenwartskultur im Feld der Audiovision selbst bilden?
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