Darwins Korallen
Bevor Charles Darwin die Theorie der Evolution durch Variation und Selektion formuliert hatte, konnte man nicht erklären, warum bestimmte Spezies aussterben und andere neu entstehen. Antike und mittelalterliche Naturphilosophien standen vor dem Dilemma, eine lineare wie eine sich fortwährend differenzierende Entwicklung des Lebens auf der Erde zusammendenken zu müssen. Denn bis weit ins 18. Jahrhundert hinein erlaubte die Überlieferung einer Erschaffung aller Lebewesen allein die Vorstellung einer friedlichen Verzweigung, nicht die einer kämpferischen Verdrängung der Arten im Laufe der Zeit. Den Forschern diente zur Veranschaulichung des Entwicklungsgedankens lange die Morphologie des Baumes aus Krone, Stamm und Wurzeln. Immer wieder wurden dabei jedoch auch die Grenzen der Übertragbarkeit des Modells deutlich. Mit der fortschreitenden Einsicht in den Lebensprozess kam es zu Erweiterungen des Modells, etwa zum Hybriden eines doppelstämmigen Baumes, der das animalische und pflanzliche Reich symbolisieren sollte, oder es wurden andere Bilder herangezogen wie das einer Stufenleiter oder das einer Kette. Zu den frühesten echten Alternativen gehörte das Modell des Netzes, das der Italiener Vitaliano Donati 1750 vorschlug.
Die Frage liegt nahe, welches bildliche Äquivalent Charles Darwin selbst verwendete, um seine Theorie zu visualisieren und zu begründen? Bis heute dominiert mindestens in einem populären Verständnis der Evolution das Bild vom Baum. Daran hat Darwin insofern seinen Anteil, als er damit im Kapitel über die Natürliche Auslese seiner Schrift Origins of Spezies (1860) ausdrücklich argumentiert. Was Horst Bredekamp in seiner Studie jedoch zeigt, ist, dass sich die Verwendung der Baummetapher weniger Darwins Überzeugung als vielmehr einer strategischen Überlegung verdankt. Bredekamp deutet Darwins Ausführungen zum Baum vor allem vor dem Hintergrund eines Wettlaufs mit dem Naturforscher Alfred Russel Wallace [http://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Russel_Wallace]. Dieser war kurz zuvor zu vergleichbaren Ergebnissen gekommen, die er Darwin, mit dem er seit längerem korrespondierte, zukommen ließ. Wohl um seine Priorität gegenüber Wallace zu wahren und verbal zu verstärken, führte Darwin das Baummotiv ein, das bis dahin in seinen Aufzeichnungen kaum eine Rolle gespielt hatte.
Was hatte Darwin aber vor Augen, als er seine Theorie entwickelte? Hatte er überhaupt bestimmte Bilder vor Augen? Als er 1937 nach der Rückkehr von seinen Reisen zu den Kapverdischen Inseln, den Falklandinseln, der südamerikanischen Küste, den Galápagos-Inseln und Australien seine Proben sichtete und analysierte, entstanden auch erste Skizzen. Sie visualisieren bereits die Grundidee der Evolution. Aus gestrichelten Linien zweigen sich durchgezogene Linien ab und veranschaulichen so, wie aus den toten Stämmen abgestorbener Spezies neue Arten entstehen. Mit dieser Erkenntnis einer fossilen Abstammungslinie war eine zeitliche Achse erschlossen, die nicht mehr die Vorstellung eines Plans voraussetzte, sondern Leben als einen sich natürlich fortentwickelnden Prozess zu beschreiben erlaubte. Diese Skizzen, so Bredekamp, lassen sich aber nicht nur graphisch lesen, sondern sie geben auch eine bestimmte Morphologie zu erkennen, nämlich die der Koralle. Darwins Wahl der Koralle als Modell der Evolution lag daran, dass sie die Fossilien in ihren versteinerten Stämmen und Armen zu metaphorisieren vermochte. Was diese Deutung Bredekamps unterstützt, ist eine Randnotiz auf einem der Skizzenblätter: Der Baum des Lebens sollte vielleicht die Koralle des Lebens genannt werden. Darwins Forschungsinteresse galt in besonderer Weise diesen Organismen, die er in Fundstücken archivierte und zu denen er 1842 wichtige Erkenntnisse publizierte. Auch in seinem Hauptwerk Origins of Spezies ähnelt das zentrale Diagramm einer Koralle, während im Text gleichwohl nicht als Erläuterung der Zeichnung immer wieder vom Tree of Life die Rede ist. Bredekamp schlussfolgert: Die korallenen Linienäste des Diagramms von Origins of Spezies dienten dem Zweck, die Geschichte der Arten mit ihrer überwältigenden Zahl ausgestorbener Spezies in horizontal geschichtete Zeitspannen einzutragen. Hierin hatte das Bildmodell seine innere Logik und seine visuelle Kraft.
In einem Kapitel über die Naturgeschichte der Koralle erschließt Bredekamp dem Leser die kulturelle Tiefendimension der Koralle, die bereits der Antike als Symbolwesen aller Metamorphosen galt. Sie war das Zeichen des Überflusses der Künstlerin Natur und findet sich in den frühen Sammlungen der Kunstkammern der Spätrenaissance und des frühen Barock. Sie war Sinnbild des Lebendigen und Friedlichen, das den Konflikt zwischen Meer und Land überwindet. Die Zeit des Friedens in Florenz während Herrschaft der Medici wurde als korallenes Zeitalter bezeichnet. Im Aquarienkult des 19. Jahrhundert sah man in der Koralle ein lebendes Kunstwerk. Korallenriffe wurden mit vollendeten Bauwerken verglichen, und sogar zum Sinnbild einer Republik. In diese Bedeutungsweite der Korallen, die im neunzehnten Jahrhundert als Symbol einer schöpferischen Natur, als Vorschein einer gelungenen Demokratie, aber auch als Zone des Unbewussten metaphorisiert wurden, fügt sich Darwins Diagramm der Origins of Spezies bruchlos ein, weil auch sein Modell die gesamte Natur und deren Transformationsprozesse im Auge hatte.
Anders als das Paradigma des Baumes, das nicht zuletzt durch die Wortwahl Darwins begünstigt worden war, blieb sein zeichnerisches Bild der Koralle unbeachtet. Damit einher ging eine Vernachlässigung des Gedankens der Vielfalt und der Differenz zugunsten eines hierarchischen Ordnungsgedankens im Sinne einer Höherbewertung der später entstandenen Spezies und einer rein repressiven Erläuterung von Anpassung. In der Wiederentdeckung der Koralle als alternative Gestalt für das Verständnis des Lebens liegt eine historische Umgewichtung. Man kann sie verneinen wie Christian Geyer in der FAZ, der bezweifelt, dass für Darwin bei seiner Skizzierung tatsächlich die figürliche Gestalt der Koralle eine Rolle gespielt hat und der, selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, den Mehrwert darin nicht sieht. Für das Verständnis kultureller Sedimentierungen ist Bredekamps Deutung aus meiner Sicht jedoch sehr aufschlussreich und auch plausibel.[1]
Anmerkungen
- Für einen umfassenden Einblick in den bildlichen Charakter von Darwins Denken verweist Bredekamp auf die Forschung von Julia Voss, One long Argument. Die Darwinismus-Debatte im Bild, zugl. Diss. , Berlin, im Druck.
© Karin Wendt 2006
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Magazin für Theologie und Ästhetik 41/2006 https://www.theomag.de/41/kw49.htm
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