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Magazin für Theologie und Ästhetik


Walzerschritt und Himmelsgruß

Eine Operettenpredigt*

Boris Michael Gruhl

Eine Predigt über eine Operette. Eine Predigt über "Die lustige Witwe", wie soll das gehen, womit beginnen, wohin soll es führen?

Zu uns soll es führen, zu unserem Weinen und unserem Lachen und besser noch, zu jenen Situationen im Leben, in denen beides zusammenkommt. Zu Grüßen und Klängen, die in unser Leben kommen, auf dass so mancher Augenblick gleich dem Atom die Kraft für das Ganze in sich berge. Von Walzerschritt und Himmelsgruß soll die Rede sein.

Ich beginne aber mal mit der Bibel. Das erwarten Sie ja sicher auch in einem Gottesdienst, auch einem Theatergottesdienst. Ich suche nach dem Wort "lustig". Es befindet sich – im Sinne von verlockend – am Beginn der Heiligen Schrift. Im 1. Buch Mose, Kapitel 2, wo von der Schöpfung die Rede ist, wird von allerlei Bäumen berichtet, die lustig anzusehen sind und von denen gut zu essen ist. Wir befinden uns im Paradies und ein Kapitel weiter – das muss noch gesagt werden, nur in älteren Ausgaben der unrevidierten Lutherbibel ist das so prächtig ausgedrückt – ist dann die Rede von jenem Baum mitten im Garten, der ein lustiger Baum ist, von dessen Früchten gut zu essen ist, womit dann die Geschichte vom verlorenen Paradies beginnt. Und schon sind am Anfang der Menschheit das Lustige und das Traurige so nahe beieinander.

Im 46. Psalm, einem Lied zur Ehre Gottes, findet sich das schöne Wort "lustig" auch. Hier ist es Gottes Stadt, die zur Zuflucht für die Frommen in aller Bedrohung wird, und die "fein lustig sein soll mit ihren Brünnlein". Also, wo Wasser fließt, wo Leben ist, da kann es fein und lustig sein – wir kommen der Operette, und dem was das Ihre ist, schon näher.

Aber das Lachen, ein Merkmal der Operette, bzw. ihrer Menschen, egal wie tief sie in der Patsche sitzen, kommt in der Bibel seltener vor, immerhin in der Spruchweisheit, und hier so, dass es gut zu dem passt, was die Operette im Innersten ausmacht: "Auch beim Lachen kann das Herz trauern" (Spr 14, 13).

In einer späteren Operette von Franz Lehár, dem Komponisten der "Lustigen Witwe", die sogar "Das Land des Lächelns" heißt, hat einer der Erfolgssongs die Textzeilen "Immer nur lächeln, und immer vergnügt"... und dann – auf das Herz bezogen – "Doch wies da drinnen aussieht, geht keinen was an." Der Dichter dieses Textes war Fritz Beda-Löhner, ermordet in Auschwitz.

Das ist zur Zeit unserer lustigen Witwe alles scheinbar noch weit weg. Und doch, so lustig ist das alles mit der lustigen Witwe auch nicht. Diese Operette war vor 100 Jahren, als sie uraufgeführt wurde, ein Gegenwartsstück mit einer Ansammlung etwas sonderbarer, auch lustig zu nennender Leute, die auf ihre Weise versuchen mit sich und ihrem Leben zurecht zu kommen.

Sie sind alle auf der Jagd.

Vergnügen, Vergessen, Frauen, mit und ohne Millionen, Tanz, Alkohol, ein unverbindlicher Scherz, und vor allem immer wieder Zeitvertreib, das sind ihre vornehmsten Ziele. Das lassen sie sich alles viel kosten, oder erjagen es auf Kosten anderer. Oft sind nämlich die üppigsten Operettenhelden in Wahrheit total pleite. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass sie sich immer nur in Salons, Separées, in Pavillons, auf Bällen, in Theatern, auf Empfängen der Gesandtschaften noch so winziger Staaten tummeln. Ihre Behausungen dürften bescheiden sein. Sie machen in der Lobby des Hotels den großen Mann, sie ernennen sich selbst zu öffentlichen Personen und leben oft von der Hand in den Mund.

Die Operette, und dies ist ein guter Grund sie zum Thema eines Gottesdienstes zu erwählen, richtet oder rechtet nicht mit dieser Schar liebenswerter Verlierer, Nichtstuer, Lebenskünstler, Herzensbrecher und Herzverlierer. Im Gegenteil: Ihnen wird die große Bühne gewährt. Sie bekommen Momente der Würde, sie stehen im Licht, Musik wird ihnen geschenkt und der Tanz. Die Operette kennt die Angst nicht, dass die Welt am Müßiggang zu Grunde gehen könnte.

Sie kennt auch den Drang nicht, beständig bewerten, bestrafen, erwählen oder verwerfen zu müssen. Jeder bekommt seinen Auftritt. Jede ihr schönes Kleid. Alle einen flotten Tanz, einen zärtlichen Walzer, einen sentimentalen Csárdás. Und manchmal ist alles viel zu schön, als dass man nicht im tiefsten Herzen spürte, das kann ja so nicht wahr sein.

Ist es auch nicht!

Aber der Augenblick im Leben, an dem wider besseres Wissen für einen Moment die Wirklichkeit aus den Angeln gehoben wird, weil man das Leben durch Champagnerglas betrachtet, die Sorgen in ein Gläschen Wein schüttet, beim Cancan die Sinne taumeln lässt, bei jedem Walzerschritt die Seele mittanzt, könnte lebensrettend sein. Für die unzähligen folgenden Momente des Lebens nämlich, wo wir uns seiner Wirklichkeit zu stellen haben. Das ist dann freilich keine Operette.

Auf solchem Hintergrund bekommt unsere lustige Witwe ihren besonderen Glanz.

Sehen wir nämlich die sonderbaren Menschen von gestern abend, die uns ein wenig albern vorkommen mögen, doch als Geschöpfe in Gottes großem Garten, deren Herzen im Schatten der lustigen Bäume im Dreivierteltakt schlagen, können wir doch nur dankbar sein. Schon für ihre wundervollen Namen, nur mal einige der Damen: Lolo, Dodo, Jou-Jou, Frou-Frou, Clo-Clo und Margót und Njegus das Faktotum. Die Vertreibung aus diesem Garten mit den lustigen Gewächsen wird ja schon geplant.

Die Geschichte von Hanna, der Witwe mit den 20 Millionen im Gepäck und dem Liebeskunstschlawinergrafen Danilo, der die Millionen durch Heirat für einen bankrotten Staat retten soll – wieder eine gepfefferte Jagdszene – hat immerhin keinen Geringeren als den Filmregisseur Ingmar Bergmann so sehr interessiert, dass er den Stoff mit Barbara Streisand in der Hauptrolle und Herbert von Karajan am Pult verfilmen wollte.

Es geht ja hier um Selbstanspruch und Glücksanspruch. Es geht um zutiefst verletze Seelen. Es geht um die Kunst nach tiefstem Absturz, nach tiefster Verletzung, den ersten Schritt aufeinander zu zu wagen: Vertrauen zu wagen – dass es neu beginnen kann, wo alles vermasselt und verkorkst scheint.

Es geht darum, dass zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, geschaffen nach Gottes Bild, um ihrer selbst willen geliebt und geachtet sein wollen. Diesen Anspruch sind sich Hanna und Danilo schuldig. Ihre Beziehung ist ja bereits einmal an Konventionen, an Institutionen, an Verhältnissen außerhalb ihrer selbst, gescheitert. Jetzt droht sogar eine Institutionalisierung ihrer Beziehung zu höherem Zweck. Beide müssen sich vor den anderen schützen um ganz zu sich selbst zu kommen.

Ob sie da dann bleiben werden, das sagt uns die Operette nicht. Aber sie sagt uns, und darin ist das Stück so toll: Es zählt die Wahrhaftigkeit des Augenblicks, die momentane Wahrheit der Seele und des Herzens inmitten von Kulissenexotik, Feiertagsfolklore und Juxdiplomatie.

Und nun werfe der den ersten Stein, der behaupten möchte, unser Leben braucht sie nicht, diese Augenblicke, in denen eine sentimentale Melodie uns zu Tränen rührt, die Trockenheit in der Kehle das Schlucken provoziert, und wir ebenso trottelig wie Hanna und Danilo voreinander stehen, und selbst geübtesten Rednern, Lebenskünstlern oder Quasselstrippen die Worte fehlen.

Da ist doch so ein Walzer wie ein Gruß vom Himmel: "Lippen schweigen, s´flüstern Geigen, habt euch lieb."

Ich glaube, im Theater ebenso wie in der Kirche, im Spiel und im Wort, im Tanz, in der Musik und im Gebet und in der Stille, werden uns Grüße ausgerichtet. Ganz besondere Grüße. Grüße vom Himmel.

Solche Grüße kommen mitunter an wie Briefe, die persönlichen meine ich, mal mehr und mal weniger gut lesbar geschrieben, auf feinem Papier oder auf einen ausgerissenen Blatt, parfümiert oder farbig gestaltet, mit getrockneten Blumen als Beigabe, Fotos und Gedichten, ausführlich oder kurz und knapp, wir freuen uns darüber.

Dann legen wir sie weg. Wir vergessen sie. Wir haben keinen Anlass, es sei denn dass mal wieder alles gewaltig schief im Leben läuft, darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn uns niemals auch nur einziger solcher Grüße erreicht hätte.

Da muss doch jemand beständig uns von ganzem Herzen so zugetan sein, dass er nicht müde wird, uns seine Grüße zu senden: Mit Worten, mit Musik und Tanz, in der Komödie und im Drama, in der Oper, in der Operette, in Kirchen und Theatern, auf Straßen und Plätzen, in Betten und Kneipen, im Thüringer Wald oder auf Mallorca, durch Gottes und durch Menschenwort, im Gesang der Engel und der Ballsirenen, mit Bach und Beat, in der Begegnung mit Ordenfrauen oder Grisetten, mit Musik von Mozart, Verdi Strauss und gestern Abend gerade mit Musik von Franz Lehár, bei Walzerschritt und Himmelsgruß.

Amen.

Anmerkungen

* Theatergottesdienst anlässlich der Premiere "Die Lustige Witwe" am Erfurter Opernhaus in der Kaufmannskirche am Anger, Sonntag, 29. Mai 2005


© Gruhl 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 40/2006
https://www.theomag.de/40/bmg1.htm