Juni 2006
Liebe Leserinnen und Leser, |
selten hat man sich als Intellektueller in den christlichen Kirchen so wenig heimisch gefühlt wie im vergangenen halben Jahr. Es ist, als ob eine Welle der Kulturfeindschaft, der Humorlosigkeit, allgemein: der kulturellen Besinnungslosigkeit die christlichen Kirchen erfasst habe. Vor den Augen der Betrachter lief geradezu ein Wettlauf darum ab, wer sich als bester christlicher Taliban erweist. So wie die Muslime könne man schon lange, tönte es da aus dem geradezu fundamentalistisch angehauchten christlichen Apologetenchor. Keine Drohung war zu billig, kein Vergleich zu abgeschmackt, als dass er nicht von den selbsternannten Verteidigern des christlichen Abendlandes herangezogen wurde. Und in der Regel erwiesen sich die Marktschreier so genannter christlicher Werte und Apologeten neuzeitlichen Klerikalismus bar jeglicher Kenntnis der inkriminierten Kulturphänomene. Es war die triumphale Rückkehr des nur scheinbar längst untergegangenen Kleinbürgertums, dass sich (offenkundig mit Fug und Recht) auf die kirchlichen Bastionen bzw. das religiöse Gefühl berufen konnte. Wer irgendwie sich der Hoffnung hingegeben hatte, die Aufklärung habe in maßgeblichen Teilen des Christentums Spuren hinterlassen, sah sich gründlich getäuscht. 'Veräppelungen' des Christentums - so tönte einer - seien vom Grundgesetz verboten und wenn deutsche Gerichte das nicht einsehen, gehörten eben die Gesetze geändert. Die offenkundig von der Moderne gequälte religiöse Seele bäumte sich auf und verfolgte in einem verbalen Rundumschlag alles, was nicht linienförmig war: Southpark, Popetown, Sakrileg, da Vinci Code, Madonna sind nur die Spitze des inkriminierten Eisbergs des Modernismus. Am liebsten wollen diese Verteidiger christlicher Werte gleich die gesamte Moderne hinwegfegen und zurückkehren zu den Zeiten als das Heilige noch heilig, die Messe noch lateinisch, die Bibellektüre verboten und der Kirchenraum noch voller Geheimnisse war. Nun kann man einwenden, dass die inkriminierten Fälle in der Regel solche aus dem Randbereich der Populärkultur waren, dass kaum wirklich etablierte Hochkultur angegangen wurde, sondern nur der Volkskultur Grenzen gesetzt werden sollten. 'Das tumbe Volk' (wie es auf einer christlichen Webseite bezeichnet wurde) hatte schon immer einen Hang zum theologisch nicht Legitimierten und Obskuren. Aber der augenblickliche Protest der Kirchen und einiger ihrer Berufsgläubigen sind m.E. nur Fingerübungen, Tests, wie weit unsere Kultur sich von derartigen Machtspielen beeinflussen und beeindrucken lässt. Letztlich soll alles Mißliebige in die Schranken verwiesen werden. Und deshalb kann der Protest gegen dieses Ansinnen nicht früh genug beginnen. Wenn Kirchenangestellten kritische Seiten zu ihrer eigenen Kirche schon im Ansatz mit Verweis auf ihre Loyalitätspflicht verboten werden, sieht man, wie weit man gekommen ist. Weder Jesus noch Luther hätten heutzutage ein Weblog über ihre Religion bzw. Kirche führen dürfen. Die im Magazin für Theologie und Ästhetik im Heft 19 abgedruckte Spottschrift Luthers über die Reliquien würde heutzutage wohl für einen entsetzten Aufschrei sorgen und Proteste wegen dieser Veräppelung des Reliquienkultes und vorsorgliche Entschuldigungen der ev. Kirche bewirken. Unter den ARTIKELN dieses Heftes finden Sie zunächst eine Chronologie von Andreas und Jörg Mertin zu den religiösen Empfindsamkeiten des Christentums in den letzten 100 Jahren. Es ist eine Liste, die künftig fortlaufend ergänzt wird. Sie umfasst zur Zeit vermutlich nur einen Bruchteil der religiösen Inkriminierungen von Kultur seit 1900. Harald Schroeter-Wittke beschäftigt sich mit der Dialektik von Frömmigkeit und Blasphemie. Bruno Amatruda trägt Notizen zum Alltag religiöser Empfindsamkeit bei. Andreas Mertin setzt sich sowohl am Beispiel von Popetown wie der Auseinandersetzungen um Nachbildungen von Leonardos Abendmahl mit der Reizbarkeit des religiösen Gefühls auseinander. Unter den REVIEWS finden Sie eine Buchempfehlung zum einschlägigen Standardwerk zur Thematik: der Geschichte der Blasphemie von Alain Cabantous. In den MARGINALIEN erinnen Andreas und Jörg Mertin an crossbot, die internetisierte Grenzkontrollbehörde der EKD. In der Rubrik SPOTLIGHT finden Sie das WEBLOG, die vertrauten Kolumnen zu Videoclips und zu interessanten Internetadressen von Andreas Mertin und zu den Lektüren von Karin Wendt. |