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Magazin für Theologie und Ästhetik


White Cube XXI

Netzkunst von Golan Levin

Karin Wendt

Was verbindet die Benutzer des Internets? Streng genommen nichts, was in einem engeren Sinne mit dem Internet zusammen hängt. Verbindend sind Interessen, ein bestimmter Nutzen, verbunden fühlen wir uns mit einem besonderen Wissen oder mit Fragen. Dennoch haben wir die Vorstellung, dass sich mit dem Internet ein eigener Raum ausgebildet hat, den wir miteinander teilen und den es vorher nicht gab. Das liegt wohl vor allem daran, dass es eine Schnittstelle bietet, persönliche Interessen, Ideen oder Anliegen mit einer breiten Öffentlichkeit zu verbinden, und das in einer Weise, die zunehmend einfacher zu handhaben ist. Dies ist eine neue Erfahrung, die wir machen, weil wir mit dem Internet arbeiten, spielen oder uns darin äußern. Wir lernen uns in einem offenen und weit reichenden sozialen Netzwerk zu bewegen, das ganz unterschiedliche Interessen von Einzelnen oder Gruppen mehr oder weniger lose und mehr oder weniger gezielt verknüpft - und auch verdrängt.

An der Visualisierung und Reflexion dieser offenen Struktur arbeiten unter anderen Netzkünstler. Mit dem Internet haben sich die Formen zur Darstellung von Informationen vervielfältigt und es gibt die Möglichkeit der gesteuerten oder freien Interaktion mit dem Präsentierten. Parallel dazu sind Techniken zur Vermessung und Auswertung von Daten entwickelt worden. Sie künstlerisch quasi zu enteignen, neu zu designen und so einzusetzen, dass etwas bis dahin Unsichtbares erkennbar wird, ist für den New Yorker Künstler Golan Levin eine der Zukunftschancen zeitgenössischer Kunst: "Traditionally the tool of the scientist and engineer, information visualization has increasingly become a powerful new tool for artists as well, allowing them to present, search, browse, filter, and compare rich information spaces in order to discover and reveal new narratives otherwise hidden within the dataflows of our world."[1] Als Komponist, Performer und Entwickler von interaktiver Software arbeitet er an einer Form von Umgebungsdesign, "die sich damit beschäftigen muss, wie man Raum über eine gewisse Zeit hinweg konstruiert und füllt und ... Kontingenz und Bedingtheit in Betracht zieht."[2] Seine Arbeiten tragen die Handschrift des MIT Media Lab, wo Levin bei John Maeda in der Gruppe "Aestetic and Computation" seinen Abschluss machte. Sie sind geprägt von technischer Perfektion und einer gewissen ästhetischen Glätte, er selbst sieht darin "Grazie, Flüssigkeit, etwas kapriziöses und eine offene Endlichkeit" verbunden.[3]

The Dumpster

Auf den Seiten der Londoner Tate Modern findet sich seit März ein neues Online-Projekt, das Golan Levin in Zusammenarbeit mit Kamal Nigam und Jonathan Feinberg entwickelt hat: The Dumpster kann als ironischer Kommentar zur Bloggerkultur verstanden werden, es stößt aber auch weiter gehende Fragen und Überlegungen zur Form (virtueller) Kommunikation an, nicht zuletzt kann es darum gehen, sich des Unterschieds zwischen Narration und Interaktion bewusst zu werden.

The Dumpster, auf deutsch "Der Mülleimer", enthält 20.0000 Äußerungen von amerikanischen Jugendlichen, etwa die Hälfte im Alter von 13 bis 19 Jahren, davon ca. 70 Prozent Mädchen, die sich während des Jahres 2005 von ihren Freunden getrennt haben und davon in Weblogs berichten, von ihrem Liebeskummer, ihrer Wut, ihrer Gleichgültigkeit oder Erleichterung. Mittels einer Evaluierung wurden die Beiträge nach verschiedenen Charakteristika sortiert und kategorisiert: etwa mit Blick auf die emotionale Verfassung der Schreiber, die Art der Trennung, den Verweis auf frühere Trennungen, die Haltung gegenüber dem Partner nach der Trennung u.ä. Startet man die Java-Animation, treten tanzende bunte Blasen von oben in ein Fenster. Jede dieser Blasen verbirgt einen der Beiträge. Die Größe der Blase markiert die Länge des Textes. Aktiviert man eine, so öffnet sich ein zweites transparentes Feld, in dem der Beitrag nun zu lesen ist. Die Jahresstatistik in der Fußzeile zeigt das Datum des Postings an. Die ausgewählte Blase leuchtet gelb und alle übrigen werden nun automatisch nach dem darin enthaltenen Text referenziert: Je heller und leuchtender das Rot ist, desto ähnlicher ist der darin verborgene Beitrag. Die Ähnlichkeit kann dabei sprachlicher, demographischer oder thematischer Art sein. Alle geöffneten Fenster bleiben als Verlauf stehen und der User kann selbst entscheiden, worin sich die Beiträge gleichen oder unterscheiden. Er kann die Postings aber natürlich auch nach ganz anderen Kriterien lesen. Auf der linken Seite sind alle 20.000 Beiträge als Farbpixel dargestellt. Auch hier entspricht die Farbe und Helligkeit der Pixel bestimmten Charakteristika des jeweiligen Textes. Jeder Pixel kann aktiviert werden und tritt dann als gelbe Blase in das Hauptfenster.

Lev Manovich sieht in The Dumpster eine neue Form des Gruppenporträts in Zeiten, in denen die Erhebung von Daten, das Anlegen von Datenbanken und digitale Überwachung für das Erfassen von Individuen und Gruppen eine immer größere Rolle spielt: "The result is a group portrait appropriate for the age of data mining, large databases, and global surveillance programs such as Echelon."[4] Der Künstler selbst merkt dazu an, dass man auch von einer technisch generierten Assemblage von Selbstporträts sprechen könnte und gibt damit der eigenen Autorschaft einen anderen Akzent: "Lev Manovich's essay describes the Dumpster project as a ‘group portrait’, but perhaps it is also possible to characterize it as a technologically enabled assemblage of self-portraits. Individuals use their own voices, through a common medium, to create illusions for themselves of the comforting mixture of anonymity and community required for creative self-expression." Es ist wohl vor allem eine groteske Assemblage.

Die Ironie, vielleicht auch der Zynismus von The Dumpster ist nicht zuletzt wegen des romantisierenden Designs und der Assoziation von Laich, der unaufhörlich ins Wasser entlassen wird, unübersehbar. Levin gibt aber auch zu bedenken, dass in einer solchen künstlerisch spielerischen Bearbeitung die Begegnung mit dem eigenen Kummer vielleicht auch neu und anders möglich wird. Für diese These spricht bereits die Praxis des öffentlichen Postings intimer Gedanken (oder auch ihrer Fiktion) selbst. Durch das Interface von The Dumpster wird aber auch die Stimme des Betrachters indirekt Teil der ästhetischen Choreographie. Sobald wir anfangen zu lesen und zu sortieren, werden wir zu Voyeuren auf der Suche nach einer Aussage, die das eigene Gefühlsleben berührt, die Einbildungskraft beeindruckt oder den Intellekt reizt. Eine relative Gleichgültigkeit gegenüber dem individuellen Erleben, was hinter der einzelnen Äußerung stehen mag, geht einher mit einer unwillkürlichen inneren Kommentierung des Geschriebenen.

"The Dumpster is a portal through which these individual performances or renderings can be contextualized, simultaneously magnified and diminished in individual significance; and the viewer, as voyeur or confidante, is able to search through the throng to find individual voices of personal significance to their own imagination." Unser Blick in den Mülleimer ist zwar gesteuert und angeleitet, aber es ist doch auch ein verbotener Blick, denn wir können nicht mit den Bloggern in Verbindung treten und bleiben auch für sie verborgen. Am ehesten verhalten wir uns wie Hacker. "Dumpster Diving", "Mülleimertauchen" nennt der Hacker den Zugriff auf gelöschte Daten oder entsorgtes Material, das nützliche Informationen enthalten könnte. Das Projekt The Dumpster ist ein groß skaliertes Weblog, es ist die Darstellung eines Weblogs aus der analytisch beobachtenden, der ironisch überzeichnenden und der voyeuristisch entlarvenden Perspektive. Man gewinnt ein Bild der aktuellen Jugendsprache und ihrer Codes. Dieser kulturelle Ertrag ist jedoch zugleich das Ausschlusskriterium der eigenen Partizipation. In diesem Sinne bildet die künstlerische Arbeit einen Spiegel der Blogosphäre. Von dem, was gerade dort geschieht, sind wir in der ästhetischen Betrachtung weit entfernt.

Anmerkungen
  1. Golan Levin, Artist Statement, 14.02.2006, http://www.tate.org.uk/netart/bvs/thedumpster.htm. Alle nicht ausgewiesenen Zitate ebd.
  2. Fünf Minuten Aufmerksamkeit: Golan Levin. Im Interview mit Jan Rikus Hillmann, 2001, http://www.flong.com/writings/interviews/interview_debug56_de.html
  3. Ebd.
  4. Lev Manovich, Social Data Browsing, 12.2.2006, http://www.tate.org.uk/netart/bvs/manovich.htm

© Karin Wendt 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 42/2006
https://www.theomag.de/42/kw50.htm