Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


White Cube XVIII

Palermo Restore

Karin Wendt

Dass die Malerei in den 60er Jahren die Grenzen des Tafelbildes gesprengt hat, wird als Schritt der Moderne über die Moderne hinaus gewertet. Zu den frühesten Beispielen einer konzeptuellen Malerei, die nicht nur mit der Bildform und dem Prinzip Komposition experimentierte, sondern den Kontext erweiterte, indem sie den Raum zum Bestandteil der Malerei machte, gehören die Wandarbeiten des deutschen Künstlers Blinky Palermo (1943-1977). Palermo, mit bürgerlichem Namen Peter Schwartz, war ein Schüler von Joseph Beuys, arbeitete aber selbst in der Tradition von konkreter Kunst und in Auseinandersetzung mit der Minimal Art an der Idee des europäischen Tafelbildes. Palermo gehört zur ersten Generation von konzeptuell offen arbeitenden Künstler, deren Werk Malerei, Objektkunst und Environment auf eine innovative Weise verband. Unregelmäßig beschnittene Leinwände brachte er entgegen der Hängung des White Cube etwa über einer Tür an. 1966 bis 1972 entwarf er ungegenständliche Bilder aus zusammengenähten, auf Rahmen gespannten Textilstoffen – es sind Travestien der Farbfeldmalerei. Wegweisend waren vor allem seine Farbfeld-Wandmalereien, mit denen er eine Erweiterung der Malerei in den Raum erprobte und die sonst unthematische architektonische Umgebung im Kunstwerk sichtbar machte.

Zwischen 1968 und 1970 realisierte Palermo mehr als 20 solcher Interventionen in Treppenhäuser von Kunstinstitutionen, wobei er die vorgefundene Architektur durch Farben und Formen akzentuierte oder Maßeinheiten isolierte und an andere Stellen des Raumes sichtbar verschob. Bei "Stairwell 1“ übertrug Palermo die Maße der unteren Wandbekleidung aus dem Treppenhaus seines eigenen Appartements auf die Wände im Treppenhaus der Galerie Konrad Fischer in Düsseldorf. Für die Experimenta 4 bemalte er den Wandbereich unter dem Handlauf im Treppenhaus des Frankfurter Kunstvereins und zwei Jahre später entwarf er eine ähnliche Arbeit für das Fridericianum in Kassel im Rahmen der Dokumenta 5. Zu den bekanntesten Wandmalereien gehört sein Beitrag zu "Strategy: Get Arts“, einer spektakulären Ausstellung, die Richard Demarco 1970 im Rahmen eines Stadtfestivals in Edinburgh zusammen mit Künstlern der Düsseldorfer Kunstakademie kuratierte. Für seine Installation malte Palermo ein horizontales Farbband rund um den Architrav im klassizistischen Treppenhaus des Hauptgebäudes: Blau markierte die nördliche Wand, Gelb die östliche, Weiß zog sich im Süden und Rot im Westen, wobei das Bandmaß genau der Höhe des Balkens entsprach.

Wenn es um Blinky Palermos installativ angebrachten Farbfelder geht, wird immer auf die amerikanische Farbfeldmalerei verwiesen. Mindestens so offensichtlich ist ihre Nähe zu Ideen des frühen Konstruktivismus, den Raum so zu dynamisieren, dass dessen gegenständliche Eigenschaften zugunsten einer Eigenwertigkeit von Form und Farbe zurücktreten. Farben fungieren hier in ihrer medialen Eigenschaft, insofern ihre Wirkung weder mit dem Gegenstand, der sie trägt, verbunden, noch völlig unabhängig davon zur Geltung kommt. "Colour is … not merely a property of the seen object, nor simply of the light reflecting from the object but a dynamic quality that is as much a result of the slippery quantity, mind."[1]

Featuring Palermo

Sämtliche der installativen Malereien von Palermo wurden später übermalt, und da der Künstler mit wasserlöslichen Farben arbeitete, ist mit den Überstreichungen meist auch die Substanz verändert, wenn nicht zerstört. Die Entwicklung der 90er Jahre hin zu einer immer stärkeren Reflexion der kontextuellen Möglichkeiten von Kunst rückt heute diese Anfänge des Ringens um sichtbare und unsichtbare Bedeutung als Pionierleistung in den Blick. An diesem Punkt wird nun paradoxerweise gerade die Tatsache, dass die konkrete Arbeit nicht mehr sichtbar ist, zu einem Problem. Ist es sinnvoll, sie zurückzugewinnen und sie, möglicherweise auch gegen die ursprüngliche Absicht, dauerhaft zu installieren?

Die Charta von Venedig von 1964 erläutert das Ziel der Restaurierung wie folgt: "Wiederherstellungsmaßnahmen an beschädigtem oder verfallenem Kunst- und Kulturgut mit dem Ziel, die ästhetischen, künstlerischen und historischen Werte zu bewahren und lesbar zu machen. Restaurierung erfolgt auf der Basis der kritischen Interpretation des Kunstwerkes und endet dort, wo die Hypothese beginnt.“ Das Interesse an einer Restaurierung gilt also der Erschließung eines Kunstwerks für die Gegenwart und die Grenze liegt dort, wo die historischen Grundlagen für ein begründetes Interesse fehlen, eine Rekonstruktion das Werk also in einer Weise realisieren würde, die einer dokumentarisch verlässlichen Basis entbehrt.

Ein solches Interesse an einer Wiedersichtbarmachung erfährt in den letzten Jahren auch die Edinburgher Arbeit "Blau/gelb/weiss/rot“. In ihrem Fall gibt es zahlreiche Skizzen, Zeichnungen und Fotografien des Künstlers, die eine relativ exakte Rekonstruktion erlauben würden. Ausgehend von diesem Dokumentationsmaterial soll nun eine Debatte Forschungsergebnisse bündeln und Argumente für und gegen eine Wiederherstellung der Wandmalerei zusammentragen. Nach einem ersten Treffen zu Beginn des Jahres werden auf der Konferenz "Vier Farben genügen: Palermo, Kunst und Architektur“ vom 21. bis 22. Oktober 2005 Lösungen vorgestellt und diskutiert werden. An "Palermo Restore“ beteiligen sich das Visual Arts Research Institute Edinburgh - ein Zusammenschluss von College, Universität, der National Gallery und dem Nationalmuseum - die Demarco European Art Foundation, das Kunstmuseum und das Kunsthistorische Institut der Universität in Bonn. Begleitet wird das Projekt von einer Ausstellung in der Talbot Rice Gallery, die das Entwurfs- und Dokumentationsmaterial, das sich heute in der graphischen Sammlung des Bonner Kunstmuseums befindet, unter dem Titel "Palermo Restore: the Bonn Archive“ präsentiert. Der Projektverlauf soll in einem Buch und auf DVD festgehalten werden und die projekteigene Website informiert über die aktuelle Entwicklung: http://www.eca.ac.uk/palermo/

Einen hohen Stellenwert für die Diskussion hat die technische Untersuchung. Sie beinhaltet bereits eine Rückgewinnung wichtiger Daten: des genauen Ortes, der Originalfarben und ihrer Verbindung zum Untergrund. Diskutiert werden sollen daneben rechtliche, (kunst-)historische und ethische Argumente für und gegen eine Restaurierung.

Recovering Palermo

Mit der Idee, die Wand als erweiterte Leinwand zu nutzen, befragte Palermo jedoch nicht nur die Neuerungen der Moderne, sondern er knüpfte gewissermaßen auch an die Anfänge von Malerei an. Palermos Wandmalerei hat insofern konzeptuellen Charakter, als sie die Tradition als solche erneut ins Bewusstsein ruft: früheste Zeugnisse von vorgeschichtlichen Höhlenmalereien, bedeutende Reste der ägyptischen, der kretisch-mykenischen und der römischen Wandmalerei, die Malereien der christlichen Katakomben, die Blüte der strengen Wandmalerei in romanischer Zeit und die ersten Entwürfe einer autonomen Malerei auf den berühmten Fresken von Cimabue und Giotto. Das Medium Wandmalerei nutzten auch Künstler des 19. Jahrhunderts wie Delacroix und Hans von Marées, und Vertreter der Moderne wie Ferdinand Hodler, Oskar Schlemmer oder Henri Matisse. Immer liegt darin nicht nur die Idee einer Infragestellung des bürgerlichen Kunstwerks, sondern auch der Versuch die Genese der Malerei und ihr vielfältiges technisches Handwerk zu reaktivieren. Nicht zuletzt die Entscheidung zwischen einer flächenbewahrenden oder einer nach dreidimensionaler Illusion strebenden Wandmalerei gilt es zu treffen. Palermos Arbeit lässt sich so vielleicht auch als Zitat dieser kulturellen Scheidewege lesen. Eine Strategie bündelt, fokussiert und vernetzt, darin liegt die Gestaltkraft der Kunst der 70er Jahre, die gezeigt hat, wie vielfältig sich über Kunst nachdenken und diskutieren lässt und wie nachhaltig künstlerische Statements wirken.

Nicht zuletzt mit dem Verschwinden von Palermos Arbeit wird ein weiteres Charakteristium von Wandmalereien deutlich. Gerade die verblichenen oder übermalten und wieder freigelegten Spuren von Wandmalereien haben ihre eigene Ästhetik. In ihrer Fragilität und Fragmentarität tragen sie zwei Merkmale, die die ästhetische Moderne für sich neu entdeckt hat. Von daher könnte man fragen, ob nicht die temporäre Anlage doch konstitutiv für Palermos Intention war. Anders als dauerhaft angelegte Arbeiten sind Kunstwerke, die zeitlich begrenzt intervenieren, Medienkunstwerke. Es wäre der strategische Ansatz von Palermos Ausstellungsbeitrag, der ja ausdrücklich im Kontext einer Herausforderung der bildenden Kunst durch die neuen Medien entstand. Dies legt die Aussage des Kurators nahe: "The exhibition is a kind of ‚non-exhibition’ … It was intended … to point the way to the new direction which today’s artists must take if they are to survive the powerful competition from cinema, television and other forms of mass media which are more easily available to the general public.” (R. Demarco) Der Ausstellungstitel "Strategy: Get Arts“ zitiert ein Palimdrome von André Thomkins, einen Satz, der vorwärts und rückwärts gelesenen identisch ist. Die gegenwärtige Debatte hat von daher auch Modellcharakter. Sie spiegelt unser Verhältnis zur Moderne: Unseren Widerstand, in ihr anzukommen und unsere Leidenschaft für den Weg dorthin.

Anmerkungen
  1. Matthew Fuller: Le Match des couleur. The systematic arrangement of the senseless, www.tate.org.uk/netart/match/mat3.htm

© Karin Wendt 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 37/2005
https://www.theomag.de/37/kw46.htm