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Magazin für Theologie und Ästhetik


Geschichte der Blasphemie

Eine Buchempfehlung

Andreas Mertin

Alain Cabantous, Direktor des Centre National des Recherches Scientifiques und Professor für Geschichte der Neuzeit an der Sorbonne legt mit diesem Buch eine Kulturgeschichte des so rätselhaften Phänomens des Blasphemie in der westlichen Welt ab dem 16. Jahrhundert vor. Um es vorweg zu nehmen: es ist geradezu ein Trauerspiel, dass dieses spannende und erhellende Buch zur Zeit nur noch antiquarisch erhältlich ist. Gerade in den Auseinandersetzungen seit Beginn des Jahres 2006 hätte man dieser Arbeit manche erhellende Erkenntnis und vor allem manche Relativierung im Blick auf die Reaktionen der Menschen auf eine tatsächliche oder vermeintliche Blasphemie entnehmen können. In sechs Kapiteln und einem bedeutsamen dokumentarischen Anhang entfaltet Cabantous vor dem Auge des Lesers eine überaus lesenswerte Geschichte der Gotteslästerung, des religiösen Schimpfwortes und des Kampfes gegen den Andersdenkenden und Andersgläubigen, dem Blasphemie unterstellt und vorgeworfen wird.

Einleitend weist Cabantous darauf hin, wie schwierig allein schon die Gegenstandsbeschreibung "Blasphemie" ist, wie unscharf selbst die Machtinstitutionen, die jeweils über Blasphemie zu urteilen haben, dieses Phänomen bezeichnen: "Auf die Frage: 'Was ist Blasphemie im Europa der Neuzeit?' fallen die Antworten je nach Berufstand desjenigen, der ein Urteil abgibt, unterschiedlich aus: Kleriker oder Laie, Theologe oder Richter, Jurist oder Pfarrer. Sie unterscheiden sich auch je nach Zeitpunkt; jedenfalls leisten sie immer einer unbestreitbaren Vieldeutigkeit des Begriffs Vorschub ... In Wahrheit stellt diese unscharfe Betrachtungsweise die Voraussetzung dafür dar, je nach Belieben und Umständen die Blasphemie mit der Verwünschung, der Beleidigung, dem Fluch, der Ketzerei, der Sünde usw. gleichzusetzen" [S. 7f.] Offenkundig scheint Blasphemie nicht zuletzt "eine Angelegenheit der Rhetorik" zu sein.

Gegenüber anderen vergleichbaren Studien setzt Cabantous mit der Frage an, "welche Auswirkungen die Reformation auf die Interpretation der Blasphemie hatte und welche Verhaltensänderungen sich bei Richtern und Theologen angesichts einer konfessionellen Abweichung im Abendland feststellen lassen" [S. 9]. Den Schlusspunkt der Untersuchung bildet die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Das erste Kapitel unter der mehrdeutigen Überschrift "Die Zeit der Kirche - eine immerwährende Sünde" sucht zunächst die Bedeutung der Sünde zu bestimmen. Blasphemie erscheint dabei zunächst als "ein mittels Sprache vom Menschen bewusst herbeigeführter Bruch mit dem Göttlichen." [S. 11] Gleichzeitig ist der Blasphemievorwurf ein geeignetes Instrument zur Abgrenzung und Denunziation des Andersgäubigen: So "sind besagte Sünder in erster Linie immer Angehörige der jeweils anderen Konfession. Den Anhängern des Papstes, Luthers oder Calvins ist gemeinsam, dass sie die anderen als Ketzer und potentielle Gotteslästerer bezeichnen … Jede Geste und jedes Wort desjenigen, der einer anderen Konfession angehört, sind zwangsläufig blasphemisch und werden gebrandmarkt, verfolgt und bestraft, wobei sich nicht selten die symbolische Gewalt mit verbrecherischer Grausamkeit paart. In ihrer Empörung über die fortwährende Berufung auf die Bibel stopften die Katholiken von Valognes den Reformierten, nachdem sie diese abgeschlachtet hatten, Bibelseiten in den Mund und ‚forderten die geschundenen Körper dazu auf, sich auf die Suche nach der Wahrheit ihres Gottes zu begeben’. Die Blasphemie war also sowohl für die einen als auch für die anderen der Ausdruck einer Gegenwahrheit, die durch eine bewusste Verfälschung des Sinns der Schrift und /oder der Tradition Gott beleidigte, kurz gesagt, sie war nichts anderes als die Sünde der Abweichung vom rechten Glauben." [S. 20f.]

Vier Gruppen von Blasphemien beschreibt Cabantous: 1. Die Infragestellung Gottes, 2. die bloße Vortäuschung einer christlichen Gesinnung, 3. die Zweifel an Religion und Transzendenz generell und 4. die Kritik der Sakramente und Kirchengesetze [S. 29-31].

Im Kampf gegen die Blasphemie hört man dabei Töne, die bis heute zu vernehmen sind. So appellierte man 1645 mit folgenden Worten an den König, die Blasphemiegesetze verschärft anzuwenden: "Die Kirche ist der Ansicht, dass das große Unglück unserer Zeit auf den Verlust jedes religiösen Empfindens bei den Menschen zurückzuführen ist und dass sie die Verachtung ihrer Geistlichen ungerechtfertigterweise auf Gott übertragen, so dass Zügellosigkeit, Flucherei, Blasphemie und Gottlosigkeit mittlerweile alltägliche Verbrechen sind, die öffentlich und ungestraft begangen werden.« Und in der Wahl der anzuwendenden Mittel war man gar nicht zimperlich:

Im Namen Gottes, Herr, lass Gerechtigkeit walten,
schick sie in den Tod, du brauchst nicht schwanken,
der Herrgott wird’s dir sicher danken. [55]

Das zweite Kapitel unter der Überschrift "Die Zeit der Fürsten - Politische Obrigkeit und Blasphemie" widmet sich dann dem rechtlichen Rahmen. Dieser reicht zeitlich zurück bis zum Justinianischen Kodex (535-540), der für Gotteslästerer die Todesstrafe vorsieht. Grundsätzlich lässt sich aber zwischen den weltlichen harten körperlichen Strafen und den geistlichen Strafen unterscheiden, die im Wesentlichen auf den (zeitweisen) Ausschluss aus der Gemeinde hinausliefen. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die weltliche Obrigkeit die Gotteslästerung als bedrohlichen Angriff auf die Grundlagen des Staates ansah. Sie betrachtete sie als "Verbrechen religiöser Natur, die der Integrität der politischen Obrigkeit schaden" [S. 69] Im engen Kontext steht damit, dass die reklamierte Meinungsfreiheit im Bereich des Religiösen in der Regel auch die Forderung nach politischer Meinungsfreiheit nach sich zog. Kampf gegen Blasphemie bedeutete daher immer auch Stabilisierung der herrschenden politischen Ordnung.

Auch die Städte wurden daher gegen die Blasphemie aktiv: "Im von den Spaniern besetzten Flandern hatte die Stadtverwaltung von Lille ebenfalls eine Reihe von Verurteilungen 'wegen Ketzerei und Blasphemie' zwischen 1585 und 1614 ausgesprochen.


Die Ankläger, die sich vordringlich dem Kampf gegen den Protestantismus verschrieben hatten (nahezu zwei Drittel der Fälle), unterschieden sehr wohl zwischen der reformierten Ketzerei und der einfachen Äußerung von Flüchen und gotteslästerlichen Begriffen (ein Viertel der Fälle), auch wenn man eine Überschneidung der Kategorien in gewissen Fällen nicht ausschließen kann." [S. 89] Allein diese Passage in Cabantous’ Buch ist höchst aufschlussreich und zeigt augenfällig, dass und wie der Blasphemievorwurf in der jeweiligen Zeit jeweils gegen dissidente Gruppierungen verwendet wurde. Blasphemisch war, wer ein anderes Gottesverhältnis, ein anderes Religionsverständnis hatte oder einfach nur kirchenkritisch war. Blasphemievorwürfe sind eben auch ein Teil der Geschichte der innerkirchlichen Disziplinierungsstrategien. Sicher war ein Teil des Entsetzen auch im formelhaften gotteslästerlichen Sprachgebrauch der Bevölkerung begründet, aber da wo der Blasphemievorwurf strategisch eingesetzt wurde, fokussierte er sich auf Andersdenkende.

Das dritte Kapitel unter der Überschrift "Die Zeit der Menschen - Die blasphemischen Gesellschaften" beschäftigt sich in unterschiedlichen Perspektiven mit der Frage nach der sozialen Identität der Gotteslästerer, z.B. den Soldaten, so dass von einer „engen Beziehung zwischen Krieg und Blasphemie“ gesprochen werden kann. Auf der anderen Seite verbindet sich die Blasphemie mit den freidenkerischen Bewegungen. Das Gemeinsame sieht Cabantous darin, dass es sich jeweils um Menschen handelt, die sich dem institutionellen und religiösen Rahmen Europas entziehen.

Diese Entwicklung setzt aber nicht erst mit der Reformation und den konfessionellen Streitigkeiten ein. Vielmehr entwickelt das Christentum derartige Ausgrenzungsstrategien seit dem Moment, seit dem es auf die Staatsgewalt Einfluss nehmen konnte. So schreibt Johannes Chrysostomos (349-407), Patriarch von Konstantinopel, im Blick aif Juden und Heiden: "Solltet Ihr einigen dieser unverschämten Gotteslästerer, die Gottes Namen beleidigen, irgendwo auf der Straße oder auf einem öffentlichen Platz begegnen, so nähert Euch ihnen, macht ihnen die heftigsten Vorwürfe, schreckt nicht davor zurück, sie zu schlagen, wenn es nötig ist. Ja, züchtigt sie in aller Öffentlichkeit, bestraft diese frevlerische Zunge."

Das vierte Kapitel unter der Überschrift "Die Zeit der Geistlichen - Die Wandlung des Gegenstands" befasst sich mit dem Wandel des Verständnisses und des Umgangs mit Blasphemie seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Es sind nicht zuletzt die Intellektuellen, die auf die frappante kulturelle Kontextabhängigkeit des Blasphemievorwurfs hinwiesen und dessen Gültigkeit damit relativierten. So schrieb Voltaire: "Was in Rom oder Loreto als Blasphemie gilt, wird in London, Amsterdam, Berlin oder Kopenhagen als Frömmigkeit betrachtet." Und Pierre Bayle (1647-1706) folgert in seinem Essay Über die Toleranz: "Wir klagen jemand an, der unerträgliche Gotteslästerungen ausstößt und die göttliche Majestät auf die ketzerischste Art und Weise entehrt. Doch was bleibt davon übrig, wenn man diese Worte wohlüberlegt und leidenschaftslos prüft? Jener Mensch denkt eben anders als wir, die wir respektvoll über Gott reden". Diese frühaufklärerische Einsicht hat sich gesellschaftlich und vor allem in den Kirchen bis heute nicht verbreitet.

Deutlich wird aber auch, dass sich der Akzent zunehmend auf die durch die Blasphemie gestörte öffentliche Ordnung verlagert. Das 'öffentliche Ärgernis' tritt in den Fokus des Interesses. Nicht Gotteslästerung an sich, sondern nur die öffentlich geäußerte und damit gesellschaftlichen Unfrieden provozierende gotteslästerliche Äußerung wird verfolgt. Hexerei, Ketzerei und Blasphemie "zerstören die öffentliche Ordnung der Gesellschaft". Wie stark sich die Haltung allerdings gewandelt hatte, zeigt Montesquieu (1698-1755) Äußerungen zum Thema: "Das Strafübel ist aus dem Gedanken entstanden, dass es nötig sei, die Gottheit zu rächen. Allein man soll nur darauf hinwirken, dass die Gottheit geehrt werde, aber niemals sie rächen wollen. Wahrlich, wie sollten die Strafen ein Ende nehmen, wenn man nach diesem Gedanken verfahren wollte!"

Das fünfte Kapitel unter der Überschrift "Die Zeit der Übergänge - Die Blasphemie auf dem Prüfstand" würdigt die Veränderungen im Zuge der Französischen Revolution und der Aufklärung. Diese sind nun keineswegs als fortschreitende Säkularisierung zu deuten, die die Bedeutung der Blasphemie schwinden lassen würde. Vielmehr tritt nun eine Sakralität des Profanen bzw. Religion des Politischen auf den Plan, die nun das Vaterland oder die Nation an die Stelle früherer höchster Werte setzt. Spätestens cseit Beginn des 19. Jahrhunderts hat der Blasphemievorwurf mit Religion an sich nur noch wenig, mit staatlicher und gesellschaftlicher Stabilität um so mehr zu tun. Die innerkirchlichen Auseinandersetzungen darüber, was eigentlich als Blasphemie zu werten sei (bis dahin, dass der Blasphemievorwurf selbst eigentlich blasphemisch sei, weil er Gott einseitig als strafenden statt als gnädigen Gott darstelle), spielten gesellschaftlich keine Rolle mehr.

Das zusammenfassende sechste Kapitel unter der Überschrift "Die Zeit der Blasphemie - Die Bedeutungen eines Wortes" bündelt noch einmal den Ertrag der Forschungsarbeit: Blasphemie ist zum einen ein Spiegel der Religion, zum anderen ein Spiegel der Gesellschaft. Stand Blasphemie im 16. Jahrhundert zunächst für ein falsches Verständnis der dogmatischen Lehre, so wird sie nach und nach zunehmend zu einer bewussten antireligiösen, antiklerikalen Haltung. Gesellschaftlich komplementär ist Blasphemie zunächst ein Element der Alltagssprache um sich dann zu einem bewusst gewählten rhetorischen Akt zu entwickeln. Dementsprechend reduziert sich die Reaktionsweise auf Blasphemievorwürfe von der Androhung der Todesstrafe auf die Klage eines unangemessenen bürgerlichen Verhaltens. Blasphemie wird zur Respektlosigkeit.

Die aktuellen Debatten um Religion und Satire lassen diese Entwicklung noch spüren. Wenn man es für justitiabel hält, dass man auch in religiösen Fragen nicht „veräppelt“ werden möchte und den Staat zum Eingreifen auffordert, dann bewegt man sich nur noch im bürgerlichen Ehrenkodex. Das ist ein Fortschritt, insofern die dissidente Meinung nicht mehr als solche verfolgt wird. Es ist ein Rückschritt, weil der Streit über kulturelle Ausdrucksformen immer noch nicht auf der Basis des besseren Arguments, sondern der staatlichen Sanktion geführt wird.

Im Schlusswort seines Buches konstatiert Alain Cabantous daher noch einmal eine geradezu anachronistische Rückkehr der Blasphemie bzw. des Blasphemievorwurfes. Cabantous verdienstvoller und unbedingt empfehlenswerter Studie sei daher abschließend das letzte Wort eingeräumt:

„Es wäre wohl verfrüht, von einem vollständigen Verschwinden dieser Unsitte zu sprechen. Der Kampf gegen die Blasphemie ist im letzten Jahrzehnt offensichtlich wieder aufgelebt. Neben der Verurteilung Salman Rushdies zum Tode durch eine Fatwa (1989) sind auch andere Schriftsteller (Allah Ahmed, Farag Foda, Nagib Machfus) wegen angeblich blasphemischer Schriften verfolgt worden. Sogar die 1985 veröffentlichte vollständige Fassung von Tausendundeiner Nacht wurde von der al-Azhar Universität in Kairo als 'pornographisch und blasphemisch' verurteilt. Die katholische Kirche ihrerseits hat unmissverständlich die Gotteslästerung verurteilt, so beispielsweise anlässlich der Polemiken um 'Die letzte Versuchung Christi' von Martin Scorsese. Aber wer erinnert sich beispielsweise noch daran, dass der Film 'Der Garten der Lüste' des Regisseurs Carlos Saura 1970 von dem spanischen Kulturministerium verboten wurde wegen 'respektloser Darstellung von religiösen Praktiken, Anschauungen und Zeremonien mit boshafter, an Blasphemie grenzender Absicht'? Wer weiß schon, dass die katholische Kirche in Deutschland und Österreich kürzlich einen Prozess gegen Personen und Vereinigungen angestrengt hat, die offen die Kirche und die Geistlichen angeklagt hatten? Sie stützte sich dabei auf die geltende Rechtsprechung. Das verbotene, ruchlose Wort hat sich nur vorübergehend dem Blick der Öffentlichkeit entzogen. Es wird aber wieder zutage treten, und zwar über das geschriebene, bildnerische und musikalische Werk, das eine immer schnellere und allgemeinere Verbreitung findet. Die Kriterien für diese Zuschreibung sind jedoch immer noch nicht eindeutig. Die religiösen Autoritäten können ein künstlerisches Werk genauso gut als Blasphemie bezeichnen wie ein Bekenntnis zum Atheismus, die Infragestellung oder freie Auslegung eines Dogmas bzw. die Kritik an einer kirchlichen Institution. Auch wenn dieses Wiederaufflackern des Kampfes der Kirche im Zusammenhang mit dem Aufkommen des religiösen Fundamentalismus stehen mag, so lässt es sich sicherlich nicht auf diesen Aspekt beschränken.“ [S. 223f.]


© Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 41/2006
https://www.theomag.de/41/184.htm