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Magazin für Theologie und Ästhetik


Der Raum schaffende Gott - "Deus in minimis maximus"

Wolfgang Grünberg

I. Entfaltung der fundierenden Thesen*

Das Thema „Raum“ hat sich, wohl auch als Folge der europäischen Neuordnung nach 1989, derzeit in ähnlicher Weise in den Vordergrund gestellt wie nach 1945 die damalige Thematik: „Existenz“, „Zeit“ und „Geschichtlichkeit“.

Auch für die Theologie ist die Nachkriegszeit zu Ende. Die Existenz des Einzelnen z.B. wird wieder mehr im Horizont seiner Geschöpflichkeit bedacht und weniger im Horizont der Existenzphilosophie. Diese ist in der Nachkriegszeit bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts ja auch in ihrer Bedeutung für die Theologie A – Z durchbuchstabiert worden.

Ähnlich intensiv wird nun das Megathema Raum in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften traktiert. Davon zeugt nicht zuletzt dieser Studientag. Auch lutherische TheologInnen machen ihre Schularbeiten. Man denke nur an die klugen Dissertationen von Elisabeth Jooß: „Raum, eine theologische Interpretation“, von Tobias Woydack: „Der räumliche Gott“ sowie an die Habilitation von Helmut Umbach: „Heilige Räume – Pforten des Himmels“, die alle im Jahre 2005 erschienen sind. Es ist also vieles im Fluss der Gedanken und Diskussionen – und das ist gut so.

Mein Annäherungsversuch an eine theologische Raumtheorie operiert schon im Titel mit zwei Thesen, die zwei Aspekte einer genuin theologisch argumentierenden Raumtheorie andeuten und die selbst anschlussfähig für übergreifende Raumdiskurse sein wollen. Was wollen die Titelthesen andeuten?

1.) „Der Raum gewährende Gott“ das ist, wie leicht zu merken ist, die Umformulierung des bekannten Psalmzitates (Ps. 31,9): Du stellst meine Füße auf weiten Raum.

Ist Gott das Raumgewähren zuzuschreiben? Die Bibel redet ganz unbefangen davon. Schon Eine Auswahl an Belegstellen – jetzt beschränkt auf das Neue Testament – macht dies schlagend deutlich.

  • „Sie hatten keinen Raum in der Herberge“ (Luk. 2,7) heißt es in der Weihnachtsgeschichte.
  • „Als Jesus getauft war, stieg er ...aus dem Wasser. Und siehe, da tat sich der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren ...“ (Matth. 3,16).
  • Der johanneische Jesus sagt von sich „Ich bin die Tür, wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden.“ (Joh. 10,9f.)
  • Die Leidensgeschichte Jesu wird geradezu markiert durch Orte und Räume (Einzug in Jerusalem, Abendmahl, Gethsemane, usw. schließlich Golgatha. Nach dem letzten Wort des Gekreuzigten: „In deine Hände befehle ich meinen Geist“ (Psalm 31,6) folgt wieder eine theologisch hoch bedeutsame neue Ortsangabe: „Siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben bis unten ... und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen und die Gräber taten sich auf ...“(Mt. 27,51 – 53).
  • Die Ostergeschichte konfrontiert uns mit dem leeren Grab (Mk.16,5) und den Geschichten der plötzlichen Präsenz des Auferstandenen an den unterschiedlichsten Orten.
  • Die Himmelfahrtsgeschichte wiederum ereignet sich, nachdem der Auferstandene das Kommen des Geistes ankündigt und die Apostel als Zeugen des Auferstandenen sendet: „Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Welt.“ (Apg.1,8b)

Orte und Räume, so also ein erstes Ergebnis, werden, biblisch gesehen, immer „qualifiziert“ vorgestellt und bedacht. Den Raum an sich oder den neutralen Raum oder Ort gibt es nicht. Das heißt: Orte und Räume als Deutungspotentiale wahrzunehmen und auszulegen. Da ist von der Enge, vom „finsteren Tal“ in Psalm 23 die Rede wie auch von der „fetten Weide“ – also einem weiten Raum. Ob nun Wüste oder Weide, ob Nazareth („Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“(Joh.1,46), ob „Jerusalem du hochgebaute Stadt“(vgl. das Lied von M. Meyfart 1626, Evangelisches Gesangbuch Nr. 150), Orte und Räume sind nie neutral, sie haben einen „Ruf“ je nach den Geschehnissen, die sich dort ereigneten und erinnert werden. Sie sind Orte der Gottesbegegnung oder auch Orte der Dämonen, bedrückend oder auch beglückend. Die Landschafts- oder Stadträume sind nicht Kulissen des Geschehens, sondern Subjekte im Theatrum mundi et Dei.

Für das Alltagsverständnis steht dagegen fest: Der Raum ist eine vorgegebene, und eine im Prinzip neutrale Gegebenheit, gleichsam die Voraussetzung von allem Geschehen, also die Bühne, auf der die Stücke des Lebens gespielt werden.

Dass es „Raum“ „gibt“, könnte schließlich auch schöpfungstheologisch begründet werden, sind Himmel und Erde doch nach Gen. 1 die ersten Schöpfungswerke, also wirklich gegeben. Heißt es nicht von ihnen, dass diese Schöpfungswerke „sehr gut“ sind?  Das kann doch nur bedeuten: Dass es überhaupt Raum zum Leben, eben die Schöpfung, gibt, ist gut. Das also ist der erste Grundakkord, den wir zu hören haben. Also keine „Neutralität“, aber ein positives Prädikat: „Sehr gut“.

In der These:„Gott gewährt, bzw. schafft Raum“ möge dieses „gut sein“, diese Güte mitschwingen. Mir kommt es in der Themenformulierung besonders auf das Präsens: dass Gott Raum „schafft“ bzw. „gewährt“ an. Die Schöpfung ist demnach nicht zu Ende. Sie dauert an. Dies wird im theologischen Theorem der creatio continua, der andauernden Schöpfung, bedacht, von der Johannes Zwick 1545 poetisch dichtet: „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu.“ (EG 440). Ist diese Aussage Ernst zu nehmen? Ich denke, ja. Schon phänomenologisch stimmt: Güte schafft Raum zur Entfaltung. Gut-sein schafft Raum. Von dort ausgehend ist schon schöpfungstheologisch zu sagen: Gott – als Macht der Güte und Liebe verstanden – ist seinem Wesen nach kreativ, schöpferisch. Gott ist demnach auch „räumlich“ als Macht erfahrbar, die aus der Enge der Angst in die Weite führt, aus dem Chaos in den Kosmos, aus dem Nichtsein ins Sein. Aber auch das Gegenteil stützt diese These: Wo Güte entzogen, wo Liebe erloschen ist bzw. wo sie nicht mehr waltet, da wird Raum genommen, da wird Raum besetzt, da wird es, räumlich gesehen, eng, worauf das etymologische Sprachgedächtnis, durch den sprachlichen Zusammenhang von „Angst“ und „Enge“ selbst hinweist.

Der Philosoph Hermann Schmitz hat den inneren Zusammenhang zwischen dem immer schon irgendwie „gestimmten“ Raum als Polarität von Einengung und Weitung auch phänomenologisch als Qualität der ihr jeweils zugrunde liegenden Beziehung ausführlich beschrieben.[1] Wir leben buchstäblich davon, dass uns immer wieder neu Raum gewährt bzw. neu eröffnet wird. Darin zeigt sich elementare Güte und Liebe.

Im Ergebnis der Überlegungen möchte ich auch Kirchen – sowohl als institutionelle Prozesse wie als Bauskulpturen – so verstehen, dass sie weitend und nicht einengend erfahren werden, dass sie vom innerlichen wie äußerlichen Menschen als qualitatives Begegnungsgeschehen erfahren werden und zu Resonanzprozessen einladen.

Wem sich innerer und äußerer Raum neu erschließt, wer dies als Geschenk erfahren kann, dem wird es darum gehen, diesem Verhalten zu entsprechen. Kirchen sind darum als Resonanzräume zu verstehen. Sie bewähren ihre Bestimmung gerade dadurch, dass sie – selbst Resonanzkörper – dazu einladen, Schwingungen, Töne, Akkorde („Übereinstimmungen“ bzw. Entsprechungen mit Über- und Untertönen“) oder auch Dissonanzen, also Missklänge, auszulösen und so Widerhall bzw. Resonanzen bei den NutzerInnen der Kirche zu stiften. Dies wird am Ende auch das Ziel der theologischen Überlegungen sein.

2.) Deus in minimis maximus. Gott ist in den Kleinsten der Größte.

Diese Aussage ist ursprünglich eine Liebeserklärung an die fleißigen Bienen, die alle lesen können, die sich dem Ratzeburger Dom auf vielleicht 30 Schritt genähert haben. Dort steht linker Hand, innerhalb des ummauerten Domfriedens an der Mauer, ein Bienenkorb. Daneben ist eine Holztafel aufgestellt, auf der der Lorcher Bienensegen aus dem 9. Jahrhundert zu lesen ist, dem diese zitierten vier lateinischen Worte entstammen. Deus in minimis maximus ist eine jener Kurzformeln, in denen sich theologische und philosophische Traktate größeren Umfangs bündeln lassen. Was meint diese paradoxe Formel?

Gott ist demnach nicht nur der, der Raum gewährt und Resonanzen auslöst. Er ist auch der, der im Unscheinbarsten, im Kleinsten als Größter, gleichsam under cover, präsent ist und so im Unscheinbarsten, im Kleinsten die Majestät Gottes aufleuchten kann.

Die Formel deutet eine radikale Kritik der üblichen  Maßstäbe an. Wer ist der Größe? Wer der Kleine und Geringe? Was ist groß, was klein? Alles scheint eine Frage der Perspektive zu sein und die ändert sich, wenn ich auch im Kleinsten, im Tropfen Wein, im Korn des Brotes, die Spur der Majestät Gottes erwarten und erkennen kann. Wie Luther diese Sicht der Dinge gegen Zwingli im Marburger Religionsgespräch von 1529 markant zur Geltung gebracht hat, darauf hat Bischof Knuth mit eindrücklichen Zitaten schon hingewiesen.

Der Lorcher Bienensegen ist gewiss nicht aus einer entwickelten Ubiquitätstheorie, derzufolge Gott ubique, also überall gegenwärtig ist, abgeleitet worden. Das ist erst in der Scholastik geschehen. In Substanzontologischer Begrifflichkeit wird dann „gedacht“, dass Gott im „Allerheiligsten“ „ganz“ und im Heiligsten etwas weniger und im Profanen nur noch kaum „präsent“ ist. Eine letztlich stofflich gedachte und darum auch noch messbare und bestimmbare Gottespräsenz führt völlig auf die Abwege von Magie und Zauberei. Es geht aber um ein Begegnungsgeschehen, das zur Umwertung der Perspektive führt. Umkehr heißt primär etwas in anderer Perspektive wahrnehmen – und daraus folgt eine Umwertung der Werte, des Standortes usw. Und genau das können wir schon von den Bienen lernen!

Und für die Fachtheologen füge ich die lateinischen Formeln hinzu, die diesen Perspektivwechsel so fassen:

  1. Finitum non capax infiniti. Das Endliche kann das Unendliche nicht fassen.
  2. Infinitum capax finiti. Das Unendliche vermag aber das Endliche zu umfassen.

Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Die im Titel vorgestellten theologischen Thesen sind freilich nun auch auf den Kontext der wissenschaftlichen Diskurse über Raum und Räumlichkeit zu beziehen. Ich erwähne nur jene nichttheologischen Raumdiskurse, die mich am meisten fasziniert haben, von denen ich also besonders gelernt habe:

  • den erkenntniskritischen Ansatz Kants,
  • Sigmund Freuds Beschreibung der Projektion,
  • die soziologische Raumtheorie von Martina Löw,
  • die phänomenologische Beschreibung der erlebten Räumlichkeit von Hermann Schmitz
  • die beiden schon erwähnten theologischen Dissertationen Von Jauß und Woydack sowie die Habilitation von Umbach.

Es ist hier natürlich unmöglich – und auch nicht nötig – diese Diskussion im Einzelnen zu führen. Ich beschränke mich auf wenige für mich allerdings wichtige Unterstreichungen.

II. Philosophische Kritik und Relativierung der naiven Raumvorstellung

In der Schule haben wir gelernt, was eine Fläche ist. Sie ist zweidimensional, der Flächeninhalt wird definiert durch die Formel: Länge mal Breite. Aus der Fläche wird ein Raumkörper durch eine dritte Dimension, die Dimension der Höhe bzw. Tiefe. Jeder Tischler weiß, wie man einen Schrank bzw. jeden anderen Raumkörper ausmisst und sein Volumen berechnet: Länge mal Breite mal Höhe.

Unsere naive sinnlich-räumliche Vorstellung ist der Perspektive eines Möbelpackers abgeschaut: Der Schrank steht im Zimmer, das Zimmer in der Wohnung, die Wohnung im Haus, das Haus  auf der Erde, die Erde im Weltall. Unsere Vorstellung verlangt allerdings, dass das Weltall eigentlich wieder in etwas anderem noch Größerem verortet sein müsste und so fort – ad infinitum. Ein unendliches Weltall, gar eines, das noch gekrümmt ist und sich als unendliches auch noch ausdehnt, wie es die Relativitätstheorie behauptet, können wir uns, auch am Ende des Einsteinjahres weder wirklich vorstellen noch leuchtet sie unter dreidimensionalem Vorzeichen ein. Ein 4, 5 oder gar 6 dimensionales Weltbild vermögen wir uns nicht vorzustellen. So leben wir, für den Hausgebrauch, meist mit einem gespaltenen Weltbild:

Für das Alltagsverständnis übernehmen wir den natürlichen Realismus des Möbelpackers, demzufolge „Raum“ etwas objektiv Gegebenes ist, „in dem“ wiederum andere Raumkörper sind, usw. Für existentielle Phänomene erweitern wir das Alltagsverständnis metaphorisch.

Denn, bei Lichte besehen, ahnen wir zwar, dass ein objektivistisches, dingliches Raumverständnis nicht konsequent durchzuhalten ist.

Dieses Raumverständnis ist, philosophisch eingeordnet, das des Naturalismus. Newton war der physikalische, naturwissenschaftliche Pate dieser Vorstellung in der Neuzeit. Der Sache nach ist sie natürlich viel älter und schon in der attischen Philosophie belegt. Warum ist diese naive Vorstellung aus philosophischen, aber auch aus theologischen Gründen korrekturbedürftig? Kant hat in dieser Angelegenheit Newton fundamental kritisiert und die Philosophie der Neuzeit ist Kant gefolgt.

Ich denke, schon eine kleine drastische Reflexion reicht, die Möbelpackerperspektive und die naturalistische Raumvorstellung ins Wanken zu bringen. Wenden wir sie versuchsweise auf den Menschen als Raumkörper an. Das Volumen des Raumkörpers Mensch errechnet sich durch Länge mal Breite mal Tiefe seines Körpers, Gliedmaßen und seines Rumpfes.

Wir können unter dieser Perspektive – den Menschen als Körper im Raum vorzustellen – ihn demnach auch so erkunden als einen, zugegeben etwas komplizierten, Schrank. Anatome können ihn öffnen. Dort finden sie bekanntlich allerhand: das für die Statik des Menschen notwendige Knochengerüst, gleichsam den Korpus des Schrankes Mensch, gefüllt mit seinen Organen, Nerven, Muskeln etc.

Folgen wir der Perspektive des Anatomen beim „Auspacken“. Am Ende werden wir ihn fra-gen, wo er die Seele, die Freiheit, das Gemüt, die Liebe gefunden hat, bzw. finden würde, wenn er sein Werk am lebendigen Objekt hätte durchführen können. Er wird uns die Landkarte der Gehirnfunktionen erklären und dort die „Anlagen“ finden, die für die Liebe, den Glauben usw. „zuständig“ sind.

Das ist naturalistisches Raumverständnis pur. Es macht aus dem Menschen einen Schrank mit komplexem Inhalt. Demnach ist der Mensch eine endliche Summe von Objekten, die alle einzeln funktional analysierbar sind wie auch ihre Austauschverhältnisse des Stoffwechsels. Die Perspektive des Möbelpackers und des Anatomen, zumeist auch die des Hirnphysiologen, sind im Prinzip gleich: Der Mensch ist als Objekt die Summe seiner Teil-Objekte und ihrer Funktionen gegeben.

Ist diese Perspektive falsch? Nein, sie ist nur begrenzt. Sie ist nur eine von vielen anderen sinnvollen Perspektiven. Falsch wird sie, wenn Möbelpacker bzw. Anatomen nicht bereit sind, ihre perspektivisch gewonnenen Wahrheiten im Horizont anderer Perspektiven selbstkritisch zu relativieren.

Wer den Menschen – perspektivisch – als Objekt wahrnimmt, kann Würde und Freiheit des Menschen weder finden noch nachweisen. Aber daraus folgert nicht, dass der Mensch weder Freiheit noch Würde hat. Sie sind – Gott sei Dank! – keine dinglich gegebenen Objekte. Sie sind relationale Begriffe, sie sprechen von Beziehungen, in denen der Mensch im Blick auf sich selbst, im Blick auf Andere und zu Gott immer schon steht.

Die Beziehung zum Anderen ist uns, so Kant, moralisch unbedingt aufgegeben. Denn der Mensch ist nicht nur „Objekt“, sondern immer zugleich „Zweck an sich selbst“, reflexives Subjekt.

Der Mensch ist für Kant Objekt und Subjekt zugleich. Seine Subjekthaftigkeit aber, die empirisch nicht als gegebenes „Objekt“ nachweisbar ist, muss gleichwohl im moralischen Sollen als evident vorausgesetzt werden. Ein Objekt – der erwähnte Schrank z.B. – kennt kein „Sollen“; kein Bewusstsein seiner selbst. Er hat zu sich kein reflexives Verhältnis, er ist durch und durch Objekt.

Für Kant ist darum der Mensch als Subjekt und Objekt zugleich Bürger zweier Welten, der empirischen Welt der Notwendigkeiten – denn hier regieren die Naturgesetze – und er ist Bürger der „intelligiblen Welt“ der Freiheit, wie er sich ausdrückt. Diese doppelte Bürgerschaft des Menschen hat unmittelbare Folgen für sein Raumdenken. Von einer bestimmten Perspektive aus als physisches Objekt betrachtet, ist der Mensch das in der Evolution höchste vorhandene Säugetier, er ist als Objekt höchstes „Produkt“ der Evolution, und ein Objekt hat eben keine Freiheit und auch keinen freien Willen.

Den Menschen einmal als aus Einzel-Objekten zusammengesetztes Gesamtobjekt zu sehen oder daneben den Menschen als Subjekt die seine Subjekthaftigkeit auszeichnenden Momente, wie Freiheit, Würde, Liebe etc zu erkennen, ist eine Frage der Perspektive.

Unser Wahrnehmen ist immer perspektivisch.

Wir tragen gleichsam schon Brillen, bevor wir überhaupt die Augen aufmachen. Um die Welt der Objekte erkennen zu können, bearbeiten wir gleichsam die von außen auf uns einströmenden sinnlichen Reize, die Empfindungen unserer Sinne, wie Kant sagt, damit aus ihnen Eindrücke und Erfahrungen werden können. Das geht nur mit Hilfe des in jedem von uns schon gleichsam mitgelieferten Instrumentariums. Das sind Kants berühmte Kategorien a priori, die vor aller Erfahrung als latente Potentiale in uns liegen, von deren Existenz wir aber erst durch die Bearbeitungsprozedur von Sinneseindrücken in unserer mitgebrachten kategorialen Werkstatt selbst Kenntnis erhalten. Raum und Zeit sind, im Sinne Kants, Elementarkategorien a priori, Formen der Anschauungen, um die Welt als Welt überhaupt wahrnehmen zu können. Raum und Zeit sind demnach keine objektiven Gegebenheiten an sich, sondern notwendige Ordnungskategorien, eben Brillen, mit deren Hilfe wir aus dem Chaos der Sinnesreize erfahrbare Objekte formen. Das Ding an sich ist uns verschlossen. Aber wir können den Prozess verstehen, was die Dinge für uns sind, eben Objekte.

Freilich gehört zu dem in uns gleichsam schlafend liegenden Vorrat an Kategorien auch das moralische Gesetz in uns, in jedem von uns. Dieses ist nach Kant eine selbstevidente Gegebenheit a priori, ein uns unbedingt verpflichtendes Bewusstsein unserer selbst. Ein reflexives Bewusstsein ist aber nie ein „dingliches Objekt“, sondern eine Relation, eine Beziehung, die uns als Subjekt konstituiert. Aus dieser im unbedingten Sollen sich zeigenden Unbedingtheitserfahrung leitet Kant ab, dass der Mensch als Subjekt frei ist. Darin, in seiner Verantwortungsfähigkeit als Subjekt, wurzelt die Würde des Menschen.

Was hat das mit unserem Raumdenken zu tun? Sehr viel. Das müssen wir nun genauer bedenken: Es gibt nach Kant, so hatten wir gesehen, Räume, in denen die Notwendigkeit regiert und im Prinzip Räume, in denen Freiheit regieren kann. Das moralische Gewissen ist kein Ding. Gott ist kein Ding und der Mensch als Subjekt eben auch nicht. Der Mensch als Objekt ist ein dingliches Wesen. Aber als Objekt ist er angekettet an die Naturgesetze, er ist also Gefangener im Reich der Notwendigkeit; als ethisch sensibles Subjekt ist er freilich Bürger im Reich der Freiheit.

III. Der innerliche und der äußerliche Mensch – ein protestantisches Missverständnis?

Der Mensch ist im Sinne Kants Objekt und Subjekt zugleich. Analog ist der Mensch als Sünder in das Reich der Notwendigkeit verstrickt, aus dem er sich nicht mehr selbst befreien kann. Unter christlicher Perspektive gibt es neben evidentem Pflichtverständnis des Sollens noch ein anderes. Als von Gott in Christus Geliebter wird ihm in der Taufe der Zugang zum Raum der Freiheit gewährt, geschenkt. Der Weg zur Wahrnehmung der Freiheit des Subjekts geht bei Kant über die ethische Selbstwahrnehmung. Er ist im Sinne der protestantischen Tradition ein Prediger des Gesetzes, des Sollens, Kant ist der philosophische Nachfolger von Johannes dem Täufer.

Im Raum der scheinbaren Sachzwänge und Notwendigkeiten, zu dem der Christenmensch gehört, kann er eine neue befreiende und unbedingt ermutigende Erfahrung machen, die Erfahrung einer mir begegnenden Güte und Liebe, die mir gleichsam die Kraft schenkt, mich aus dem Objektstatus herauszuheben, die mich also zum Subjekt macht. In jeder erfahrenen Liebe oder Güte steckt ein Überschuss, der über den oder die Person, die mir diese Liebe oder Güte zuwendet, hinausgeht. Wird dieser Überschuss als unbedingter Lockruf ins Reich der Freiheit, nämlich der Freiheit zu lieben, verstanden, dann wird – und das heißt als Raum eröffnendes, Freiheit gewährendes, befreiendes Handeln verstehbar – mittels endlicher, irdischer Liebe etwas transportiert, das das Konto menschlicher, endlicher Liebe weit überzieht, nämlich die Erfahrung einer unbedingten Annahme meiner endlichen und ambivalenten Existenz, die mich gleichsam emporhebt in die Freiheit des Subjekts und mich zugleich in eine tragende Beziehung stellt, die wiederum auch neu verpflichtet:

Widersetze dich allen Versuchen, zum reinen Objekt degradiert zu werden. Das verletzt die unbedingte Würde des Menschen. Die Erfahrung des Gewürdigt-Werdens als Person auch jenseits meiner Leistungen ist in eins ein Ruf, der prinzipiell allen Anderen in gleicher Weise gilt. Die christliche Erfahrung geschenkter Würde, ist kein Privileg, sondern vielleicht der exemplarische Fall, der verdeutlicht, dass Würde keine Eigenschaft des Menschen meint, sondern einen ontologischen Adel, vor allem konkreten Tun oder auch Versagen. Würde, theologisch interpretiert, ist im Kern eine den Menschen adelnde Beziehung vor aller Erfahrung, der Adel der Gotteskindschaft, die im Symbol der Taufe anschaulich gemacht wird.

Während für Kant die Würde nur im Sollen, in der Pflichterfüllung erfahrbar ist, ist für Christen die zentrale Erfahrung nicht mehr das Sollen, sondern die Erfahrung, dass auch dem endlichen, fehlbaren Menschen umsonst schöpferische Güte und Liebe gewährt wird, die „unsere Füße auf weiten Raum stellt“ (Psalm 31,9), also Weite gewährt entgegen aller Enge, entgegen aller Angst, also auch dann, wenn wir uns selbst im Raum der Notwendigkeit verstrickt erfahren.

In der lutherischen Tradition ist diese doppelte Bürgerschaft im Reich der Notwendigkeit und im Reich der Freiheit wirkungsgeschichtlich nun zusammengeschnurrt auf die Unterscheidung in den inneren und in den äußeren Menschen: Innerlich sind wir demnach frei, aber äußerlich sind wir in Notwendigkeiten verstrickt: in die Natur mit ihren Gesetzen, die das Leben in der Natur ordnen und in der Gesellschaft unter die Gesetze der Obrigkeit, der wir zu gehorchen haben. Wirkungsgeschichtlich ist aus der klugen Unterscheidung in den inneren und äußeren Menschen eine Spaltung in den inneren und äußeren Menschen geworden. Das ist ein Grunddilemma des Protestantismus mit weit reichenden Folgen.

Diese Dichotomie hat nämlich auch in der Theorie des Raumes dazu geführt, den äußeren Raum rein als Zweckraum zu bestimmen. Die Kirche – letztlich wiederum als Institution wie als Bauwerk ist demnach etwas ganz Äußerliches, das mit dem Inhalt des Glaubens eigentlich nicht zu tun hat.

Hier haben wir die Wurzel zu fassen, die der ästhetischen Willkür in Kirchbaufragen prinzipiell Tür und Tor öffnet. Ist die Kirche rein äußerlicher Zweckraum, nur dazu da, dass die Gemeinde in ihm die Predigt hören kann und die Sakramente ausgeteilt werden können, dann wird auch der Glaube selbst „entleiblicht“, spiritualisiert und nur als innere Bewegung des gläubigen Subjekts verstanden.

Von dem Innenraum des Herzens oder des Gemüts, wo dieser Glaube wohnt, wird dann der äußere Mensch unterschieden. Innerlich erbaut, geht es an alles Äußere: Das ist dann die Arbeit, der Beruf, die Diakonie als „vernünftiger Gottesdienst“ im Alltag der Welt.

Dass der Kirchraum selbst ein gebautes Gleichnis für „Gottes Haus“ bei den Menschen, für das schöpferische Raumgewähren Gottes sein sollte und sein könnte, ist hier völlig verkannt. Wie schon die Würde des Menschen eigentlich eine Zuschreibung dafür ist, dass dem Menschen als Menschen ein Geheimnis innewohnt, das unbedingt zu wahren, zu hüten ist, um ihn nicht zum nützlichen Ding verkommen zu lassen, so sind auch Kirchen als der Begegnung mit dem schöpferischen Gott gewidmete Orte keine äußeren Hüllen, sondern gebaute Gleichnisse des Evangeliums. In ihnen soll also das Geheimnis Gottes und des Menschen als Geheimnis zu einer gleichnishaften Gestalt finden, die über reine Zweckmäßigkeit weit hinausgeht.

Das Auseinanderklaffen von innerem und äußerem Menschen macht den Menschen wie die Kirche kleiner als sie sind. Denn der schöpferische und versöhnende Gott hat den Menschen in seiner Würde doch gerade mit jenem Überschuss geadelt, der ihn – auch nach Kant – schützen muss vor der Reduktion, nur Mittel zum Zweck zu sein.

Weder ist die Innerlichkeit des Menschen nur Mittel, ethische oder politische Zwecke zu erreichen, noch ist die Umkehrung angemessen, dass alles Äußerliche verlassen werden muss, um die reine Innerlichkeit zur Blüte zu führen. Es geht also um das freie Wechselspiel von Verinnerlichung und Veräußerlichung als einem sich wechselseitig in Schwung bringenden schöpferischen Prozess. So gesehen ist die Kirche als gebautes Gleichnis des Glaubens von hoher Relevanz für das Überleben und Tradieren des Glaubens selbst.

Wort und Glaube gehören „zuhauf“, selbstverständlich. Aber Glaube, selbst nicht nur auf Innerlichkeit reduziert, will und muss zentral eine Gestalt finden, also auch im traditionell erwarteten Ort der Gottesbegegnung, der Kirche.

Mit der Betonung des dialektischen Prozesses von Innen und Außen soll die typisch protestantische Innerlichkeit nicht madig gemacht werden. Im Inneren bleibt als Sehnsucht oder Erinnerung das aufbewahrt, was dem äußeren Menschen oft fehlt: Geborgenheit, Angstfreiheit, Liebe, Freiheit. Der Primat der Innerlichkeit hat innerhalb der evangelischen Frömmigkeit zur Hochschätzung der Musik, die den inneren Menschen erbaut, geführt. Wer wollte dies tadeln?

Diese Betonung der religiösen Innerlichkeit war zumal die richtige Antwort auf eine spezifische Situation der Veräußerlichung. Aber diese kann – isoliert gesehen – zur Fessel werden. Schon Luthers Freiheitstraktat von 1525 wurde häufig nicht mehr dialektisch interpretiert, wie sein Ansatz ist, sondern dichotomisch, als „Aufteilung“ in den inneren und äußeren Menschen.

Daran konnte pflichtbewusste, kantianisch-preußische Tradition mühelos anschließen, und das preußische Beamtentum lebte jahrhundertelang von diesem zum Habitus, zur Mentalität gewordenen Amalgam von Lutherischem Freiheitspathos und kantischem Pflichtgefühl. Diese Tradition ist in ihrer Größe erhaben, aber in ihrer Grenze heute auch unübersehbar.

Unser Ansatz will von der Erfahrung des Glaubens ausgehen, dass Gottes Güte und Liebe schöpferisch so zu denken ist, dass das Innere und Äußere sich wechselseitig in Schwung bringen. Darum gilt es, die wirkungsgeschichtliche Einnistung des Glaubens in die reine Innerlichkeit oder auch in die reine diakonische Außenseite der tätigen Liebe wieder als einheitlichen Prozess zu denken, der die Dialektik von Innerlichkeit und Veräußerlichung schöpferisch vereinigt.

Halten wir fest: Von Kant bis zu den Neukantianern und jüdischen Religionsphilosophen Hermann Cohen und Ernst Cassirer lernen wir, dass auch die entscheidenden Themen der Metaphysik wie der Theologie: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit keine empirisch fassbaren Gegebenheiten sind. Sie sind gleichwohl im Modus der Evidenz unmittelbar und unbedingt gegeben bzw. aufgegeben, wie Kant das am Beispiel des ethischen Sollens ausführt. Die Titelformulierungen, dass Gott Raum gewährt und in den Kleinsten der Größte ist, ist demnach eine metaphorische, bzw. symbolische Redeweise, die in den Psalmen wie auch in anderen biblischen Texten vorgebildet ist.

Die Aufteilung in den „inneren“ Menschen der Freiheit und den „äußeren“ Menschen der Notwendigkeit ist weder evangelisch wirklich tragbar noch entspricht sie dem gegenwärtigen Stand der kritischen, philosophischen Kantrezeption.

Und wo liegt die Alternative? Bevor wir darauf eine Antwort versuchen, schauen wir dem dialektischen Schauspiel von Innen und Außen noch einmal aus einer anderen Perspektive zu.

IV.  Projektion und Konstruktion der inneren und äußeren Räume Oder: Raum als Funktion der Beziehung

Wir haben – bei der Darstellung der naiven Vorstellung vom Raum als einem gegebenen „Ding“ oder Objekt von einem Anatomen gesprochen, der den Leichnam quasi wie einen Schrank leer räumt. Ich vergaß übrigens seinen Namen zu sagen: er heißt Friedolin Krause, Prof. Krause. Wichtiger noch ist, dass er eine Tochter im Alter[2] von 12 Jahren hat, die auf den Namen Gabriele, kurz Gaby hört.

Prof. Krause, so hatten wir gesehen, hat zu seinem Rohstoff – der Leiche – sagen wir eine technische Beziehung. So gewinnt er wichtige Präparate. Man könnte von einer objekthaften Beziehung sprechen. Aus ihr erwächst sein analytischer, scharfer, man könnte auch sagen kalter, Blick, weil alle emotionalen Aufladungen bewusst ausgeklammert ist.

Nach seiner Arbeit im Institut kommt Prof. Krause nach Hause. An der Tür empfängt ihn seine Tochter Gabriele, sein Augenstern. Sie ist blendend gut drauf. Sie umarmt ihn. Sie mag ihren Vater und will ihm etwas Schönes erzählen. Welche Perspektive nimmt Gaby ein? Die Tochter sieht im Vater ein nahes Gegenüber, einen Menschen, der ihr ähnlich ist, mehr noch, der einen Teil von ihr selbst repräsentiert. „Papa“ soll sich mit ihr freuen, weil sie eine tolle SMS von Mike, ihrem ersten jungen Verehrer bekommen hat. Der Vater wird in diesem Moment ein projiziertes, verobjektiviertes Zweit- Ich von ihr selbst, Papa, als alter idem, der Andere, der sie selbst auch ist, soll sich mit freuen. Ich unterstelle einmal, dass Vater Krause seine Tochter sehr mag – und er sich in ihr ebenfalls etwas repräsentiert fühlt. Jeder Vater, der bei Sinnen ist, liebt die eigenen Kinder, besonders die Töchter, jedenfalls so lange sie sich noch nicht in außerfamiliäre Beziehungen eingehaust haben.

Prof. Krause war in der Anatomie noch durch die klinisch-kühle Objektwelt bestimmt, auch in seiner Raumwahrnehmung. Der Seziertisch und die gekachelten Wände sind weder anheimelnd noch abstoßend. Sie sind zweckmäßig.

Aber in dem Moment, in dem er zu Hause ist und seine Tochter ihn umarmt und er von ihrer Freude angesteckt wird, ist der Sezierraum vergessen und aus Prof. Krause wird der Papa, der von Gaby, seinem Augenstern, umarmt wird. Hier geschieht etwas äußerst Spannendes. Die freudige Umarmung entfernt den Vater nicht nur von allem Denken an seinen Arbeitsplatz im anatomischen Institut. Die Umarmung – wird sie vom Herrn Papa wirklich erwidert – entführt ihn schon halb in den Lebens- und Sehnsuchtsraum seiner Tochter. Gaby schwebt in diesem Moment. Der Flur des Elternhauses scheint erfüllt zu sein von der virtuellen Gegenwart ihres Verehrers Mike. Aus dem Flur ist für sie gleichsam eine mit SMS-Tapete geschmückter Flur geworden, der Krauses Flur mit dem von Rolfs elterlicher Wohnung fast verbindet, wäre da nicht die blöde große Uhr, die die Phantasie mit ihrem penetranten Stakkato so zerstört. Der Realraum setzt also dem projizierten Sehnsuchtsraum von Gaby einen gewissen, hinhaltenden Widerstand entgegen. SMS-Hochgefühl im Streit mir real umherliegenden Schuhen und einer lauten Uhr.

Wir nehmen einmal an: Papa Krause lässt sich völlig auf Gabys Perspektive ein. Siehe da, er wirkt wie gelöst von seinem oft so ärgerlichen anatomischen Seziermesserblickwinkel. Plötzlich steht er in einem lebendigen Raum des Austauschs von Fröhlichkeit, Warmherzigkeit, Jugendlichkeit und Schönheit. Er lacht noch über die mittlere Unordnung im Flur, markiert sie doch tatsächlich den Übergang in die völlig andere häusliche Welt. Die ist ihm heute besonders lieb, weil in ihrer Mitte nun die Zauberin Gaby ihr Zepter schwingt. Alles ist anders als noch vor einer Stunde im anatomischen Institut. Vor allem aber: Er selbst wird ein anderer. Er ist nicht nur gelöst, sondern heiter, wie erlöst. Er hat die verwandelnde Einladung in ihre Perspektive angenommen. Und er erfährt: geteilte Freude ist doppelte Freude. Denn Gaby ist ebenfalls glücklich: Papa ist mein Freund, er versteht mich! Er ist irgendwie ich, und ich wie er. Diese Verschmelzung der Perspektiven verwandelt beide, ihn und zugleich das Raumdenken beider.

War er eben im anatomischen Institut im gekachelten Sezierraum, so ist er nun im Flur der eigenen Wohnung durch Gaby in den fröhlichen Beziehungsraum des töchterlichen Himmels aufgenommen. Ihm weitet sich der Raum.

Unser Raumdenken, das ist der kühle Sinn dieser Gegenüberstellung, wird durch die Beziehung definiert, in der wir konkret stehen, auf die wir uns einlassen oder eben auch nicht einlassen. Denn die obige Geschichte kann ja auch in der Weise enden, dass der analytische Sezierblick von Prof. Krause den leicht rötlichen Teint der erst 12jährigen Tochter kritisch beäugt und merkt, dass dies die somatische Folge einer völlig überinterpretierten, lächerlichen SMS eines Lümmels aus der übernächsten Schulbank ist: Oh diese leicht hysterische, pubertierende Tochter! Gaby erschrickt und errötet und macht sich heulend aus dem Staub. Die Freude, genauer die doppelte Freude, ist erstickt, wenn nicht umgebracht. Prof. Krause fühlt seine Tochter entschwinden und ahnt seine neue Fremdheit gerade auch zu Hause. Er produziert doppelte Einsamkeit, wie Gabys Freude beim anderen Ausgang die Freude und Nähe verdoppelte.

Übersetzen wir die Szene ins Räumliche. Waren wir beim ersten – fröhlichen Ausgang – plötzlich nicht nur im vertrauten, etwas unordentlichen Flur des Elternhauses, sondern zugleich auch irgendwie in Mikes Flur, so wurde beim zweiten Ausgang der Flur des anatomischen Instituts gleichsam in den Wohnungsflur verlängert. An der Schnittstelle von Gabys und Prof. Krauses Raumvorstellungen fand ein Theaterstück statt, ein kleines tragisches Gemetzel: todsicher gewinnt dann erst einmal die Anatomie gegen jugendliche Verliebtheit.

Der „Ort“ dieses Geschehens mit doppelt durchgespieltem Ausgang war der gleiche: Osterstr. 35, das Haus von Familie Krause. Aber die Räume waren, je nach dominanter Perspektive, völlig andere – und die Räume änderten sich auch ständig. Das innere Erleben, die Stimmung möblierte ständig um, bis am Ende alle Gefühle wie vereist sind.

Stimmt das? Nicht ganz: Der Flur mit den herumliegenden Schuhen und der blöden Uhr bietet schon noch Widerstand auf. Und die positive Variante der Gaby-Papa Geschichte ist im anatomischen Institut nicht vorstellbar. Warum? Der Flur hat auch eine Ausstrahlung. Seine Einrichtung spiegelt Familiengeschichte. Die Uhr erinnert an die Großmutter, die Unordnung der vielen Schuhe an alle Familienmitglieder, auch an die Mutter und Gabys jüngeren Bruder. Der Flur ist eben auch schon ein gedeuteter Raum, nie neutral – und er ist erfüllt von einer bestimmten Familienatmosphäre. Er spielt also durchaus in diesem Stück mit. Auch die Atmosphären von Räumen sind objektivierte, d.h. auch in physischen Objekten repräsentierte Perspektiven, in diesem Fall die versammelten Abschiede und Ankünfte aller Familienmitglieder. Abschiedstränen und Wiedersehensfreude produzieren diese spezifische Atmosphäre von Fluren.

Insofern leistet der Flur Widerstand gegen die schnelle Umwandlung in den jeweils aktuell erlebten Beziehungsraum. Die Atmosphäre übt eine hemmende oder auch fördernde Wirkung auf die Beziehungskonstellationen auf. Warum sonst räumt man gern vor hohem oder auch vor sehr lieben Besuch den Flur auf? Es geht wirklich um mehr als um Enge oder Weite, es geht um Willkommen oder um Abschied; im Kern also um Geborenwerden oder um Sterben. Lebt die Freundschaft auf, oder wird sie abgewickelt. Der Raum spielt in diesem Stück aktiv mit, er ist nie neutral. So viele Räume wie Perspektiven sind jeweils virtuell gemeinsame Potenzen, konkurrierende wie kooperierende: die physischen Räume (a) Flur und (b) Institut, die internalisierten Stimmungsräume (c) von „Prof. Krause“ bzw. (d) von „Papa“ sowie e) der phantasierten SMS-gepflasterte Phantasieflur der verliebten Gaby sowie (f) der atmosphärisch aufgeladene Familienflur. Das sind immerhin sechs verschiedene Beziehungsräume bzw. Perspektiven, die hier mitspielen. Wo die Kommunikation gelingt, also Perspektivwechsel eingegangen werden, kommt es in bestimmten Situation, also Orten, zu bestimmenden Prägungen, zu Orientierungen, deren „Haltbarkeit“ freilich nicht grenzenlos ist. Im Beispiel geredet: Das Einvernehmen zwischen Prof. Krause, dem Papa, und seiner Tochter Gaby wird beim positiven Ausgang der Geschichte erst einmal gestärkt – und diese Perspektive wird auch die Erwartung des nächsten Gespräches von Vater und Tochter bestimmen. Aber Perspektiven sind per se nie ortlos. Und die Überschneidungen bzw. Übereinstimmungen von Perspektiven werden als Ereignisse der Irritation, des Zorns, der Freude auch im Inneren immer mit den Orten verknüpft, an denen sie stattfinden. Erinnerung ist ortsgebunden und nicht zeitbezogen.

Was lehrt uns das? Der Kirchenraum ist um so qualitativer, je mehr seine Atmosphäre und seine Gestalt den Allerweltsperspektiven gegenüber eine eigene Prägung einbringt und zugleich Menschen animiert, sich auf Perspektivwechsel einzulassen. Kirchen sind eben keine Zweckräume, sondern gebaute Wege, Gleichnisse, die ermutigen, das Vertraute aus anderer Perspektive zu sehen und offen zu werden für Überraschungen.

Tobias Woydack hat in seiner Dissertation besonders herausgearbeitet, dass Kirchen als solche die Erwartung auslösen, dass hier die Perspektive Gottes ins Spiel kommt. Sie sind demnach „institutionalisierte Orte der Gottesbegegnung“, aber nicht – so ist gleich hinzuzufügen – exklusive Orte der Gottesbegegnung. Um so wichtiger sind darum die Gestalt, die Atmosphäre aber auch die Spuren der Gebrauchs- bzw. Nutzungsgeschichte der Kirchen selbst.

Was in früheren Zeiten das in die Baumrinde geschnitzte Herz mit den Initialen der Liebenden in der Nähe einer Bank war, das ist die angezündete Kerze oder der Eintrag in ein Gäste- oder Gebetbuch in Kirchen heute: prägende Orientierungen an Orten möchte sich ausdrücken, Spuren hinterlassen.

Was bisher mehr phänomenologisch beobachtet und erzählend dargeboten wurde, lässt sich wissenschaftlich präziser, aber dann auch abstrakter ausdrücken. Wir verdanken Siegmund Freud die zentrale Einsicht darüber, warum und wie wir neben der „objektiven“, physikalischen Raumvorstellung durch einen anderen höchst „subjektiven“ und variablen Wahrnehmungsmechanismus geprägt sind. Das ist der Mechanismus der Projektion.

Es ist, als ob eine versteckte Filmkamera die Szene die wir gerade wahrnehmen wollen, immer schon in unterschiedliches Licht taucht, das aus den unterschiedlichen Gefühls- und Stimmungslagen im Betrachter selbst aufsteigt, sich also auch ändert und die Szenerie anders wahrnimmt. Es ist hier nicht der Ort, dies im Einzelnen auszuführen. Wichtig ist freilich für unseren Zusammenhang, dass die individuelle Lebensgeschichte und die kollektive Geschichte eines Kirchbaus, einer Zeit im Begegnungsgeschehen in einen Austausch geraten, der vorrational ist, der aber als – oft diffuses – Gefühl präsent wird. Ob wir z.B. auf die gewisse Dunkelheit in vielen Kirchen gedrückt, ängstlich oder erwartungsvoll reagieren, hängt nicht nur von aktuellen Stimmungen ab, sondern ist von lebensgeschichtlichen Erfahrungen geprägt, die uns mitunter nicht mehr aktuell bewusst sind. Geschichte ist eben nie vergangen, abgetan, sondern weiß sich immer wieder zu melden – und das gilt, davon bin ich überzeugt, von beiden „Partnern“ der Begegnung: den Nutzern der Kirche wie der Kirche selbst in ihrem Vorrat an Zeichen, Symbolen, Bildern etc. die sich im Laufe der Zeit und Epochen dort eingefunden haben.

Raumerleben ist demnach eine variable Konstruktion von Räumlichkeit je nach der Qualität der Beziehungen, die im Spiel sind. Die gebaute Kirche als Bauskulptur im öffentlichen Raum hat in diesem Spiel keine reine Statistenrolle: Sie wirkt, widerständig oder animierend, abständig oder auch faszinierend fremd usw. Sie ist also nie neutral. Sie spiegelt, genau bedacht, die virtuell von Architekten und Bauherren aufgegriffenen Traditionen, die erdachten und prognostizierten Hoffnungen, aber auch deren Ängste. Der architektonische Raumkörper Kirche ist also ebenfalls Produkt der Beziehung zwischen Architekt, Bauherrn und den virtuell vorgestellten Nutzern zwischen Tradition und Innovation. Jeder Bau will also als Möglichkeitsraum interpretiert werden, nicht als neutraler Realraum.

Freud lehrt uns erkennen, dass und wie Menschen, also auch Architekten und Bauherren, immer auch sich selbst – ihre Zeit und ihr inneres Lebensgeschick in die Bauaufgabe hineinprojizieren. Das hat viele Menschen zunächst sehr erschreckt. Sehen wir also gar nicht mehr klar? Sind unsere Wünsche und Ängste – Eros und Todestrieb lassen grüßen – die eigentlichen und nie absetzbaren Sonnen- und Schattenbrillen unserer Wahrnehmung? Kurz: Projektion schien etwas Anrüchiges, eher Negatives zu sein. Es waren vor allem Künstler, Dichter, Musiker und ihre ihnen zugeordneten Wissenschaften, die dieses Negativimage der Projektionen wiederum kritisierten und jeden schöpferischen Prozess als Projektionsvorgang verstehen ließen.

Wer z.B. die Musik Schuberts liebt und kennt und sich mit dem Leben dieses Komponisten beschäftigt, weiß, wie sehr diese Musik Projektion und darin verarbeitete und zur Gestalt gekommene Lebens-, Leidens- und Liebesgeschichte ist.

Die Künstlergruppe der Brücke – um eine andere Kunstgattung zu wählen – erkannte sehr schnell, dass der Projektionsmechanismus nicht mechanistisch zu verstehen ist, dass auch der Motor dieser „Maschine“ nicht nur über den Sexual- oder Todestrieb ins Laufen kommt: Kreativität ist zum großen Teil der Fähigkeit zu verdanken, Projektionen und Gegenprojektionen des Inneren im Austausch mit dem Äusseren nicht nur zu produzieren, sondern dem wechselseitigen Projektionsgeschehen eine verobjektivierende Gestalt zu geben, sei es im Bild, in einer Komposition, in der Literatur etc.

Jedes gute Gedicht lebt von Metaphern und von der Mischung unterschiedlicher Perspektiven, die ihrerseits oft auf Projektionen zurückgehen. Ein Gedicht verfremdet und hilft uns, so die behandelten Phänomene – ob aus den Bereichen der Natur, des Geistes, der Gesellschaft – anders, vertieft wahrzunehmen.

Was hat das mit unserem Raumthema zu tun?

Ungeheuer viel: Wir sollten die Vielfalt der inneren und äußeren Raummöblierungen durch Projektionen nicht bejammern, sondern einplanen und konstruktiv gestalten. Wir könnten die religiös christliche Perspektive als konstruktive Projektion ansehen. Wir würden dann die landläufig verabsolutierte zweckrationale Perspektive des Handelns in seiner Fragwürdigkeit erkennen und zu begrenzen versuchen. Wir würden Glauben als Vertrauen in Gottes Nähe als tiefste und schöpferischste Lebensprojektion zur Geltung zu bringen versuchen und von ihr aus das Raumdenken bestimmen.

V. Der Glaube als Lebensprojektion und ihre Resonanz: Die Kirchen

Der christliche Glaube ist in Erinnerung, gegenwärtiger Erfahrung, in der Erwartung des Kommenden – vom eigenen Anspruch aus eine Lebensprojektion. Umkehrt heißt das, die Welt nicht mehr unter der Perspektive der Krankheit zum Tode wahrzunehmen und zu leben, sondern unter der Perspektive der Berufung zum Leben, im Einklang mit dem Grund des Lebens.

Das ist die Perspektive Gottes, des Glaubens, die ihm heilig geworden ist, ein Geistesblitz, der auf Gott als schöpferisches Gegenüber verweist, sowie auf Jesus Christus, als dem aufgedeckten und uns zugewandten Antlitz Gottes. Er ist für den christlichen Glauben Mitte und Angelpunkt der jüdisch-christlichen Tradition. Das Triumphkreuz markierte darum in mittelalterlichen Kathedralen die eigentliche Mitte der Kirche an der Grenze vom Chorraum und der „Halle“ für das „Volk“, also an der Grenze zwischen Klerikerkirche und Laienkirche.

Das Kreuz als Lebensbaum – das ist die Mitte für protestantisches Denken, das durch die Taufe die Trennung in Klerikerkirche und Laienkirche überwand. Die Trennung zwischen heiliger Sphäre und profaner Sphäre ist damit aufgebrochen. Der Vorhang des Tempels ist zerrissen. Aber das Ergebnis ist nicht, nun alles zu profanieren, zu säkularisieren.

Leben selbst wird in der Lebensbaum- und Triumphkreuzmetaphorik als Teilhabe am Leben Gottes selbst interpretiert, das auch in Niederlagen, auch im Tode schöpferisch bleibt. Die neue Logik, die aus der Achtung vor dem Geheimnis des Lebens – der latenten Präsenz des Lebensgrundes in ihm – aufscheint, lautet dann: Geteiltes Leid ist halbes Leid und geteilte Freude ist doppelte Freude. Das ist die neue Arithmetik, die sich auf Gottes Lebensprojektion einlässt. So gewährt Gott als schöpferische Güte und Liebe Lebens-Raum. Darum ist in den Kleinsten Größtes zu finden. Dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Zu unterstreichen aber war und ist:

Gott als schöpferische Lebensprojektion, das lässt sich nicht auf den inneren Menschen allein beziehen. Sie umfasst den äußeren Menschen nicht minder. Mehr noch: die Reduktion der Lebensprojektion auf den Menschen allein ist ebenfalls eine Reduktion. Es geht um die ganze Schöpfung, um den neuen Himmel und die neue Erde. Die dogmatische Formel von der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes, versucht das Geheimnis der Diesseitigkeit des jenseitigen Gottes in Formeln zu erfassen. Aber das Leben bleibt ein Mysterium, ein offenes Geheimnis insofern, als Christen es im Leben und Geschick Jesu Christi ausgelegt finden.

Was bedeutet dies für unser Raumdenken? Raumerfahrung ist eine Funktion der Beziehung, hatten wir gesagt. Gott selbst – so schon die jüdische Tradition – muss dann als Beziehung, als schöpferische Beziehung gedacht und ausgelegt werden. Daraus folgt die notwendige und zugleich metaphorische Rede von der räumlichen Dimension der Gottesbegegnung.

Was das für den physikalischen Raum bedeutet, überlassen wir Herrn Einstein. Der lebendige projizierte Raum ist aber nicht nur eine innere Idee, sondern eben die Veräußerlichung des Inneren – wie umgekehrt die Verinnerlichung des Äußeren, ein Geschehen, in der der räumliche Gott (Tobias Woydack) als schöpferische Beziehung erfahrbar wird.

Hier besteht ein Wechselverhältnis - und das ist die Basis auch für ein theologisches Raumdenken über die Kirche als Raumkörper. Was heißt das?

Resonare heißt wörtlich übersetzt: widerhallen, aber auch: ertönen.

Jedes Musikinstrument ist ein klassischer Resonanzkörper. Gott als schöpferische Lebensprojektion in Raum und Zeit widerhallen lassen, dazu ist die Kirche da. Die Kirche ist ebenso gestaltetes Ohr wie ertönendes Instrument, Widerhall und Stimme.

Das gilt nicht nur für die Stimme Gottes und ihren Widerhall als gebaute Gestalt oder in szenischer Aufführung. Das gilt auch für die, die vor uns waren, die Tradenten, die „Wolke der Zeugen“, die in ihrer Weise dem Widerhall Stimme oder Gestalt verliehen haben, auf deren Spuren wir stoßen, wenn wir uns auf sie einlassen.

Die Kirche – als Prozess wie als Gestalt – ist, idealiter gesehen, ein offenes, unfertiges Kunstwerk, das der schöpferische Lebensprojektion, die wir Gott nennen, ein Echo, einen Widerhall zurückwirft, ein Echo, das aber genau so als je neue Stimme, auch bei Menschen, um Resonanz buhlt. Die Stimme, die sich aus dem heraus entwickelt, ist gleichsam angesteckt von der Lebensprojektion Gott selbst. Sie ist Preis des Lebens und widerspricht darum den Todesmächten in uns und außer uns.

Darum ist die Kirche als Raumkörper selbst ein „lebendiger liturgischer Raum“ (Lennart Berndt), der wie die Lunge als Raumkörper, ein- und ausatmet, Stimmen aufnimmt, Echo sucht im Widerhall erfahrener Lebenskraft – oder auch der Trauer und Sehnsucht nach dem Grund des Lebens im Resonanzraum Kirche Stimme und Gestalt gibt. So kann auch im baulichen Detail („in minimis“) der zu Wort und Hall kommen, der als „maximus“ im Lorcher Bienensegen genannt wird.

Die Raumfülle der Kirche kann ein Symbol sein für das Geschehen, dass Gott uns Raum schafft, Luft zum Atmen, Mut zum Weinen wie zum Lachen schenkt, kurz: das Leben erneuert gegen alle Bedrohungen von innen und außen.

Die Kirche als Resonanzraum hat also ihr Kriterium darin, ob hier Resonanzen gefördert, ermöglicht, oder abgeschnitten werden. Denn Resonanz schafft Lebensmöglichkeiten und verweist auf den Grund des Lebens. Sie reiht sich ein in einen endlich – unendlichen, schöpferischen Kommunikationsprozess, in dem sich die Liebe Gottes spiegelt.

Anmerkungen

* Vortrag, gehalten auf dem Studientag „Theologie des Raumes“ am 24.1.06 im Dorothee-Sölle-Haus Hamburg. Der Charakter der mündlichen Rede wurde beibehalten.

  1. Vgl. H.Schmitz, Räume – Gelebt, gespürt, gedacht, in: F. Brandi-Hinnrichs u.a. (Hg.), Räume riskieren, Reflexion, Gestaltung und Theorie in evangelischer Perspektive, Schenefeld 2003, 25-41.
  2. Jedes Kind - das hat vor allem Piaget nach gewiesen – durchläuft auch die Phase des objekthaften Realismus. Aber davor hat das Kind  mystische, magische und schließlich mythische Phasen im Aufbau der eigenen inneren Welt durchlaufen. Die genauere Beschreibung dieses fließenden Prozesses würde die Theorie der sog. „Übergangsobjekte“ von Winnicott mit berücksichtigen müssen. Hier wird der Prozess der symbolischen Aufladung von Objekten als notwendigem Entwicklungsschritt erkennbar, der auch in späterem Lebensalter sich immer wiederholt und so auch anderen Objekten, wie z.B. den Kirchen, eine hohe symbolische Wirkung einräumt. Der Mensch lebt praktisch immer im (meist nicht bewussten) Mix solcher Wahrnehmungsperspektiven und entsprechender Ausdrucksweisen. Entwicklungsspezifisch gesehen wird darum die objekthaft-realistische Wahrnehmungsphase – meist ausgelöst durch existentielle Erfahrungen von Liebe oder Trauer – durch eine Wahrnehmungsperspektive abgelöst, die man metaphorisch-symbolischen Realismus nennen könnte

© Wolfgang Grünberg 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 42/2006
https://www.theomag.de/42/wog2.htm