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Magazin für Theologie und Ästhetik


Bildverweigerung im Bild

Mystik — eine vergessene Kategorie in der Kunst der Gegenwart

Horst Schwebel

Spricht man von Bilderstreit und Bildfeindschaft, hat man vor allem Theologen vor Augen, die gegenüber bestimmten Erscheinungsformen des religiösen Bildes oder gegen das Bild überhaupt protestieren. Die Künstler stehen hierbei auf der Seite der Bildbejahung, sind also Objekt und Zielscheibe des bilderfeindlichen Protests. Im nachfolgenden soll gezeigt werden, dass man auch in der Kunst selbst Bildfeindschaft antreffen kann, wobei - und das ist nahe liegend - der Protest gegen eine bestimmte Art der Verbildlichung im Medium Bild realisiert wird. Dies Phänomen, das mit Hilfe eines Bildes eine bestimmte Bildhaftigkeit eliminiert und negiert wird, scheint mir parallel zu dem Phänomen, das man in der religiösen Sprache Mystik nennt. In der Weise der via negationis werden konkrete religiöse Inhalte (religiöse Bildvorstellungen) einer Einstellung geopfert, die jenseits solcher Vorstellungsgehalte ist.

»Mystik der Landschaft« bei Caspar David Friedrich

Bereits Caspar David Friedrich (1774-1840) verzichtete auf die überkommene Ikonographie, um seine Religiosität an die Landschaft zu binden. Im Streit um das »Kreuz im Gebirge«, einem Altarbild, das der Graf von Thun-Hohenstein für seine Privatkapelle in Auftrag gegeben hatte, sagte der Kammerherr von Ramdohr, es sei »eine wahre Anmaßung, wenn die Landschaftsmalerei sich in die Kirchen schleichen und auf die Altäre kriechen will.«[1] Von Ramdohr hatte gespürt, dass hier etwas Neues im Entstehen war, das in seiner Konsequenz das Verhältnis von Religion und Kunst nahezu umkehren könnte.

Zum einen hat die christliche Ikonographie mit ihren heiligen Gestalten ihre Verbindlichkeit als Thema von Kunstwerken eingebüßt. Zum anderen begegnen uns bei Caspar David Friedrich Landschaften, die ohne religiöse Kategorien gar nicht deutbar sind. Das bezieht sich auf den »Morgen im Riesengebirge« (1811) wie den »Wanderer über dem Nebelmeer« (1818), den »Mönch am Meer« (1809/10) und die Ruinen- und Meereslandschaften. Öfter wurde auf die Nähe von Friedrich zu dem Theologen Schleiermacher hingewiesen, der Religion als »Anschauung des Universums« und »Sinn und Geschmack für das Unendliche« begriff.[2] Bei Friedrich wie bei Schleiermacher wird die Subjektivität, genauer: das religiöse Gefühl, zum Dreh- und Angelpunkt für das Verstehen der menschlichen Vereinigungssehnsucht mit dem Göttlichen; sie verdeutlicht die Einsamkeit und Fremdheit des Ichs angesichts der übermächtigen und unfassbaren Unendlichkeit.

Charakteristikum von Mystik im religiösen Sinne ist die Reduktion von Religion auf die Subjektivität, auf das Gefühl, den Seelenfunken (scintilla) des Meisters Eckhart. Das kritische Moment der mystischen Reduktion richtet sich gegen die Religion als dogmatisches Lehrgebilde, als ethisches System, ebenso wie gegen Religion als Institution und Ritual. - Damit ist der Begriff Mystik noch nicht umfassend definiert, gleichwohl ist sein Movens erfasst.

Jenseits der Wirklichkeit? (Die Wege von Marc und Kandinsky)

Die von der Romantik ausgehende Linie ließe sich im 19. Jahrhundert in Europa und in den Vereinigten Staaten an einigen Stellen verfolgen. Dem braucht an dieser Stelle nicht nachgegangen zu werden.[3] Machen wir gleich einen Sprung ins 20. Jahrhundert, zumal sich hier das Problem in besonderer Weise zuspitzt.

Ich denke insbesondere an die Künstler des Blauen Reiters. Bei Franz Marc, der sich am Ende seiner Schulzeit für die Kunst statt für die Theologie entschied, lässt sich in seinen Werken eine Entwicklung feststellen, die mit dem Weg des Mystikers vergleichbar ist: »Der unfromme Mensch, der mich umgab (vor allem der männliche), erregte meine wahren Gefühle nicht, während das unberührte Lebensgefühl des Tieres alles Gute in mir erklingen ließ. Und vom Tier weg leitete mich ein Instinkt zum Abstrakten, das mich noch mehr erregte; zum zweiten Gesicht, das ganz indisch-unzeitlich ist und in dem das Lebensgefühl ganz rein klingt. Ich empfand schon früh den Menschen als hässlich; das Tier schien mir schöner, reiner; aber auch an ihm entdeckte ich so viel Gefühlswidriges und Hässliches, so dass meine Darstellungen instinktiv, aus einem inneren Zwang, immer schematischer, abstrakter wurden. Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir mit jedem Jahr mehr hässliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst jetzt plötzlich die Hässlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewusstsein kam.«[4] Bei Franz Marc lässt sich eine Bewegung vom Menschen weg zum Tier aufzeigen, die in einer Art kosmischer Harmonie im Sinne des Einklangs von Natur und Tier zur Darstellung kommt. Aber auch diese Phase bleibt Zwischenstation angesichts des Weges zu einer Abstraktion, bei der auch die Naturform des Tiers überwunden wird. Der Weg zur 'Reinheit' führt dazu, einen Bereich ausfindig zu machen, der neben und jenseits der Wirklichkeit liegt.

Da Marc bereits 1917 bei Verdun fiel, war es nicht ihm, sondern vor allem Wassily Kandinsky vorbehalten, die neue transnaturale Ästhetik zu vertreten. Das Abstrakt-Bildnerische ist nach Kandinsky ein eigener Bereich, eine eigene Welt neben der Natur. Hier einzudringen bedeutet im Idealfall, die umgebende Wirklichkeit zu verlassen und für Augenblicke in einen Bereich des 'Paradieses' vorzudringen, das in der Wirklichkeit so nicht vorfindlich ist. Bewusst spricht Kandinsky vom »Geistigen in der Kunst.«[5] Seine Apologie der gegenstandsfreien Kunst nimmt Züge des Prophetischen an.

Kandinsky vertritt in Theorie und Praxis eine Kunstanschauung, deren Ziel als Transnaturalisierung beschrieben werden könnte: das geistige Prinzip wird vom Natürlichen abgetrennt und ihm entgegengestellt. Paul Klee, ebenfalls ein Künstler des Blauen Reiters, ist in seiner Theorie und seinem Kunstschaffen eher an einer Integration von Kunst und Natur interessiert. 'Nach der Natur' zu arbeiten, lehnt auch er ab, aber der Künstler sollte das in ihm Schöpferische zur Geltung bringen und 'wie die Natur' arbeiten.[6] Der Künstler wird mit einem Baum verglichen, dessen Wurzeln in die Tiefen des Erdreiches reichen. Die Geisteshaltung, die Klee vertritt, ließe sich Panentheismus nennen.

Tendenz zum Absoluten (Mondrian, Malewitsch)

Für Piet Mondrian wiederum gilt: »Um dem Geistigen in der Kunst näher zu kommen, wird man so wenig wie möglich von der Realität Gebrauch machen.«[7] Betrachtet man seine auf Vertikalen und Horizontalen und reine Farben reduzierten Bilder, so mag in Vergessenheit geraten, dass Mondrian in der Vertikalen das Männliche und in der Horizontalen das Weibliche sah und die Bildharmonie mit dem Gegensatz und Zusammenspiel der Geschlechter in Verbindung brachte. Diese an ein 'Natürliches' erinnernde Rückbindung des Werkes darf jedoch nicht überinterpretiert werden. Obgleich sich Mondrian der natürlichen Polaritäten bewusst ist, strebt er letztlich danach, einen Bereich aufzuzeigen, in welchem die Gegensätze irdischer Wirklichkeit in einer anderen Harmonie aufgehoben und damit zum Verschwinden gebracht werden. Bei einem solchen Weg spricht man in der Mystik von der via purgativa, einem Weg stufenweiser Entweltlichung, dem die con-templatio folgt: das reine Schauen ohne Worte. Mondrian jedenfalls will zu einem Punkt des Ausgleiches kommen, der jenseits der Gegensätze steht.

Stehen wir bei Mondrian gleichsam 'vor dem Tor' zum Absoluten, so ist Kasimir Malewitsch durch dieses Tor bereits hindurch geschritten. Ist eine noch weitergehende Reduktion vorstellbar als Malewitschs schwarzes Quadrat auf weißem Grund (1913/15) oder der schwarze Kreis auf weißem Grund oder das weiße Quadrat auf schwarzem Grund (1918)? Nicht mehr Harmonie, der Ausgleich von einem Etwas — wie bei Mondrian - ist das Ziel, sondern die Annihilation, die Annäherung an das Nichts. Gott, Geist, das Nichts und die Gegenstandslosigkeit werden in den Selbstäußerungen Malewitschs zu nahezu austauschbaren Begriffen: »Gott der Geistige und Gott der Gegenständliche werden aufgehen in der Einheit der Gegenstandslosigkeit.«[8] Zu Recht fragt der Mainzer Kunsthistoriker Friedhelm Fischer, ein großer Kenner dieser Epoche: »Jene forcierte Beschäftigung mit dem Geistigen, die Konzentration auf Askese und Katharsis, die Verdächtigung und schließlich Elimination jeder Nicht-Identität, dient dies alles wirklich einem künstlerischen Begriff? Oder haben hier Philosophie und Mystik einen Sieg auf fremden Felde davongetragen?«[9]

Ganz gleich, wie man die Frage von Fischer beantwortet, man wird nicht bestreiten können, dass bei diesen, keineswegs unbedeutenden, Künstlern Kunst in die Nähe zur Religion tritt und zu einer ernst zu nehmenden Konkurrentin wird. Die Konkurrenz kommt nicht etwa dadurch zustande, dass die Kunst konkrete religiöse Vorstellungsgehalte aufgriffe. Vielmehr beschreitet in unseren Beispielen die Kunst den umgekehrten Weg. Sie ergreift die Position des Bilderfeinds, sie wird puristisch. Die Vorstellung des 'Rein-werdens' und der Reinigung, die mit dem lateinischen Adjektiv »purus« verbundenen Wortgebilde, gehörten der religiösen Sprache an, bevor sie in der Sprache der Kunst wirksam wurden.

Spiritualität in der Abstraktion

Stehen wir mit Mondrian - und vor allem mit Malewitschs »schwarzem Quadrat« - am Ende eines Reduktionsweges, über den hinaus keine Weiterentwicklung mehr vorstellbar wäre?

a. Barnett Newman (1905-1970)

Ohne die Spur im einzelnen zu verfolgen, muss man generell daran festhalten, dass diese Form von Radikalität Nachfolger fand, die die Prinzipien ihrer Vorläufer aufgriffen und gleichwohl neue Bilder schufen. Um es auf eine einfache Formel zu bringen, könnte man sagen: Die konstruktivistisch-reduktionistische Kunst Europas wurde nach dem zweiten Weltkrieg in den USA aufgegriffen und auf große Bildformate gebracht. Das konstruktivistisch-reduktionistische Konzept ist zwar geblieben, aber die Reduktion — bis hin zur Leere - war an übergroße Formate gebunden, die sparsam in den Raum gestellt wurden, so dass der Betrachter diesen Bildern wie auf keine immanente Funktion bezogenen Gegenständen begegnete. Bei Barnett Newmans Bild »Wer hat Angst vor Rot — Gelb — Blau?« werden die Farben Mondrians aufgegriffen. Indem allerdings in Newmans Streifenbild diese drei Farben als überdimensionierte Streifen vorkommen, wird die Begegnung mit dem Bild mit der Kategorie des Erhabenen verbunden. In The Sublime Is Now (1948) schreibt Newman: »Statt 'Kathedralen' aus Christus, aus dem Menschen oder dem 'Leben' zu bauen, erschaffen wir sie aus uns selbst, aus unseren eigenen Gefühlen. Das Bild, das wir hervorbringen, ist das in sich selbst gültige der Offenbarung, wirklich und konkret, und jeder, der es ohne die nostalgische Brille der Geschichte betrachtet, wird es verstehen können.«[10] In der Art der Beschreibung erinnert dies an Caspar David Friedrich, der in seinen religiösen Landschaften dem eigenen Fühlen gegenüber aller Tradition den Primat zuwies, und natürlich wieder an Malewitsch, für den das Kunstwerk ebenfalls zu einer Art 'Offenbarung' wurde.

Die Nähe zum Religiösen ist bei Barnett Newman keineswegs interpretatorische Willkür. Sehr bedeutend wurde ein Zyklus von 14 Bildern, bei denen lediglich schwarze und weiße Streifen auf einer ungrundierten Leinwand zu sehen sind, Es heißt »14 Stationen des Kreuzes« (1958-1966). Der Titel des Gesamtwerkes und die Zahl der einzelnen Bilder, nämlich 14, machen deutlich, dass hier bewusst eine Verbindung zum katholischen Ritus der Kreuzwegstationen hergestellt wird. Über die Entstehung schreibt Newman: »Von Anfang an empfand ich, dass die Bilder ein bedeutendes Thema hatten, und während ich an ihnen arbeitete, wurde mir klar, dass die Bilder mein Verständnis der Passion beinhalteten. Und wie die Passion keine Reihe von Anekdoten darstellt, sondern ein einziges Geschehen verkörpert, so stellen auch diese 14 Bilder, obwohl jedes einzelne in seiner Unmittelbarkeit ganz und für sich ist, alle zusammen eine vollständige Aussage über einen einzigen Gegenstand dar.«[11]

Gewiss wird man nicht Newmans Zyklus in direkter Weise mit den Bildern in Verbindung bringen, die der Katholik beim Abschreiten des Kreuzweges sieht. Das Christologische wurde bei Newman eliminiert, ebenfalls jegliches Narrative; selbst die Anknüpfung an ein menschliches Antlitz — wie bei Jawlensky — wurde nicht mehr vorgenommen. Das Kunstwerk war in der Bildentstehung das erste, die Konnotation »Kreuzweg« ergab sich in der Folge. Das Unaussprechliche und Nichtdarstellbare jener Momente, in denen sich die Sinnfrage stellt, wird in diesem Werk anvisiert.

b. Mark Rothko (1903-1970)

Eine religiöse Interpretation erfuhr ebenfalls das Werk von Mark Rothko. Rothkos Bilder sind wie große Tore, vor denen man steht und in die man eindringen könnte. Farblich erfolgt eine Reduktion auf meist zwei Grundfarben, die nahe beieinander sind (etwa Braun und Grau oder zwei verschiedene Wertigkeiten von Rot). Lässt man sich auf diese Bilder ein, gelangt man in einen Bereich des Vagen, wo die umgebende Wirklichkeit ausgeblendet ist und auch das betrachtende Ich in einen Zustand von Entpersonalisierung tritt. Alles verschwimmt und verliert seine Identität. Der Betrachter wird in einen Bereich hineingezogen, den er nicht mehr fassen und definieren kann. Man könnte von einem Bereich des Nahe-dem-Nichts, des Unbestimmbaren, oft von einem Bereich des Dunklen sprechen. Am 27. Februar 1971 wurde in Houston in Texas eigens für Bilder von Rothko eine Kapelle gebaut, deren einziges Ziel es ist, Menschen verschiedener Religionen und Konfessionen zu einer gemeinsamen Meditation hinzuführen; eine Meditation ohne ein immanent zu fassendes Etwas.

c. Mark Tobey (1890-1976) und Gotthard Graubner (1930 geb.)

Einige Künstler, für die solche Bildreduktionen charakteristisch sind, geben auch im Künstlerkommentar zu verstehen, welcher geistige Zustand mit diesen Bildern verbunden ist. Mark Tobeys informelles Auflösen der Bildfläche steht im Zusammenhang mit Begegnungen mit der Bahai-Religion und mit dem Geist des Zen. Von seiner Begegnung mit dem Zen schreibt er: »Aber ich habe dort das empfangen, was ich den kalligraphischen Impuls nenne, der meiner Arbeit neue Dimensionen erschlossen hat. So konnte ich das Rauschen und den Wirrwarr der großen Städte malen, das Sich-Verflechten der Lichter und die Ströme der Menschen, die in die Maschen dieses Netzes verstrickt sind.«[12] All dies, was er erlebt, will er freilich in dieser Weise durchdringen, dass statt des Narrativen einzig das Panta rhei, das Strömen und Fließen dargestellt wird: Das Eine wird verstanden als das Undarstellbare und Unfassbar, dem aber gleichwohl Bewegung und Dynamik innewohnt.

Vom Zen geprägt ist ebenfalls der Düsseldorfer Maler Gotthard Graubner, dessen monochrome »Kissenbilder« eine einzige Farbe in verschiedener Dichte und Tiefe und verschiedenen Übergängen enthalten, so dass der Betrachter — losgelöst von der Alltagswelt — in einen Bereich eindringt, wo man scheinbar dem Nichts begegnet, das aber nicht das Nichts des Todes ist, sondern ein mit Dynamik und Potentialität aufgeladenes Nichts.

d. Radikale Malerei

Bei den bisher genannten Künstlern scheint mir der Hinweis auf die religiöse Dimension zur Erklärung des Werkes durchaus angemessen. Man wird diesen Künstlern ihre Ernsthaftigkeit nicht abstreiten können. Gleichwohl steht in Frage, ob man eine jegliche Reduktion auf wenige Bildbestandteile, auf Grundfarben oder Grundflächen, als mystisch oder metaphysisch ausdeuten sollte. Robert Ryman, ein Maler weißer Bilder, wehrte sich gegen eine metaphysische Interpretation seines Weiß. Aber wäre Ryman mit einer rein materialistischen Interpretation seines Weiß einverstanden? Was würde bleiben, wenn wir uns — ohne Aura — auf eine rein materialistische Interpretation — »weiß ist weiß« -einlassen würden?

Die neue Tendenz zu einer »radikalen Malerei«, die auch in den USA gegenwärtig wirksam ist,[13] legt in ihrer Theorie einen gewissen Wert auf die Feststellung, dass das Bild nichts als ein Bild, die Fläche nichts als Fläche und die Farbe nichts als Farbe sein will. So abweisend gegenüber Ideenhaftem ein solcher Anspruch auch auftritt, so kann er - bis in die Wortwahl hinein — seine Ursprünge nicht verleugnen. Werfen wir den Begriff Mystik in die Diskussion, so ist es gerade die Tendenz von Mystik, einen Punkt zu erreichen, bei dem nichts, absolut nichts, das sich sprachlich ausdrücken ließe, mehr assoziierbar wäre. Diese Künstler stehen in der Konsequenz und Folge eines mystischen Bewusstseins, allerdings bezogen auf das Visuelle. Man könnte auch den Begriff der Bilderfeindschaft (Ikonoklasmus) heranziehen, wenn man darunter versteht, dass durch die Präsenz solcher radikalen Bilder in ihrer Absolutheit sämtliches Weltbildhaftes abgewehrt werden soll. Der Angriff geht nicht allein gegen das Figürliche, das Narrative, sondern gegen die Form überhaupt, insofern sie Begrenzung von etwas sein könnte, das unbegrenzt ist. Die Deutung der sogenannten »radikalen Malerei« als Mystik scheint mir nach wir vor angemessen. Vor allem dann, wenn man die neuen Bilder der radikalen Malerei in einen größeren Geschichtszusammenhang stellt und auch — was wir jetzt nicht getan haben - ähnliche Tendenzen in Japan und Korea vergleichend miteinbezieht. Der Satz von Franz Marc »Eine Mystik erwachte in den Seelen«[14] ist nicht nur auf ihn selbst und die Meister des Blauen Reiter beschränkt, sondern bis in die Gegenwart hinein zu verfolgen.

Visuelle Mystik als Ersatzreligion?

Das Bemerkenswerte an diesen Beobachtungen liegt darin, dass in der Kunst des 20. Jahrhunderts die Tendenz zur Mystik eine nicht zu unterschätzende Rolle einnimmt. Freilich trifft dies nicht auf alle Erscheinungsformen der Kunst dieses Jahrhunderts zu; Picasso beispielsweise und viele andere lassen sich unter diesen Begriff nicht subsumieren. Man könnte auch nicht von der Haupttendenz der Gegenwartskunst sprechen, wohl aber von einer wichtigen Tendenz.

Es ist nun zu fragen, wie eine solche Tendenz zur Mystik, wie wir sie bei der Gegenwartskunst beobachtet haben, religionswissenschaftlich einzuordnen wäre. Ist man der Meinung, bei Ausdrucksformen der Kunst etwas über die Tiefenstruktur der Gegenwartskultur zu erfahren, dann ist diese Beobachtung äußerst wichtig. Man müsste nämlich konstatieren, dass in der Tiefenschicht der Kultur die religiöse Dimension — wenn auch in einer Negativform - eine bedeutende Rolle spielt. Diese Aussage wäre dann nicht die Aussage dieser oder jener Religionsgemeinschaft, sondern wäre das Ergebnis aufgrund von Beobachtungen, die sich an der Gegenwartskunst, an einem 'fremden Medium' also, orientieren. Religion im Medium der Kunst ist für die klassischen Institutionen, die Religion verwalten, wesensmäßig eine Herausforderung. Gelingt es den althergebrachten religiösen Institutionen nicht mehr, das Bedürfnis nach Mystik und Metaphysik im eigenen Lehrsystem abzudecken, hat dies nämlich kein Vakuum zur Folge, sondern eine Orientierung an anderer Stelle, an der Kunst zum Beispiel.

Bedenken wir des weiteren, dass die Museumsbauten, die diesseits und jenseits des Atlantiks in die Höhe schießen, vielfach Kultstätten gleichen und darin die Nachfolge der Kathedralen einnehmen, so lässt sich auch an der Art und Weise, wie Kunst an diesen »sakralen« Orten erfahren wird, erneut die enge Verbindung von Kunst und Religion verdeutlichen. Wo in der Kunst die Mystik relevant wird und wo die Museen zu Kultstätten werden, muss schließlich die Frage gestellt werden: Wird die Kunst nunmehr zur Ersatzreligion?

Im ersten Fall wird man die Kunst als Surrogat verstehen für eine Sache, die anderweitig - nämlich in den religiösen Institutionen — grundsätzlich besser abgedeckt wird. Im zweiten Falle würde man von einer Art Erbschaft reden, insofern Funktionen, die in den religiösen Gemeinschaften einst verankert waren, an eine andere kulturelle Instanz, nämlich an die Kunst, übergegangen wären. In diesem Falle ginge es nicht um vorübergehenden Ersatz, sondern um Ablösung. Eine Herausforderung sind beide Positionen zumal.

»Mystik in Weiß« — Das Abendmahl von Ben Willikens

Die aufregende Frage, ob, wie und bis zu welchem Punkt Kunst die Rolle der Religion wahrnehmen kann, sei einer anderen Untersuchung vorbehalten. In diesem Zusammenhang mag es genügen, die Fragestellung überhaupt einmal zur Kenntnis zu nehmen. Der Weg der Negation konkreter Bildvorstellungen lässt sich am »Abendmahl« von Ben Willikens (1939 geb.) klassisch vergegenwärtigen. Willikens nahm Leonardo da Vincis »Abendmahl« im Refektorium von Santa Maria delle Grazie in Mailand zum Ausgangspunkt eines dreiteiligen Acryl-Gemäldes. Jesus und die Jünger wurden weggenommen, während die Raumperspektive beibehalten wurde. So blickt man in einen kahlen Fliesenraum mit einer langen horizontal ausgebreiteten Tafel. Die glatte weiße Decke und die Stahlbeine mit Gumminoppen verstärken den Eindruck von Leere und Kälte. Wo an den Längsseiten bei Leonardo Gobelins anzutreffen waren, gewahrt man graue verschlossene Stahltüren, wie man sie etwa in Gefängnissen oder Fabriken antrifft. Grau als Farbe des Asphalts und des Straßenstaubs kehrt auf mannigfache Weise wieder — auch dies ein Kontrast zu Leonardos personen-, gesten- und farbenreichem Bild.

Begegnet man diesem Bild in der für Vorträge und Ausstellungseröffnungen vorgesehenen Halle im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, wird man in den Sog einer totalen, »gnadenlosen«, Kälte und Leere offenbarenden Perspektive hineingezogen. Die Erinnerung an Leonardo, die bei diesem Vorgang als Kontrastkonnotation freilich vorhanden bleibt, verstärkt diesen Effekt. Hat man sich jedoch bis zu diesem Punkt auf Willikens Bild eingelassen, wird man alsbald einen Umschlag wahrnehmen. Denn der Blick führt durch die mit einem Kreissegment zentral platzierte Tür und die beiden Fensteröffnungen in einen zweiten Raum, der erfüllt ist von gleißendem weißen Licht. Dieses Weiß, das den hinteren Raum undefinierbar macht, erscheint als eigene dynamische Potenz, die über Tür und Fensterdurchbrüche Licht von hinten nach vorne bringt. So bekommt der Betrachter, der sich auf die Tristesse der grauen Leere eingelassen hat, schließlich als »Belohnung fürs Standhalten« Anteil an der von hinten nach vorn dringenden Emanation des Lichts. Nimmt man die Zeichnungen und die verschiedenen Entwürfe zum »Abendmahl« hinzu, so begegnet man jedesmal einer anderen Raum-Lichtkonstellation. Das Licht wird zum Medium einer transzendenten Potenz, welche die kargen, kahlen Räume auf neue Weise definiert. Mehrere Bilder von Willikens, nebeneinander gesehen, lassen die »Offenbarung von Licht« innerhalb der bedrohlichen symmetrischen Graukonstellation geradezu als zentrales Thema des Künstlers erscheinen. Der Weg der Entbildlichung hätte letztlich zur Enthüllung von Licht als dem Positivum schlechthin geführt. Aber freilich kann nur der dies erleben, der sich vorher dem leeren Tisch im kalten Grau des Raumes optisch ausgesetzt hat.

Begründet man in der Theologie das Bilderverbot mit der Unverfügbarkeit Gottes gegenüber menschlichen Vorstellungsgehalten, die den Platz des Transzendenten mit ihren Konkretismen versperren, so ist der Kampf gegen die Vorstellungsgehalte im Bereich der bildenden Kunst nicht weniger heftig. Auch hier, bei Mondrian, Malewitsch, Newman, Rothko, Willikens u. a. geht es um eine Negation angesichts eines Mehr, das andernfalls nicht erkennbar geblieben wäre. Kunst nähert sich einem Grenzwert, wo sie über die Verneinung, über die via purgativa, zur contemplatio kommt. Die unio mystica jedoch als die »weiselose Weise« hätte keine Farbe mehr.

Anmerkungen
  1. Jens Christian Jensen, Caspar David Friedrich. Leben und Werk, 6. Auflage. Köln 1983, S. 101.
  2. F. D. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 1799, neu: Hamburg 1958, S. 29, 31 u. ö.
  3. Vgl. Robert Rosenblum, Modern Painting and the northern romantic tradition, dt. München 1981.
  4. Franz Marc, Brief an Maria 12.04.1915, zit. nach Klaus Lankheit, Franz Marc, Berlin 1950, S. 137/138.
  5. Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, München 1912.
  6. Paul Klee, Das bildnerische Denken, Basel-Stuttgart 1956.
  7. Zit. nach Friedhelm Fischer, »Zur Symbolik des Geistigen in der modernen Kunst«; in Kunst und Kirche, Darmstadt-Linz 1985/2, S. 103.
  8. Ibid., S. 104.
  9. Ibid.
  10. Zit. nach: Zeichen des Glaubens — Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1980, S. 274.
  11. Ibid.
  12. Ibid., S. 297.
  13. Kunstforum international, Band 88: Radikale Malerei, Köln 1987.
  14. Zit. nach Lankheit, Franz Marc, S. 135.

© Schwebel 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 39/2006
https://www.theomag.de/39/hs3.htm