Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Bilderpredigt?

Eine Nachfrage

Andreas Mertin

Schon dem Titel und dem einleitenden Satz dieses Buches möchte man als kulturinteressierter und dem Verhältnis von Protestantismus und Bildender Kunst seit vielen Jahren nachgehender Kulturwissenschaftler energisch widersprechen. "Seht, was ihr hört!" - ist das ein programmatischer Titel für die protestantische Bilderpredigt? Dieser Titel scheint mir bis in den Buchstaben hinein illustrativ geprägt zu sein. Seht, was ihr hört - das atmet etwas von dem, was Umberto Eco als frappante Ähnlichkeit von Mittelalter und Jetztzeit bezeichnet hat: „In beiden Epochen räsoniert die Bildungselite anhand der geschriebenen Texte mit buchgläubiger Mentalität, aber dann übersetzt sie die essentiellen Daten des Wissens und die Grundstrukturen der herrschenden Ideologie in Bilder.“[1] Keinesfalls kann jedoch nach allen Erkenntnissen zur Bildhermeneutik des 20. Jahrhundert davon ausgegangen werden, dass sich Sehen und Hören derart ineinander übersetzen lassen.[2] Selbst für historische Kunst sind das falsche Voraussetzungen.

Der erste Satz des Buches lautet so: "Der Augensinn ist nach wie vor ein Stiefkind in der protestantischen Kultur." Ehrlich gesagt, kann ich derlei Unsinn nicht mehr hören. Das ist papageienartig einem tradierten Stereotyp nachgeplappert - ohne dass man sich der Mühe machen würde, es einmal konkret empirisch zu überprüfen. Das katholische Paradigma eines sich am und im Kult zeigenden Kulturverhältnisses wird hier - beinahe 500 Jahre nach der das Kulturverständnis der Neuzeit revolutionierenden Reformation! - zu einem allgemeingültigen christlichen Paradigma stilisiert. Als wenn sich der protestantische Stil ausschließlich im Kult und eben nicht in der Gesamtheit des Lebens zeigen würde. Ob jemand den Augensinn pflegt, entscheidet sich nicht an der Ausstattung seines Kultraumes, sondern in der Gesamtheit seiner Lebenswelt! Und hier sind es die Protestanten, die seit Jahrhunderten Kunstbesitz und Kunstinteresse auszeichnet. Nach der Logik des Kultparadigmas dürften Calvinisten so gut wie keine Bilder besitzen und sich nicht für Kunst interessieren - exakt das Gegenteil ist der Fall.

Meine eigenen Großeltern, die aus der reformierten Gemeinde stammten, haben bestimmt nie über ihr durch ihre Religion bedingtes Kulturverhältnis nachgedacht, aber ihr Haus war von oben bis unten mit Bildender Kunst, genauer: mit Ölgemälden gefüllt. Wenn man ihnen gesagt hätte, der Augensinn sei bei ihnen ein Stiefkind, hätten sie sicher gelacht.

Michael North hat in seiner brillanten Studie "Zur Sozialgeschichte der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts" gezeigt, wie verbreitet der Umgang mit bildender Kunst in den reformierten Niederlanden gewesen ist. „In fast allen niederländischen Häusern hingen künstlerische Erzeugnisse, die von einfachen Drucken über Zeichnungen und Kopien bis zu Gemälden reichten. Gemälde besaßen, wie man für Delft geschätzt hat, immerhin zwei Drittel der Haushalte“[3]. Das muss doch den verwundern, der den protestantischen Augensinn für verkümmert hält. Auch im Blick auf die ästhetische Praxis des Protestantismus selbst, dürfte das Urteil eines verkümmerten Sinnes kaum zutreffen. Bereits 1841 monierte C.G.H. Schenk, es gäbe unter den protestantischen Pfarrern „so große Freunde des Bilderwesens, dass sie das Bild über welches sie sprechen wollten, abmalen und an die Kanzel hängen ließen.“[4] Und wenn wir erst die ästhetische Kehre in der protestantischen Theologie des späten 20. Jahrhunderts und die florierende protestantische Ausstellungspraxis zeitgenössischer Kunst in den letzten 25 Jahren mit bedenken, dann zeigt sich eines klar und deutlich: von einer im Protestantismus liegenden Sinnenfeindlichkeit kann keine Rede sein. Das geht so weit, dass Kunsthistoriker wie Beat Wyss den Begriff der "ästhetischen Erfahrung" als dezidiert protestantischen beschreiben.

Die Spiritualität des Protestantismus, zu der das Buch doch einen Beitrag leisten möchte, beginnt jedenfalls nicht mit der liturgischen Praxis im Gottesdienst, sondern umfasst die gesamte Lebenswelt eines Protestanten. Seine Spiritualität erweist sich m.a.W. an seinem grundsätzlichen Interesse an der Kunst und der Kultur und sicher auch nicht an deren religionsspezifischen Inhalten.

Materialiter enthält das Buch vier Bildbeispiele aus der Zeit zwischen 1420 und 1574, jeweils mit einer Bildbetrachtung und einer Bildpredigt. Hinzu kommen im zweiten Teil des Buches grundsätzliche Überlegungen zu Bildpredigt und Bilddidaktik.

Die Predigten verstehen Bilder als Bilderzählungen, wobei die Erzählung weitgehend durch die Bildinhalte bestimmt ist. Cranach malt die Erzählung, der Prediger erzählt das Geschehen im Gemälde. Die Idee, dass das Bild selbst ein Verkündigungsgeschehen sein könnte, scheint so gut wie nie auf. Tatsächlich könnte jedoch die Erfahrung, die wir gegenüber der Kunst machen, in die Verkündigung dergestalt eingebunden werden, dass wir in der Kunst oder in einzelnen Kunstwerken Hinweise auf das Reich Gottes entdecken oder auch in der Struktur ästhetischer Erfahrung ein Gleichnis des Himmelreiches sehen und dies in der Predigt thematisieren. Man müsste dann einräumen, dass Kunstwerke wahre Worte „extra muros ecclesiae“ sein können, oder auch, „dass alle ernstzunehmende Kunst ... ein opus metaphysicum ist“ (Georg Steiner), oder dass Kunst „sich zur Schöpfung gleichnisartig“ (Paul Klee) verhält. Tatsächlich lässt sich nicht bestreiten, dass theologisch der Kunst bzw. einzelnen Kunstwerken diese Zuschreibungen zukommen können. Die Reflexion des Kunsthaften des Kunstwerks deckt gewisse Analogien zur religiösen Erfahrung auf, so dass die ästhetische Erfahrung als ein „Gleichnis des Himmelreichs“ wahrgenommen werden kann. Dass ästhetische Objekte zum Material bzw. Träger von Verkündigung werden können, zeigt ein Blick auf die neutestamentlichen Gleichnisse. Auch die Gleichnisse Jesu erweisen sich im literaturwissenschaftlichen Sinn als „autonom“, seine Erzählungen nehmen die Aufmerksamkeit des Rezipienten vollständig in Anspruch, ohne dass der Zuhörer auf einen außerhalb der Erzählung selbst liegenden Referenzrahmen verwiesen werden müsste. Primär verweist das Gleichnis wie jedes Kunstwerk als ästhetisches auf sich selbst und negiert jede außerhalb seiner selbst liegende Bedeutung. Erst im zweiten Schritt wird deutlich, dass in dieser Selbstreferenz auch eine andere Referenz zur Sprache kommen kann: Kunst konfrontiert den Rezipienten mit einer Möglichkeit, die die Wirklichkeit transzendiert.[5] So wird der Prediger säkulare Kunstwerke dann als „Gleichnisse des Reiches Gottes“ aufnehmen dürfen, „wo sie in einem selbstkritischen Prozess auf die besondere Geschichte Gottes mit den Menschen ... bezogen werden“ können. Aber er wird sie als säkulare Kunstwerke, als ästhetische Objekte aufnehmen müssen oder er wird sie verfehlen.

Das Buch "Seht, was ihr hört!" dokumentiert eine Predigtreihe, erhebt aber zugleich den Anspruch, modellhaft Aussagen zur Bildpredigt zu machen. Letzteres ist nicht gelungen. Das Buch führt nicht über Luthers Ansatz einer homiletischen Bilddidaktik hinaus. Diese ist aber nicht mehr auf der Höhe der Zeit, sie wurde von der Kunst wie der Theologie überholt.

Anmerkungen
  1. Umberto Eco: Über Gott und die Welt. München 1985, S. 29
  2. Vgl. etwa Oskar Bätschmann, Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Die Auslegung von Bilder. Darmstadt 1984. Gottfried Boehm, Zur Hermeneutik des Bildes in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Hg. von Gadamer und Boehm, Frankfurt 1978, S. 444-471.
  3. M. North, Kunst und Kommerz im Goldenen Zeitalter. Zur Sozialgeschichte der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Köln/Weimar/Wien 1992, S. 129.
  4. C.G.H. Schenk, Geschichte der deutschen protestantischen Kanzelberedsamkeit von Luther bis auf die neuesten Zeiten, Berlin 1841, S. 67.
  5. Vgl. dazu W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 2/1990

© Mertin 2005
Magazin für Theologie und Ästhetik 38/2005
https://www.theomag.de/38/am166.htm

Der  Buch-per-Klick-Bestell-Service