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Magazin für Theologie und Ästhetik


Was ist Haltung?

Philosophische Verortung von Gefühlen als kritische Sondierung des Subjektbegriffs

Frauke Annegret Kurbacher

Einführende Vorüberlegungen

Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Annahme, daß eine Frage nach den handlungs- und erkenntniskonstitutierenden Kräften weniger nach der konstituierenden Rolle unserer verschiedenen menschlichen Fähigkeiten - wie dem Denken, Fühlen, Wollen und Wahrnehmen - fragen muß, sondern daß ein Drittes für unseren spezifisch menschlichen Welt- und Selbstzugang zur Untersuchung steht - nämlich ein Konstitutivum von Haltung.

Dabei stellt sich die Frage: 'Was ist Haltung?‘ im Rahmen einer größeren Betrachtung zur Subjektivität, die als kritische Revision der Subjektphilosophie verstanden werden könnte.[1] Diese Frage nach "Haltung" läßt sich jedoch weder leicht beantworten, noch überhaupt philosophisch gut lokalisieren. Körperhaltung wie mentale Einstellung scheinen ebenso in den Wirkungskreis dieses Begriffs und Phänomens zu gehören wie Fragen der Gewohnheit, eines bestimmten kulturellen Gepräges oder eines persönliches Lebensstils. Wie sich auch immer die Spezifizierung und Differenzierung des Begriffs im Einzelnen gestalten mag, - jedwedes philosophische Fragen nach Haltung gehört letztlich, selbst wenn der Begriff überindividuell bestimmt werden sollte,[2] in den Rahmen von Subjektkonzeptionen. Er erscheint nur sinnvoll und aussagekräftig innerhalb einer Philosophie des Subjekts, dessen theoretische Dimensionen, Bestimmungen und Grenzen implizit stets präsent sind, die jedoch in der philosophischen Verwendung von Haltung und der ihr verwandten Termini: hexis und prohairesis im Griechischen, habitus im Lateinischen, attitude im Englischen oder Französischen, oder auch der Begriff der Einstellung, selten explizit reflektiert werden. Auf diese Weise taugt eine Befragung des polyfunktionalen Haltungsbegriffs zugleich zu einer kritischen Überarbeitung der traditionellen Subjektphilosophie, insofern er einen grundlegenden Begriff darstellen könnte, eine philosophische Bestimmung des Subjekts nur in einer Verbindung von mentalen, emotionalen, sensitiven und voluntativen als subjektkonstituierenden Momenten verstehen zu können.

Es geht also im Folgenden daher nicht um die Bestimmung einzelner Gefühle, auch nicht um verschiedene Haltungen oder unterschiedliche geistige Einstellungen im Besonderen, sondern darum, Gefühle als integrative Bestandteile - zusammen mit geistigen, willentlichen und sensitiven - von Haltungen zu verdeutlichen, die selbst wiederum wechselwirkend als Leistung, Vollzug wie Ergebnis und Ausdruck solch einer Vermittlung zu begreifen sind.

Aus diesem philosophische Grundlagen erforschenden Ansatz ist so die Frage nach der Einnahme einer spezifischen Haltung oder Rolle wie beispielsweise im Theater oder auch im psychologisch-soziologischen Verständnis zunächst ausgenommen. Diese Frage bedürfte im Anschluß dieser Ausführung einer eigenen Erörterung.

Forschungskontext und Arbeitshypothesen

Das Phänomen der Haltung hat in Hinsicht auf die interdependenten Vollzüge menschlichen Wirkens bislang eigens keine Beachtung in den zeitgenössischen Theorien der Gefühle und ihren Debatten gefunden. Dies liegt zum Teil gewiß in der spezifischen Struktur und der vermittelnden Funktion dieses Phänomens und auch in der Geschichte des verwandten Begriffes des habitus begründet, der gerade in der philosophisch-christlichen Tradition eher Formen der Selbstbeherrschung gegenüber den passiones beinhaltet, und daher im aktuellen Kontext einer Wertschätzung von Gefühlen zunächst zuwiderzulaufen scheint.[3] - Einzelne Haltungen werden hingegen in zeitgenössischen philosophischen Ansätzen freilich sehr wohl untersucht, ohne jedoch als solche gekennzeichnet zu sein. Sie werden als Gefühl und nicht als Haltung betrachtet. Als besonderes Beispiel nimmt sich hier das Phänomen der 'Liebe‘ aus.[4] Dieses Aufmerken bezüglich des Phänomens Liebe geschieht hierbei durchaus im ethischen Interesse im Hinblick auf die Frage, ob Gefühle Ethiken eine Basis liefern können oder sogar müssen. Daß diese Mutmaßung dem Gefühl der Liebe gegenüber jedoch weitgehend auf dem Umstand basiert, daß es sich dabei in unserem christlich geprägtem Kulturraum um ein Gefühl handelt, das den Status einer Grundhaltung besitzt, wird nicht weiter reflektiert.

Ein Sprechen von einer kognitiven Auffassung der Gefühle und ihrer "sozialen Konstruiertheit" und selbst eine Rede von "physischen Haltungen", die dem hier Entfalteten schon näher kommt, basieren letztlich immer noch auf einer mehr oder minder strengen Dichotomie von Fühlen und Denken, von Körper und Geist, die hier eben mit dem Begriff der Haltung aufgegeben werden soll.[5] Jede Überlegung, die Fühlen und Denken noch als Gegensatz auffaßt, ignoriert die grundsätzliche Gebrochenheit des Menschen, dem letztlich nichts unmittelbar gegeben ist, weder Körper, Gefühl, Denken, etc., sondern der durch diese spezifisch menschliche Fragilität auf alles bezogen ist, beziehungsweise sich auf alles zu beziehen vermag, und sich in einem ethischen Verständnis im Sinne der Selbst- und Fremdverantwortung auch beziehen muß.

Haltungen bilden praktische Formen selbstkonstituierender Reflexivität,[6] die es in ihrer Vielschichtigkeit zu untersuchen gilt, - nicht zuletzt, weil von ihrer Analyse erhofft wird, Dichotomien von Rationalität, Emotionalität, Voluntarität etc. zu überwinden.

Vor allem aber könnte eine Theorie der Haltung dem ethischen Dilemma begegnen, daß es zur plausiblen Verankerung von menschlicher Verantwortung eines stabilen, starken Subjektbegriffs bedarf, während sich eine Subjektstruktur jedoch als Fragiles und Fluides präsentiert.[7]

Insofern handelt es sich bei diesen Überlegungen zur Haltung nicht um Versuche der Eruierung eines Metabegriffs für Gefühle oder Gedanken, sondern eher um Reflexionen im Sinne einer Basisüberlegung zum Sprechen über Subjektivität, der Gefühle konstitutiv inhärent sind, und derer bei einer Reformulierung des Subjektbegriffs als Subjektkonstitutivum gedacht werden muß.

In gewisser Weise, nämlich im Besonderen in der Form des reflektierenden Urteils, ist der hier ebenfalls mit dem Begriff der Haltung thematisierte reflektierende Selbstbezug bereits in der philosophischen Exposition der Urteilskraft präsent.

Doch wenn menschliche Selbstverhältnisse und Weltbezüge durch Urteile der uns dafür zur Verfügung stehenden und sich darin generierenden Urteilskraft vollzogen werden,[8] so sagen Urteile und Urteilskraft zwar schon etwas, doch noch zu wenig über diese grundlegende menschliche Fähigkeit zum 'Sich-Beziehen‘ und den möglichen Weisen solcher Bezüglichkeit aus.[9] Diese Frage bedarf einer eigenen Untersuchung und auch eines eigenen philosophischen Konzepts.

In meinen folgenden Überlegungen geht es also nicht um die Untersuchung einzelner Emotionen oder spezifischer Urteile, sondern eher um die Bestimmung von Verhältnismäßigkeiten. Ich stelle die Frage nach Haltung und werde dabei vor allem versuchen, zu klären, in welchem Verhältnis Haltungen und Urteile und in welcher Relation sich Gefühle und Haltungen zu einander befinden. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer kritischen Sondierung, inwiefern und welcher Subjektbegriff, welcher Begriff des Selbst oder des Individuums hier zum Tragen kommt.

Haltung weist auf ein Phänomen hin, das unter dem Begriff hexis und auch dem der prohairesis ausdrücklich in Aristoteles‘ Denken in verschiedenen Hinsichten aufgegriffen ist.

Die folgende Untersuchung wird sich zunächst der aristotelischen Exposition von hexis zuwenden, bevor aktuelle, kritische Überlegungen und Übertragungen angestellt werden. Der deutsche Terminus Haltung ist für das hier dargelegte Anliegen insofern von besonderer Bedeutung und besonderem Interesse, weil er sowohl für innere wie auch äußere Haltungen und Einstellungen im Sprachgebrauch Verwendung findet. Sein Bedeutungsradius umfaßt selbstverständlich Körperhaltung, moralische Haltung und innere Einstellungen.

Welchen Anteil an dieser Subjektivität konstituierenden grundlegenden Bezüglichkeit aber haben nun Gefühle?! In der Bearbeitung dieser Frage zeigt sich schon bei Aristoteles, daß vom Verhältnis Haltung und Gefühl[10] isoliert nicht zu sprechen ist, und genau aus diesem Umstand ist über die antike Grundlage hinausgehend theoretischer Gewinn für die Frage: "Was ist Haltung?" zu schlagen.

Herkunft

Bei Haltung handelt es sich also offenbar um ein Vielschichtiges und genauso wird der Begriff hexis auch in diversen aristotelischen Schriften unterschiedlich thematisiert.[11] Hexis spielt als besondere Reflexionsfigur implizit an entscheidenden Punkten der Nikomachischen Ethik eine Rolle, und zwar dort, wo es um die eigene Daseinsbestätigung, und damit um den positiven Selbstbezug geht, der z.B. in Fragen der Freundschaft entschieden wird, die letztlich allesamt auf einer Affirmation des Daseins überhaupt beruhen. In der aristotelischen Abgrenzung und Beschreibung des 'Großgesinnten‘ im Vergleich zum 'Kleinmütigen‘ wird dieser Selbstbezug als Prozeß einer gelungenen, d.h. zutreffenden Selbstbeurteilung präzisiert, denn im Gegensatz zum Kleinmütigen weiß der Großmütige sich treffend, angemessen selbst einzuschätzen. Auf diese Weise zeigt sich das Thema der Haltung eng verflochten mit dem der Beurteilung. Hexis und eine sich in Lebenspraxis vollziehende Lebensklugheit scheinen untrennbar auf einander bezogen, - ein Zusammenhang der seinen besonderen Ausdruck noch einmal in Aristoteles‘ Vorstellung der hexis prohairetiké erlangt. Dies kann im vorliegenden Zusammenhang als ein konstitutiver Vorgriff auf das Eigene verstanden werden, und zwar in einer Weise, die die performative, projektierende Seite des Phänomens betont, die sich in diesem Entwerfen und Vorgreifen eben doch auch realisiert.

Haltungen und Urteile

Haltung wird in der antiken Vorlage vor allem in zwei Hinsichten verstanden, als Tätigkeit dessen, der eine Haltung hat, und als Zuständlichkeit. Bei aller Verschiedenartigkeit der hexis-Bestimmungen könnte genau diese Doppelbestimmung als ein Grundzug von Haltung auszumachen sein, die sich als Tätigkeit und als Zuständlichkeit bezieht oder konkretisiert.[12] Wenn dann überdies Aristoteles in der Nikomachischen Ethik aufzeigt, daß Tugenden keine Leidenschaften, sondern Haltungen sind, die Tugend also mithin eine hexis der Wahl ist, muß gefragt werden, wie diese beiden Haltungsaspekte zusammengedacht werden können, was daraus folgt, und was dies wiederum für das Verhältnis zu den Affekten bedeutet.

Die Haltungen des Tugendhaften unterliegen der Tätigkeit der prohairesis, der Selbstbestimmung, Selbstentscheidung, der Selbstwahl. Sie bezeichnen damit einen Bereich, der dem eigenen Zugriff wie der Übung und Schulung untersteht. Der Begriff der Wahl wird als Vorwahl oder Vorentscheidung auch Ausdruck einer spezifischen Haltung zu sich selbst und anderen. Im engeren Zusammenhang der Nikomachischen Ethik bieten hexis und prohairesis Konzepte für die Frage nach dem richtigen Tun, das auch als ein für mich richtiges Tun gedacht wird, als etwas, was für mich in einer bestimmten Situation richtig ist. Deswegen müssen hexeis auch mit dem handeln und umgehen, was situativ und kontingent ist, und sollen gleichwohl auf die Frage nach dem richtigen Handeln eine praktische Antwort geben, die diese kontigenten Lebensprozesse stabilisiert. Das Einüben in diese Auswahl bezeichnet hierbei letztlich kein besonderes Lernprogramm, sondern der gesamte Lebensprozeß wird schon als ein solches Auswählen und Einüben im Auswählen verstanden. Durch wiederholt und vielleicht sogar dauerhaft richtig (im relativen Sinn) vollzogene Tätigkeiten bildet sich für den Tätigen eine Stabilität aus, für die der Begriff der hexis bzw. der Tugend steht. Tugend ist aber letztlich der orientierte, gezielte Umgang mit den Gefühlen.[13]

Haltungen und Gefühle

Nun wäre ein Zweifaches zu überdenken und zusammen zu bringen: In der Analyse des aristotelischen Haltungsbegriffs zeigt sich derselbe auf einer Vielheit gründend: dem Strebevermögen, den zunächst ambivalenten natürlichen Fähigkeiten[14] und den Empfindungen von Lust und Unlust, die aber durch Anleitung der Fähigkeiten des vernünftigen Seelenteils gebildet und geformt werden können, woraus - nicht zu Unrecht - eine gewisse Vorrangstellung des vernünftigen Teils für die aristotelische Konzeption der hexis abgeleitet wird. Wenn zugleich mit Aristoteles aber auch angenommen wird, daß nicht nur jeder spezifische Affekt wie Zorn, Freude etc. von Lust und Unlust begleitet wird, sondern alles Streben, Wollen überhaupt - letztlich jede Handlung -, dann ist weiterhin zu fragen, welchen konstituierenden Anteil diese Empfindungen daran haben.[15] Und insofern die hexis prohairetiké selbst als Wahl und Entscheidung einem solchen Streben angehört, wäre auch sie nicht ohne Lust- oder Unlustempfinden zu denken. - Damit wäre aber auch gleichzeitig genauer zu fragen, wie diese Anleitung der Leidenschaften durch die vernünftigen Fähigkeiten geschieht, worauf sie wiederum basiert. Sie steht in (ursächlichem) Zusammenhang mit der phronesis, unserer auf das Praktische ausgerichteten Klugheit, die sich ihrerseits vor allem in Prozessen des Einschätzens und Beurteilens vollzieht, weswegen sie durchaus anachronistisch gesprochen mit dem Begriff der Urteilskraft bezeichnet werden kann. Einschätzungen derselben liegen aber immer ihrerseits die Gefühle von Lust und Unlust zugrunde, sozusagen als 'basale‘ Unterscheidungen, und daher rät Aristoteles auch so dringend zur Schulung derselben, denn das "Haltungsvermögen ist das Strebevermögen in einer bestimmten Verfassung".[16] So wäre mit und gegen Aristoteles zu fragen, ob dieser Vorrangstellung der vernünftigen Fähigkeiten nicht ein differenzierteres Bild der verschiedenen parallel verlaufenden Einschätzungen, Unterscheidungskräfte weichen müßte?! Diese vier grundlegenden menschlichen Fähigkeiten des Wahrnehmens, Fühlens, Wollens und Denkens weisen Differenzierungen, Unterscheidungen, letztlich Urteile auf, aber das Wollen, Denken, Fühlen, Wahrnehmen geht noch nicht im Urteilen auf. Fühlen, Denken, Wollen, Wahrnehmen ist noch je kein Urteilen, wenngleich im Fühlen, Denken, Wollen, Wahrnehmen differenziert und geurteilt wird. Gefühle, Gedanken, Willens- und Wahrnehmungsakte haben wir nur in einer Spezifität, die Ergebnis einer solchen Differenzierung ist, erschlossen oder -modern, aber problematisch gesprochen - zu Bewußtsein kommen diese verschiedenen Fähigkeiten erst durch den reflexiven Zug am Urteil, d.h. durch die Art und Weise wie sich der Fühlende, Denkende, Handelnde, Wollende zum jeweils Gefühlten, Gedachten, Wahrgenommenem und Gewollten und sich als demjenigen der fühlt, denkt, wahrnimmt, will verhält, bezieht.[17] Dies meint, wie er sich darauf und damit immer auch zugleich auf sich selbst bezieht. - Das heißt, erschlossen werden sie erst dadurch, das und wie sich jemand auf sich zurückbezieht. Ohne diesen Rückbezug wüßten wir von nichts. Ohne Haltung ist nichts zu haben, der Vollzug einer Haltung allerdings auch nicht ohne Denken, Fühlen, Wollen, Wahrnehmen. Haltung bringt jedoch ein eigen-aktives Moment, nämlich das der Handlung und Umsetzung hervor, die diese vier Fähigkeiten erst realisiert. Damit bezeichnet der Reflexionsbegriff hier jedoch weniger ein Theoretisches als vielmehr einen tätigen, praktischen und erlebten Bezug, der konstitutiv auf einen Umgang mit sich und anderen angewiesen ist.

Bezüglichkeit

Die Frage der Haltung als Unterscheidungsfrage - in ihrem Verhältnis zum Beurteilungsvermögen, der phronesis, und als Entscheidungsvermögen aber auch der prohairesis - taucht einmal in Verbindung mit Aristoteles‘ Bestimmung der Tugend als einer Haltung der Wahl auf und zum anderen in der Frage der Selbstkenntnis, die letztlich eine Selbsteinschätzung oder Selbstzuschreibung im Zusammenhang mit der Einschätzung anderer bedeutet.[18]

Die Frage nach der Haltung im Hinblick auf Handlung, von der richtig bemerkt worden ist, daß es keine Haltung ohne Handeln gibt und umgekehrt,[19] führt also einmal zu der Frage, was alles unter Handeln verstanden werden soll. Sie erhält aber vor allem besondere Brisanz vor dem Hintergrund der Frage nach der Handlungsveränderung als einer Frage der Veränderung der eigenen Haltung oder eines eigenen Stils, Denkstils etc.

Brisant ist die Frage deswegen, weil sie zeigt, daß diese Form der Bezüglichkeit - und hier verstehe ich Haltung jetzt in dem Sinn der Relationalität und der Relation selbst -, mitnichten allein auf unsere kognitiven Fähigkeiten bezogen ist. Haltung bezeichnet demnach, daß immer eine Relation vorliegt, ohne die ansonsten nichts zu verstehen wäre. Es gibt nichts ohne Haltung, ohne Bezug. Hexis als diese Bezüglichkeit zeigt, daß auch unsere vernünftigen Fähigkeiten nur unter dieser Maßgabe überhaupt auftauchen, immer schon unter ihr stehen und zu verstehen sind. Auch wenn der Verstand die Affekte leitet, fragt sich, in welcher Weise und Hinsicht er dies tut - kurz, in welcher Haltung er diese Leitung vollzieht?! Damit aber kann nicht mehr leichterdings von einer Leitung der vernünftigen Kräfte gesprochen und ausgegangen werden, wenn sich auch diese nur über eine spezifische Haltung vollzieht, die immer ein komplexes Ineinandergreifen und Ineinanderspiel emotionaler, voluntativer, sensitiver und kognitiver Aspekte ist, das im Modus einer Reflexivität verläuft.

Emotionen gehören zum komplexen Geflecht von Urteilsprozessen gehen aber nicht in ihnen auf. Vielleicht ließe sich auch von einer unterschiedlichen Qualität der Unterscheidungsprozesse sprechen, mit der jedoch keine Hierarchie begründet, sondern nur eine Andersartigkeit der Differenzierungsprozesse konstatiert werden kann. So gehört offenbar zu einer Einheit der Urteile einmal die Beteiligung aller Kräfte, Bezüglichkeit überhaupt, aber erst durch den Urteilsakt als reflektierenden, rückbezüglichen sind Rationalität, Voluntativität, Sensitivität und Emotionalität erschlossen.

So ist eben diese Reflexivität, diese Möglichkeit etwas zurückzubeziehen als Bedingung von allem Fühlen, Denken, Wollen, Wahrnehmen, von dem wir nur durch den Rückbezug wissen, stark zu machen. Diese Art potentiell reflexiver Bezugnahme kann nun als Haltung gefaßt werden.

Nach diesen kritischen Überlegungen im Anschluß an Aristoteles‘ Konzept zur hexis, scheint es sinnvoll, noch einmal erneut eine Beschreibung von Haltung und der sie konstituierenden Momente zu versuchen.

Präsenz

Was uns gegeben ist, ist uns durch und in einer bestimmten Haltung gegeben und dies gilt auch für uns selbst.[20]

Zunächst möchte ich einige erste Arbeitshypothesen nennen:

Ich gehe davon aus, daß Haltungen den Umgang mit etwas thematisieren. Zugleich sind sie dieser sich selbst generierende Umgang, d.h. sie haben eine zuständliche und eine prozessuale Seite, die zusammengedacht werden müssen. Umgang bezeichnet dabei bereits etwas Praktisches. Haltung ist eine Praxis, von der ich annehme, daß sowohl rationale als auch emotionale, aisthetische und voluntative Momente eine Rolle spielen.

Haltung als Umgang verstehe ich als Bezüglichkeit, die ich als grundlegend ansetze und daher besonders untersuchen möchte. - Was heißt nun eigentlich Bezüglichkeit? In diesen ersten Sondierungen werde ich im Versuch einer Behandlung dieser Frage zu einer eigenwilligen Lesart von Reflexivität kommen.

In Bezug auf diese Fragen und meine versuchten vorläufigen Antworten zur Haltung gehe ich von einigen wichtigen Grundvoraussetzungen aus, die ich an dieser Stelle benennen und klären möchte.

Diese Grundvoraussetzungen für meine Gedanken und Annahmen zur Haltung, aus denen heraus ich zugleich die Relevanz einer philosophischen Behandlung von Haltung aufzeigen möchte, sind Endlichkeit und Kontingenz unserer Existenz, d.h. uns gibt es nur in Raum und Zeit konkretisiert, und diese Konkretion umfaßt einmal alle kontingenten Situationen, biographische wie historische, geographische Umstände, wie auch unsere je spezifische Leiblichkeit. Wir sind in Endlichkeit, die durch unsere Leiblichkeit verbürgt wird, konkretisiert. Leiblichkeit ist demnach also nichts, was unserem Dasein oder unserer Existenz hinzukäme, sondern wir sind diese nur in Leiblichkeit Existierenden, d.h. ich bin schon immer - wie alle anderen auch (mit mir, vor mir, nach mir) in spezifischer Weise da. Ich möchte nicht sagen im Dasein, weil es wieder so klingt, also sei ich in etwas anderes eingelassen, hineingestellt, aber von diesem Dasein, weiß ich überhaupt nur, indem ich irgendwo bin (stehe, sitze, liege, gehe, springe, mich bewege in Raum und Zeit) - sozusagen unablösbar davon bin. Dasein heißt demnach auch, in spezifischer Weise mit anderen in spezifischer Weise da zu sein.

Damit aber stellt sich die Frage, wenn ich nur in bestimmter Weise existiere und da bin, wie bin ich da, in dieser mit anderen geteilten Welt?! - Und schon hier greift ein besonderer Umstand, der Gegebenes als ambivalent ausweist. Das Verhältnis von Gegebenem, Gewordenem und meiner spezifischen Konkretion hat einmal einen Widerfahrnis-Charakter, der aber zugleich der Ermöglichungsgrund meiner Spezifität ist.

Selbstverhältnis und Haltung

'Ich‘ als dieses immerzu Konkretisierte 'Wie‘ ist dabei durch zweierlei gekennzeichnet: durch Vollzug, Performativität, Bewegung, Tätigsein, Entwicklung, - denn ich bin der Vollzug dieses 'Wie‘, dieses Spezifischen. Dieser Vollzug findet aber nur in einer Welt, einem Dasein statt, das von anderen in eben solchen spezifischen Weisen ergriffen wird, vor deren Hintergrund meine Eigenheit eben erst mehr oder minder deutlich werden kann. Allem, was sich vollzieht, werde ich insofern auch nur durch ein spezifisches 'Wie‘ gewahr, oder anders gesagt: alles, was ist (von dem ich weiß, ein Bewußtsein, ein Gewahrsein habe), ist für mich dadurch, daß ich damit umgehe, - d.h. aber auch: mir ist nichts unmittelbar. Meine Existenz ist mir nicht unmittelbar, sondern nur durch meinen Umgang damit ist es, realisiert sich meine Existenz. Ich werde meines Daseins also auch nur durch ein spezifisches 'Wie‘ gewahr. Und hier greift die andere wichtige Voraussetzung, die traditionell, als Selbstbezugnahme aufgrund einer immer gegebenen Selbstdistanz gesetzt wurde, und dafür mag hier exemplarisch ein mit Blick auf Kant formulierter Satz stehen, der Mensch sei "als einziges Wesen auf der Welt, [daß] ich zu sich sagen" kann.[21] Damit aber, abgeleitet oder entwickelt aus den Gedanken unserer kontingenten Konkretion zeigt sich unser immerzu spezifisches Dasein grundlegend als Bezogensein, Bezogenheit, Bezüglichkeit, es ist ein sich zwischen Selbst- und Weltbezug Vollziehendes. D.h. auch ich bin immer in spezifischer Weise auf etwas oder jemanden oder mich selbst bezogen. Ich könnte noch schärfer formulieren, ich bin dieser jeweilige spezifische und tätige Bezug. Die Vorstellung des Beziehens impliziert aber auch zugleich die des Sich-Entziehens, denn in einem spezifischem Bezug kann die jeweilige Eigenheit nur dadurch kenntlich werden, daß anderes ausgelassen und darin ausgespart, nicht gesehen oder sogar vermieden ist, mehr oder minder willentlich.

Wir sind unser Lebensvollzug, der in diesem Vollziehen immer in zwei Richtungen ausgespannt ist und bleibt: das ist einmal der Rückbezug auf das eigene Dasein und es ist zum anderen der Bezug auf etwas anderes, auf Welt. Alles, was ist, ist mir in spezifischer Weise gegebenen und entzieht sich mir in ebenso spezifischer Weise, und entzieht sich so auch einer vollständigen Verfügbarkeit. Genau darin liegen aber auch immer partielle Möglichkeiten für meine Existenz. Ich nehme damit auch im Gegensatz zu einer geläufigeren Meinung einer Verfügbarkeit der Gedanken und einer Unverfügbarkeit von Gefühlen an, daß dieser Umstand keiner menschlichen Kraft exklusiv zukommt, sondern vielmehr, daß beide Momente, das des Verfügten, Gegebenen, und das des Unverfügtem im Gegebenen diesem Prozeß des Beziehens selbst eigen sind.

Wie gesagt, gewahr bin ich auch meiner selbst nur durch einen bestimmten Umgang mit mir, der sich meistens im Umgang mit Anderem und Anderen zeigt. Wichtig ist mir hier jedoch, daß diese Annahmen eine gewisse Absage an so etwas wie Selbstevidenz oder Unmittelbarkeit bedeuten. Und dies gilt für alles, von dem ich meinen könnte, daß es ganz unbedingt zu mir in meinem Dasein gehört wie: Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Wollen. Von all dem könnte ich sagen, daß es irgendwie auftaucht oder vorkommt, aber nur durch das spezifische 'Wie‘ meines Damit-Umgehens mir selbst oder auch anderen erschlossen ist.

Mit diesem Vorlauf habe ich hoffentlich deutlich machen können, daß wir grundlegend als bezügliche Wesen verstanden werden können bzw., daß dies Grundvoraussetzung unserer Möglichkeit zum Selbstverständnis ist, und daß es daher sinnvoll erscheint, diese Weisen, Möglichkeiten und Grenzen von Bezüglichkeiten philosophisch gesondert in den Blick zu nehmen. Und genau dies thematisiert eine Theorie der Haltung. In Haltungen sind Selbstverhältnisse und Weltbezüge von Menschen kristallisiert bzw. immer auch konkretisiert. Es gilt: Was uns gegeben ist, ist uns durch und in einer bestimmten Haltung gegeben und dies gilt auch für uns selbst: - 'Wir sind unsere Haltungen‘.[22]

Struktur von Haltung

Wenn wir zuerst von einer einfachen, dreigliedrigen Strukturierung ausgehen, ließen sich zunächst derjenige, der eine Haltung hat bzw. vollzieht (Haltungssubjekt), von dem, worauf sich der Haltung-Habende bezieht (Haltungsobjekt) unterscheiden, und als Drittes käme der Vollzug der Haltung selbst hinzu (Haltungsakt/Haltungshandlung). Insofern sich über jeden Haltungsvollzug die Haltung desjenigen, der sie ausübt, zeigt und konkretisiert, ließe sich sagen, daß jeder Haltungsvollzug auch Auskunft über den Tätigen gibt. Mit der eingänglichen Überlegung, daß wir grundlegend über unsere immerzu gegebene Möglichkeit des Selbstbezugs, der Selbstbezugnahme gekennzeichnet, oder ausgezeichnet sind, ließe sich weiterhin von hier aus spezifizieren, daß diese Selbstbezugnahmen als Selbstzuschreibungen Deutlichkeit gewinnen. Ich bin als Mensch prinzipiell ein Wesen, das grundsätzlich (d.h. nicht unbedingt immerzu, jederzeit, aber grundsätzlich) zu einer Selbstzuschreibung fähig ist, d.h. mir selbst eben ein, nämlich mein eigenes Selbst zuzuschreiben, mich verantwortlich, mich als Urheber meiner Bezugnahmen zu bestimmen, mich als Subjekt, als Autor eines Vollzugs zu bestimmen, und auch wiederum dies in einer bestimmten Weise zu tun, durch eine spezifizierende Zuweisung. Hier verknüpft sich das Thema der Haltung mit dem des Urteilens, allerdings bezogen auf eine Theorie der Urteilskraft und damit anders als auf einer Aussagenlogik basierend, die sich in der Regel letztlich lediglich auf die kognitiven, Verstandes- und Vernunftkonzepte stützt. Ein Urteilsverständnis, daß aus einer Urteilskraft entwickelt wird, ist demgegenüber aber wesentlich verschieden. Der Begriff Urteilskraft wird im deutschen Sprachraum innerhalb der deutschen Frühaufklärung etabliert, und bezeichnet mit Rückgriff auf aristotelische Vorstellungen der phronesis, eine Kraft, die Praxis und Theorie, rationale und emotionale Kräfte vermittelt. Urteilskraft spielt die entscheidende Rolle in dem frühaufklärerischen Konzept eines programmatischen Selbstdenkens, das mit dem Bedenken der eigenen Person in der kontingenten Konkretion ihrer jeweiligen Lebensumstände anhebt und letztlich auf eine flexible, veränderte, verbesserte Lebenspraxis der eigenen Person in Gemeinschaft zielt. Urteile sind so etwas wie ein Vollzugsmodus von Haltungen, und Denken, Fühlen, Wollen und Wahrnehmen sind so etwas wie die Präsenzformen von Haltungen.

Solche urteilenden Selbstzuschreibungen sind damit letztlich aus dem Lebensvollzug vorgenommene Selbsteinschätzungen, die Aussagen darüber machen, wie ich mich selbst in einer bestimmten Situation, Gesellschaft etc. begreife. In diese Selbsteinschätzungen gehen ohnehin wechselwirkende Selbst- und Fremdeinschätzungen ein, aber auch die eigene Disponiertheit, d.h. für den frühaufklärerischen Kontext: die Art des Naturells, mein Geschlecht, meine Kultur, aber auch die Tradierung, die historische und kulturelle Formung dieser Aspekte. Urteile respektive Selbsteinschätzungen sind damit Reflex auf mein auch körperlich-leiblich konstituiertes, spezifisches So-Sein. Diese Selbstbezüge als Selbsteinschätzungen sind in der Tat in ihrem Wie schon Ausdruck von spezifischen Arten und Weisen (Modalitäten), aber letztlich setzen sie auch persönliche Wertigkeiten, die immer auch Reflex auf bestehende Wertigkeiten sind. In Haltungen generiert sich so etwas wie Persönlichkeit und Individualität. Zu solchem tätigen Selbstvollzug gehört immer auch ein Empfinden von Lust und Unlust oder besser: es geschieht in einem solchen Empfinden.[23] Es ist leicht vorstellbar, wie ein lustvoller Lebensvollzug das Lebensgefühl steigern kann.

Ich beziehe mich und ich vollziehe mich selbst in diesen Weisen in einer Welt mit anderen, immerzu. D.h. einmal, ich kann mich nicht nicht beziehen (dafür müßte ich endgültig aufhören zu atmen), und ich tue es, ganz gleich, ob ich etwas im engeren Wortsinn verstanden, begriffen habe oder ganz gleich, ob ich etwas überschaue oder nicht.[24] Dabei gehe ich ohnehin davon aus, daß wir aufgrund unserer Beschränktheit und Endlichkeit nichts je vollständig überschauen, aber uns gleichwohl halten und verhalten. Wenn ich auf diese Weise schon immer mein haltungsvoller Selbstvollzug bin, warum kann es denn gleichsam so schwierig sein, ich selbst zu sein, bzw. immer zu werden?! In mir selbst ist jederzeit diese Spannung auszutarieren bzw. damit umzugehen, daß ich mich sowohl als Zustand wie als Prozeß begreifen kann, was je nach Situation bestätigend oder beruhigend, aber auch verstörend wirken kann. Ich muß in mir selbst und mit und vor anderen damit umgehen, daß ich nicht mehr, jetzt präsent und noch nicht bin. Gleichwohl vermute ich, daß es weitere Gründe für diese Problematik des Selbstseins und -werdens gibt, für die ich jedoch noch keine besonderen Intuitionen habe. Zunächst möchte ich an weiteren Strukturanalysen von Haltung zeigen, wie und wo dieses Phänomen komplex wird, und wo sich Schwierigkeiten und Chancen ergeben könnten.

Habe ich bis jetzt Haltung vor allem als Bewegliches, als Vollzug aufgegriffen und damit auch versucht, dem Fluiden, immerzu in Bewegung befindlichem Selbst Rechnung zu tragen, ließe sich aber auch konstatieren, daß gerade durch eine Reflexion auf Haltung auch das stabilisierende Moment für unsere Existenz daran aufscheinen kann. Es handelt sich dann z.B. um durch Wiederholung ausgeprägte Haltungen, deren Art und Weise Auskunft über meine Persönlichkeit geben.

Typologie von Haltung

Und noch einmal stelle ich die Frage, was ‘Haltung’ überhaupt ist und versuche im Folgenden eine kleine Typologie. Mit Haltung bezeichne ich offenbar so etwas wie eine innere Einstellung, die auf einer eigenen Überzeugung beruht. Insofern ist Haltung durchaus etwas Intrinsisches, Theoretisches. Diese Einstellung kann sich auf Punktuelles beziehen, insofern kann sie situativ sein, und insofern meine Einstellung situativ variiert, kann ich auch mehrere Haltungen haben, in ein und derselben Situation, bezüglich verschiedener Aspekte einer Situation oder auch in zeitlich nacheinander folgenden Situationen. Mit Haltung bezeichne ich allerdings auch mehr als eine variable innere Einstellung; ich könnte zunächst einmal präzisieren, daß es sich um eine Einstellung handelt, die zumeist mein praktisches Verhalten in konkreten Situationen betrifft. Haltung ist damit auf Praxis bezogen und kann zum Gegenstand einer praktischen Theorie werden. Mit Haltung wird zumeist eine innere Einstellung bezeichnet, insofern sie sich nach außen trägt bzw. zeigt, eine Einstellung, von der ich weiß, daß es sie gibt, die ich merke, weil sie an meiner Art, mich zu geben, mich zu verhalten, auch unter anderem an meiner Körperhaltung ablesbar ist. Insofern ist Haltung etwas Praktisches. Haltung ist nach dem bisher Gesagten schon immer die gelungene - einfach, weil sie vollzogen wird - Vermittlung von Theorie und Praxis. Nun kann aber Haltung offenbar mehrfach unterteilt werden; einmal nach einem Vorverständnis, einer ‘Vorbefindlichkeit’, d.h. ich befinde mich immer schon in einer Lage, einer inneren Situation, die ein Zusammenspiel aus einer Situation und einer Art Grundbefindlichkeit ist. Und sie kann nach Dispositionen, Charakter, Temperament, Geschlecht etc. unterteilt werden, von denen ich durch meine wertende Selbstbezugnahme weiß. Darum sind sie ihrerseits wiederum kulturell kodiert, von Tradition und Erziehung geprägt und von einer situativen, emotionalen Befindlichkeit, in der mein aktualer Affekt auftritt.

Mir können aber auch durch lange Gewohnheit situative Haltungen zur zweiten Natur, zur zweiten Haut geworden sein; Kant spricht von "habitueller Disposition" oder "habituellem Interesse".[25] Dieser Begriff, von der aus dem Lebensvollzug gewonnenen bzw. irgendwie gearteten Disponiertheit, wäre vielleicht noch einmal zu trennen von einer gewünschten Haltung, und der Haltung, die sich dann tatsächlich im Vollzug erweist; es könnte von einer dreifachen Brechung gesprochen werden. Dieser bislang vorgestellte Begriff von Haltung wäre also noch einmal zu unterscheiden von einem Begriff von Haltung im Sinne von ‘Haltung einnehmen’, eine Haltung ergreifen, eine wählen, eine Haltung bewahren, - als etwas, zu dem ich mich relativ bewußt entscheide, neu oder wieder. Haltung ist besonders in diesem Sinn Ausdruck eines (spezifischen) Selbstverhältnisses wie eines Verhältnisses zu anderen. Es läßt sich aber auch als spezifisches Selbstverständnis begreifen, das aus dem eigenen Lebensvollzug, der eigenen wie der Sicht der anderen generiert ist.

Für die Frage des Bewußtseins, letztlich aber vor allem für die Frage nach der eigenen Existenz, bedarf es der Annahme eines Vermittelnden, - für die Frage nach dem eigenen Selbst, einem Ich, nach der eigenen Existenz als einem Mehr, als einem Bündel von Fähigkeiten, bedarf es der Vorstellung und Annahme eines Vermittelndem.[26]

Ich nehme an, daß in der beziehenden Bewegung von Haltung Reflexion, also der Akt des Sich-Zurückbeziehens kein rein kognitiv zu fassender Vorgang ist, - und ich nehme auch an, daß Reflexion das Kennzeichen von einem Beziehen, von Bezüglichkeit überhaupt ist. D.h. ich unterscheide an diesem Punkt der Beschreibung keine intentionalen oder reflexiven Beziehungen, sondern meine, daß beide Momente dem Bezug schon immer angehören. Ich beziehe mich, das heißt, ich richte mich, richte mich auf etwas aus, orientiere mich auf etwas hin, - in dieser Bewegung ist aber Ausrichtung und Richtung, Tendenz, Handlung und Ausführung nur möglich, wenn ich mir dabei mehr oder minder als involvierter Teil zumindest dieses Geschehens bewußt bin. Das heißt, der Akt des Sich-Beziehens reflektiert mich schon und den Bezug auch selbst in seiner Umsetzung. Lust selbst ist z.B. so ein Akt des sich Beziehens, in dem ich mir als derjenige oder diejenige, der oder die Lust empfindet, auch bewußt werde. Lust ist Bewußtsein von Lust, ist immer reflektierte Lust. - Damit ist eigentlich die Formulierung von begleitenden Empfindungen, die Vorstellung des 'Begleitens‘ irreführend, denn Bezug ist wohl immer dieses ganze komplex Ineinandergefügte. Dem Begleiten haftet noch immer dieser wenig produktive Gedanke der Gefühls-Ergänzung an. Gefühle ergänzen nichts und umgekehrt, auch das Ich begleitet meine Vorstellungen nicht. Bezug, der so immer Selbstbezug ist, ist in seiner komplexen Vielfältigkeit dem Geschehen konstitutiv, ist dieses Geschehen.

Haltungen perspektivieren uns selbst als relationale Wesen, denen Selbst- wie Außenbezüge möglich und offenbar auch konstitutiv sind. Damit ist eine ganz praktische Form selbstkonstituierender Reflexivität umschrieben und damit bezeichnet der Reflexionsbegriff hier jedoch weniger ein Theoretisches als vielmehr einen tätigen, praktischen und erlebten Bezug, der konstitutiv auf einen Umgang mit sich und anderen angewiesen ist.[27]

Insofern in dem Vollzug, dem Vollziehen einer Haltung (eine Beziehung) z.B. ein spezifisches Gefühl mich meine eigene Person fühlen läßt, ist diese Art der Reflexion mitnichten als bloß Rationales aufzufassen.

Vor dem Hintergrund, daß Haltungen nicht etwas sind, was uns zusätzlich zukommt, sondern, was wir sind, indem wir sie umsetzen, vor diesem Hintergrund fragt sich, was sich in Haltungsprozessen generiert? In Haltungen als einem Beziehen, das als dieses Beziehen als Positivum angesehen werden kann, erweist sich demnach so etwas wie Daseinsbestätigung, eigene und die von anderen. Es ist ein Bezug auf unser je konkretes, prinzipiell veränderliches und doch eben "So (und gerade nicht anders) - Sein".

Anmerkungen
  1. Diesem Aufsatz sind drei Arbeiten vorangegangen: einmal ein für eine internationale Tagung in Dubrovnik 2004 eingereichter Beitrag: "Überlegungen zum Verhältnis von Haltung und Gefühl im Anschluß an Aristoteles", dem dann tatsächlich gehaltenen Vortrag "Was ist Haltung?" und eine Verschriftlichung desselben für eine Präsentation im Kolloquium von Hilge Landweer an der Freien Universität Berlin.
  2. Exemplarisch für die überindividuelle Bestimmung des Haltungsbegriffs kann Pierre Bourdieus Verwendung des Begriffs des 'habitus' gelten. Auch Martin Heideggers Begriff der "Stimmung" oder Herrmann Schmitz Begriff der "Atmosphäre" könnten hier angeführt werden. Eine Auseinandersetzung dieser Bestimmungen mit dem hier dargelegten Haltungsbegriff würde den hier gesetzten Rahmen jedoch sprengen.
  3. Zum Begriff des 'habitus' siehe Peter Nickl: Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus. 2. Aufl. Hamburg 2005 (2001).
  4. Es ist in jüngster Zeit vor allem von Martha C. Nussbaum, Paul Ricœur, Angelika Krebs und Harry G. Frankfurt behandelt worden. S. Martha C. Nussbaum: Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge. Drei philosophische Aufsätze. Stuttgart 2002 (Amerik.: Dies.: Sex and Social Justice. New York 1999.). [Künftig zitiert: Nussbaum: Konstruktion.] Paul Ricœur: Liebe und Gerechtigkeit. Tübingen 1990. (Frz.: Ders.: Amour et Justice. Paris 1989.) Angelika Krebs: Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit. Frankf. a. M. 2002. Harry G. Frankfurt: Gründe der Liebe. Frankf. a. M. 2005. (Amerik.: Ders.: The Reasons of Love. Princeton 2004.)
  5. Vgl. hierzu Nussbaum: Konstruktion. S. 171. Und: Amélie Oksenberg Rorty: Die Historizität psychischer Haltungen. In: Analytische Philosophie der Liebe. Hrsg. v. Dieter Thomä. Paderborn 2000. S. 175-193. Aber auch Eva-Maria Engelen: Erkenntnis und Liebe. Zur fundierenden Rolle des Gefühls bei den Leistungen der Vernunft. Göttingen 2003. Die beiden letztgenannten Beiträge sind systematisch wie philosophiehistorisch orientiert. Engelen stellt ihre Untersuchungen in fruchtbarer Weise ebenso - wie im hier vorliegenden Versuch - in einen subjektphilosophischen Kontext und mit Oksenberg-Rorty teile ich die Annahme, daß Haltungen und die Träger von Haltungen in Wechselwirkung individuiert werden.
  6. Wenn Christoph Menke in seinen Überlegungen zur Gleichheit herausstellt, daß ein Individuum verstehen heißt, seine spezifische Art der Bezüglichkeit zu verstehen, und wenn Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu bedenken gibt, daß es nicht darauf ankomme, wer und was wir sind, sondern darauf, was wir aus uns zu machen bereit sind, - scheint uns dies in zwei verschiedenen Weisen als relationale Wesen zu perspektivieren, denen Selbst- wie Außenbezüge möglich und offenbar auch konstitutiv sind. (Unter Außenbezügen verstehe ich Bezüge, die sich nicht sofort auf uns zurückbeziehen, bzw. die wir selbst nicht sogleich auf uns zurückbeziehen.) Vgl. auch: "Ein Individuum zu verstehen heißt vielmehr, seine perspektivisch gerichtete Weise der Selbstbezüglichkeit zu verstehen. Individuen sind bestimmt durch die Weisen, in denen sie sich in ihren Lebensvollzügen ineins selbst erschließen und selbst verstellen, in denen sie sich für sich selbst ent- und verbergen." Daraus zieht Menke den plausiblen Schluß, der diese Selbstbezüglichkeit in enge Verbindung mit der Urteilsfähigkeit setzt: "Individuen sind ihr Verhältnis der Selbsterschließung- und verstellung. Das ist es, was wir zu erfassen versuchen, wenn wir Individuen zu verstehen versuchen: nicht was sie an sich, sondern wie sie für sich selbst sind. Also welche Bestimmung und Bedeutung sie den Elementen (und manchmal auch dem Ganzen) ihres Lebens geben. Und zwar aus der Perspektive des Vollzugs dieses Lebens selbst. Dabei ist in praktischen Kontexten, in Kontexten des Beurteilens, Entscheidens und Handelns, vor allem wichtig, welche Relevanz, das heißt, welchen Wert Individuen den Elementen ihres Lebens beimessen. Der Selbstbezug von Individuen ist nicht nur verstehend, sondern bewertend." Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. Berlin 2000. S. 23. Und: Kant: Akad.-Ausg. Bd. 7. 1. Abt.: Werke. S. 285.
  7. Gerade durch die konstatierte Beweglichkeit und Zerbrechlichkeit von Subjektivität ergibt sich -auch aus Perspektive der Tradition - eine Verbindung zur Thematik des Fühlens und der Gefühle. Hier versuche ich jedoch, die Brüchigkeit von Subjektivität vielmehr aus der Vorstellung von Reflexivität zu entwickeln. Demnach liegt eine Fragilität des Subjekts einfach darin begründet, daß wir uns nicht selbstevident sind, sondern ein Wissen, eine Kenntnis von uns nur dadurch haben, daß wir uns auf uns beziehen können und dies auch tun. Menschliches Gebrochensein drückt sich genau in diesem Umstand aus und ist philosophiehistorisch betrachtet verschiedentlich thematisiert worden, ob in Kants Überlegungen zur partiell möglichen, aber als vollständiger prinzipiell unmöglichen Selbsttransparenz, in Martin Bubers Gedanken von Urdistanz und Beziehung, Helmuth Plessners Bestimmung des Menschen als reflexivem Wesen oder selbst auch in Julia Kristevas Gedanken zur eigenen Fremdheit in "Étrangers à nous-mêmes". Damit ist Selbstdistanz auch in einer Weise bezeichnet, die sie zugleich überhaupt erst als Möglichkeit jedweder Nähe und Verbindung aufscheinen läßt. Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankf. a. M. 1990. (Frz.: Paris 1988.)
  8. Diesen Zusammenhang habe ich versucht, in meiner Dissertation zu "Selbstverhältnis und Weltbezug - Urteilskraft in existenz-hermeneutischer Perspektive" zu erhellen, Hildesheim/Zürich/New York 2005. Die folgenden Ausführungen basieren auf Ergebnissen derselben und meinem bisherigen Forschungsstand zum Habilitationsprojekt: "Eine Theorie der Haltung - Studie zu einer kritischen Revision der Subjektphilosophie".
  9. Somit wäre die Urteilskraft-Diskussion selbst in einem größeren Rahmen als eine Frage auf eine grundlegende Theorie von Haltung zu beziehen.
  10. Die Problematik beginnt bereits damit, daß natürlich im aristotelischen Kontext letztlich nicht mit unserem modernen Begriff 'Gefühl‘ zu operieren ist, sondern mit den Begriffen: Affekt, Leidenschaften, Begierden liegen in der Tat auch andere Konzepte mit jeweils anderen begriffsgeschichtlichen Traditionen vor.
  11. S. Aristoteles: Physik. Buch VII, Kapitel 3, 246 a 10ff, bes. b 3ff. In der Kategorien-Schrift wird Haltung als eine der vier Arten der Qualität neben dynamis physiké, pathé, schema, morphé gezählt. Vgl. die wichtigen Stellen aus Aristoteles‘ Metaphysik. Buch V, Kapitel 20, 1019a, 26-33, 1022b, 4-14 und auch das 23. Kapitel.
  12. Vgl. auch Ralf Elm: Erfahrung und Klugheit bei Aristoteles. Paderborn 1996. S. 129. [Künftig zitiert: Elm: Klugheit.]
  13. Bei Aristoteles wird die Gewöhnung als Eingewöhnung und Einübung durchaus positiv verstanden, während Bourdieu z.B. den Begriff der attitude zugunsten des lateinischen habitus fallen läßt, weil der französische Begriff zu stark mit der Bestimmung von Gewohnheit belegt sei.
  14. Als ambivalent sind sie zu bezeichnen, weil sie zum Besseren oder Schlechteren gewöhnt werden können und nicht von vorneherein geprägt sind. S. auch Pierre Bourdieu/Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main 1996. Kapitel: Habitus, illusio und Rationalität. S. 147ff.
  15. Hier scheint eine Verbindung von den Gefühlen zur Frage der Verantwortung auf. Im Zusammenhang der Nikomachischen Ethik wird anhand der Haltungsfrage vor allem die des Ethos, des richtigen Handelns gestellt, die nicht zuletzt eine Frage des richtigen, rechten Maßes ist und zwar in Bezug und im Umgang mit den verschiedenen Leidenschaften, die immer auf Empfindungen der Lust oder Unlust basieren.
  16. Elm: Klugheit. S. 130.
  17. So gesehen bildet Haltung die Präsenzform dieser vier Fähigkeiten, Haltung ist das, worin Wollen, Fühlen, Denken, Empfinden präsent ist.
  18. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Buch II, Kap. 6. Hier gibt die aristotelische Konzeption eine Theorie der Angemessenheit als Richtlinie für diese Einschätzungen vor. Die Lehre des richtigen Maßes, die mesotes-Lehre, ist dabei durchaus als situatives und individuelles Optimum zu denken.
  19. Elm: Klugheit. S. 129f.
  20. Daher wird auch zu Recht davon gesprochen, daß wir Haltung sind, um darauf hinzuweisen, daß es nicht noch etwas ist, was hinzukommt.
  21. S. Helmuth Plessner: Das Problem der Unmenschlichkeit (1967). In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Günter Dux, Odo Marquardt und Elisabeth Ströker. Bd. 8: Conditio humana. Werke. Frankf. a. M. 1983. S. 329-337. Hier: S. 330.
  22. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt nach anderen Überlegungen auch Pirmin Stekeler-Weithofer Vgl. sein bislang noch unveröffentlichtes Manuskript: "Vom Einzelnen zur Praxisform. Die 'Psyche‘ und der Dunstkreis gemeinsamen Lebens", dem ein öffentlicher Vortrag im Februar 2004 in Hannover vorausging. S. 3. Für die freundliche Zurverfügungstellung desselben sei ihm hier herzlich gedankt.
  23. Es wäre zu diskutieren, ob es vielleicht auch die Absenz von beidem gibt, ich nehme es nicht an, denn das wäre immer auch je eher Lust oder Unlust. Gewiß mag es zuweilen das gemischte Unlust-Lustgefühl geben. Beide Empfindungen sind schulbar nach Aristoteles. Lustlosigkeit ist als Abwesenheit von Lust zumeist Unlust, seltener wird - z.B. in religiösen oder ästhetischen Zusammenhängen - wirklich eine möglichst vollständige Absenz beider Zustände angestrebt.
  24. An dieser Stelle ist verstärkt darauf hinzuweisen, daß es neben der grundsätzlichen Struktur der Bezüglichkeit auch die emphatischere Möglichkeit der Entscheidung und bewußten Wahl als besondere Form der Bezugnahme gibt, während ich hier jedoch vornehmlich Haltung in einem weiten Verständnis eines 'Sich-Beziehens‘ untersuche und darin inbegriffene schwächere Formen der Prägung und Entscheidung.
  25. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. B 166/A 164.
  26. Bemerkenswerterweise beschreibt Volker Gerhardt in seinen Überlegungen zur Möglichkeit eines "Rückzug[s] auf sich selbst" diese besondere menschliche Leistung als "Öffnung der organischen Binnenperspektive für andere Wesen". Die Möglichkeit des Rückbezugs schaffe so gerade etwas, von dem vermutet wird, das es ihr diametral entgegenstünde, nämlich: "Öffentlichkeit". Gerhardts Ansatz wählt jedoch anders als in dem hier vorliegenden Versuch den Begriff des 'Selbstbewußtseins‘ als Ausgangspunkt für seine Gedanken zur Reflexivität. Vgl. Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. (6. Kapitel: Spontaneität und Individualität). Stuttgart 1999. S. 210.
  27. Auch dieses Denken hier hat sich nur im Zusammenhang mit anderen entwickeln können, und ich möchte an dieser Stelle Heinrich Hüni und Karin Wendt für angeregte und anregende Bezugnahmen herzlich danken.

© Frauke Annegret Kurbacher 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 43/2006
https://www.theomag.de/43/fk6.htm