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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips XXVI

Der Opensource-Kurzfilm 'Elephants Dream'

Andreas Mertin

Weniger ein Videoclip, die ja normalerweise in dieser Kolumne vorgestellt werden, als vielmehr ein respektabler Kurzfilm ist "Elephants Dream", ein auf der Basis von Open-Source-Software produzierter Film, der im Mai 2006 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Das Besondere dieses Films ist sicher zunächst seine technische Genese, das heißt, das er weitgehend mit freier Software wie etwa mit dem 3D-Modellierungsprogramm Blender erstellt wurde und seine Rohdateien unter der Creative Commons Namensnennungs-Lizenz zur Verfügung stehen. Der Film ist im Internet in verschiedenen Auflösungen frei zugänglich und herunterladbar. Selbst eine HD-Variante mit einer Bildgröße von 1920x1080 (!) steht zur Verfügung. Abspielbar ist der Film mit Open-Source-Mediaplayern wie dem VLC-Mediaplayer, dem Mediaplayer Classic oder dem Mplayer, nicht aber mit dem Windows Media Player oder anderen konventionellen Mediaplayern.

Der Film wurde im Mai 2005 von Ton Roosendaal, dem Vorsitzenden der Blender Foundation und Chefprogrammierer von Blender, angekündigt. Intention war es nicht zuletzt, die Leistungsfähigkeit freier Software zu demonstrieren. Das Interview mit Ton Roosendaal über Elephants Dream und Open-Source-Filme in der englischsprachigen Ausgabe der Wikipedia ist sehr aufschlussreich und beleuchtet sowohl die Motive der Programmierer wie die Probleme des Projekts einschließlich der zwischenzeitlich geäußerten Kritik.

Zur Handlung schreibt die wikipedia knapp: "Proog (Tygo Gernandt) nimmt den jungen Emo (Cas Jansen) mit auf eine Reise in die Tiefen einer surrealen Maschinen-Welt. Das ungleiche Paar schlägt sich durch zum scheinbar sichersten Platz in der ganzen Machine, der jedoch ebenfalls einige Überraschungen bereit hält." Das ist eher untertrieben, denn die Handlung ist zugleich komplexer und damit auch verwirrender, als auch simpler. Oscarprämierte Kurzfilme sind ja in der Regel ähnlich rätselhaft und simpel zugleich wie dieser neue Kurzfilm. Wer etwa an Quest (1996) oder an Balance (1989) denkt, der weiß, dass es bei der Deutung der an sich einfachen Handlung unzählige Ansätze gab. Auf der Produktionsseite selbst findetv sich folgende Beschreibung: "The film tells the story of Emo and Proog, two people with different visions of the surreal world in which they live. Viewers are taken on a journey through that world, full of strange mechanical birds, stunning technological vistas and machinery that seems to have a life of its own."

Vor allem mit intertextuellen Anspielungen geizt Elephants Dream nicht. Wer sich an diverse Kultfilme über das Internet wie etwa Matrix oder X-Man 2 erinnert fühlt, irrt sich sicher nicht. Aber auch historische Stoffe werden referenziert. Hochinteressant und extrem bereichernd fand ich eine Diskussion auf blend.polis, bei der sich in einem Forum verschiedene Teilnehmer um die zutreffendste Interpretation bemühten. Das reichte von der Deutung als Generationenkonflikt bis zur komplexen Deutung als Religionsvermittlungsproblem. Zwar überwiegte zunächst vor allem die Irritation, aber das wurde von den Diskussionsteilnehmern eher positiv gesehen.

'Elephants Dream' ist eine Arbeit, die man unbedingt mehrfach ansehen muss, ein Film zudem, bei dem es sich lohnt, möglichst oft die Pause-Taste des Mediaplayers zu drücken und die Details der Bildkomposition genauer zu studieren, denn nur so lassen sich die zahlreichen Verweise rekonstruieren. Inhaltlich geht es - neben der schon beschriebenen leicht kryptischen Filmhandlung - um zahlreiche Entgegensetzungen von Erfahrungen und Einstellungen bzw. Dingen: alt und jung - Lehrer und Schüler - erfahren und naiv - Natur und Technik - digital und analog - Angst und Neugier - Risiko und Sicherheit - Präzision und Spontanität - offenes versus geschlossenes Weltbild - außen und innen - ... Aber diese Entgegensetzungen sind keine Entgegensetzungen im Stil von Gut und Böse respektive Schwarz und Weiß. Die organische Welt der Spontanität und Neugier, die Emo der technischen Welt Proogs entgegensetzt, ist vielmehr mindestens ebenso bedrohlich und schrecklich wie wie die technische Welt selbst. Der Schlaf der Vernunft entlässt Ungeheuer - Goyas bezeichnendes Blatt 43 aus seiner Serie der Caprichos - trifft auch hier zu. Im Film wird die aus dem Bann der Vernunft entlassene organische Welt zur tödlichen Bedrohung, der Proog seinerseits nur durch Totschlag zu entgehen können meint.

Man fühlt sich nicht zuletzt an die Diskussion in Aldous Huxleys "Brave new world" erinnert, ob es wirklich erstrebenswert wäre, alle Probleme wie Krankheiten, Armut, Trauer, Liebeskummer, Konkurrenz aus der Welt zu schaffen. Dagegen vertritt der Protagonist in einem dramatischen Gespräch mit dem Weltaufsichtsrat, dass Schmerz und Leid einen notwendigen Bestandteil des menschlichen Lebens darstellen, da ohne sie Glück seine Bedeutung verlöre.

Was das durch die menschliche Imagination ausgelöste Entsetzen und Leid betrifft, so ist nicht ganz klar, welche Haltung 'Elephants Dream' dazu einnimmt. Am Ende des Films wird der eine Protagonist erschlagen, weil die Phantasmen seiner freigesetzten Imagination die Figuren zu verschlingen drohen.

Der große Vorteil dieses Kurzfilms ist sicher seine Vieldeutigkeit. Aber das ist nicht alles. Er ist sicherlich zugleich paradigmatisch und ein Stück Zeitgenossenschaft. Bei allem Tribut, der den cineastischen Vorbildern gezollt wird, ist das dargestellte Dilemma nicht entscheidbarer Alter-nativen von Natur und Technik, Überlieferung und Innovation, Menschlichkeit und Sicherheit eine der signifikanten Problemstellungen der Gegenwart.

Hoffnung scheint – und das erscheint mir bemerkenswert – an so gut wie keiner Stelle des Kurzfilms auf. Ähnlich dem auf der Erzählung Träumen Androiden von elektrischen Schafen“ von Philip K. Dick basierenden legendären Blade Runner (natürlich in der Directors-Cut-Version) verbleiben die Figuren im Stadium der Abwehr. Und wie beim legendären Blade Runner bestehen über die Menschlichkeit der Hauptprotagonisten erhebliche Zweifel.

Nevertheless: Elephants Dream ist ein gelungener Einstand und lässt hoffen, dass in diesem Bereich noch viele interessante und inspirierende Produkte entstehen werden. Ich empfehle jedenfalls jedem, sich den Film herunter zu laden und sich anzuschauen.


© Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 41/2006
https://www.theomag.de/41/am185.htm