Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Was tun mit einer leeren Kirche?

Horst Schwebel

Hinweis: Dieser Text ist jetzt auch in gedruckter Form im Rahmen einer Geschichtensammlung erhältlich:
Horst Schwebel, Der Durchstreicher, Marburg 2012
I.

Diesen Brief wollte Pfarrer Eberlein seinem Kirchenvorstand gar nicht erst zeigen. Noch immer hatte er gehofft, der Kelch würde an ihnen vorüber gehen und sie könnten ihre Kirche doch noch behalten. Aber in diesem Brief stand, dass sie die Johanneskirche bis zum Ende des Jahres endgültig aufgeben müssten. Das diesjährige Weihnachten wäre an diesem Ort ihr letztes. Danach käme es zu einer Fusion mit der Nachbarkirche. So würden denn aus zwei Gemeinden eine werden mit der Konsequenz, dass die Johanneskirche in Zukunft überflüssig wäre.

Nachdem Pfarrer Eberlein den Brief verlesen hatte, brach bei den Mitgliedern des Kirchenvorstands eine mittlere Entrüstung aus. Warum sollte ausgerechnet ihre Kirche, die Johanneskirche, aufgegeben werden und nicht die Nachbarkirche? Die Nachbarkirche war im Stil der Neugotik gebaut, die Johanneskirche war ein Bauwerk aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wurde dabei viel Beton verbaut, außerdem hatte sie einen freistehenden Turm und abstrakte Glasfenster. Dass die Zahl der Mitglieder von Jahr zu Jahr kleiner wurde, war nicht wegzudiskutieren. In diesem Stadtteil konnte man keine zwei Kirchen der gleichen Konfession mehr halten. Doch für den Kirchenvorstand der Johannesgemeinde war nicht ersichtlich, warum ausgerechnet ihre Kirche mit ihrer moderneren Architektur und ihrer an heutigen Bedürfnissen orientierten Bauweise aufgegeben werden sollte, während die neugotische Kirche mit ihrer altmodischen, doch eher verkitschten Ausstattung erhalten blieb. Als bei einer späteren Sitzung, nachdem alles bereits entschieden war, die beiden Kirchenvorstände zusammenkamen, gerieten die beiden Parteien in einen heftigen Streit, bei dem außer dem Verlust von Hemdknöpfen und einem ausgerissenen Kragen vor allem das Vertrauen in die allseits weise göttliche Fügung Schaden litt.

II.

Ähnlich wie in der Wirtschaft sind auch im kirchlichen Bereich Fusionen selten freiwillig und erst recht handelt es sich nicht um Vereinigungen gleichberechtigter Partner. Da gibt es Sieger und Besiegte. Während die einen ihr Kirchengebäude, ihren Namen und ihre Gottesdienstgewohnheiten beibehalten konnten, mussten sich die anderen auf eine veränderte Situation einstellen. Nach einem Gottesdienst, in dem die Johanneskirche entwidmet wurde, wurden die Abendmahlsgeräte, die Bibel und das Altarkreuz aus der aufgegebenen Kirche in die Siegerkirche gebracht. Damit war nach langem Hin und Her die Fusion der beiden Kirchengemeinden zum Abschluss gekommen.

Das bedeutete aber noch lange nicht, dass damit an der Kirchenfront Ruhe eintrat. Eine Johannesgemeinde gab es jetzt zwar nicht mehr, aber die Kirche stand noch an ihrer alten Stelle. Es fielen auch einige Reparaturarbeiten an, weil sich in der Nähe des einstigen Eingangs Dachziegel gelöst hatten. Der Vorsicht halber hatte man einen Bauzaun um jenen Teil der Kirche gelegt, der mit der Fußgängerzone verbunden war.

Doch was konnte man mit einer Kirche ohne eine kirchliche Funktion anfangen? Wie sollte man vorgehen?

Ein erster Schritt war, dass man einen Mitarbeiter aus einem internationalen Kirchbau-Institut zu einem Vortrag einlud. Der Eingeladene, ein für kirchliche Verhältnisse verwegen aussehender Mitdreißiger mit Plastikbrille und gelber Krawatte, sollte aufzeigen, was man mit solchen nutzlos gewordenen Kirchen alles machen kann.

In einer Powerpoint-Präsentation bekam die Gemeindeversammlung vorgeführt, welche neuen Nutzungen es für solche scheinbar überflüssige Kirchen gibt.. Seine Beispiele waren überwiegend aus Holland und England, weil man sich hier schon früh über Nutzungstabus hinweggesetzt hatte. Aber es waren auch deutsche Beispiele dabei.

So zeigte er denn Kirchen, die zu Kunstkirchen geworden waren, in denen Kunstausstellungen und Dichterlesungen stattfanden. Es gab Museen jeder Couleur, für Schiffe, Musikinstrumente, auch für Kräuter; in Stralsund ein Meeresmuseum mit Walfischknochen und riesigen Aquarien. In einer der Kirchen hatte man Wohngeschosse eingebaut. Für Deutschland besteht die Denkmalpflege auf Reversibilität, meinte der Referent, was wiederum bedeutet, dass man ein Gebäude jederzeit in seinen früheren Zustand zurückführen muss. Im Falle von Einbauwohnungen entstünden dann immense Kosten. Er war eben Fachmann durch und durch. Und er verstand es, seinen Zuhörern den Blick zu weiten und sie mit Szenarien zu konfrontieren, die ihnen bislang unbekannt geblieben waren.

Einige der Kirchen waren zu Restaurants umgebaut worden, darunter auch die Kneipe Don Camillo in Willingen. Einmal war aus einem Taufstein ein Springbrunnen geworden, ein Beichtstuhl wurde zur Cocktailbar und aus dem Korb einer Kanzel sprosste eine Stechpalme. In England habe man, so der Referent, eine Kirche in eine private Radiostation verwandelt, in Brandenburg eine Kirche in eine Sparkasse.

Da hatte sich doch ein Bildhauer eine Kirche zum Atelier ausgebaut.. Auch dazu zeigte der Vortragende ein passendes Bild. Eine Personengruppe mit Blöcken und Kohlestifte umringte eine nackte weibliche Person, deren Rundformen zu den Spitzbögen und dem gotischen Maßwerk einen pointierten Kontrast bildeten. Schier unerschöpflich schien der Einfallsreichtum, wenn es darum ging, Kirchen für einen ungewöhnlichen Zweck nutzbar zu machen.

Dass eine nicht konforme Person von einem internationalen Kirchbauinstitut einen Vortrag gehalten hatte, war inzwischen auch der Kirchenleitung zu Ohren gekommen. Daraufhin entschloss sich der Bischof, einen Brief an die Gemeinde zu schreiben, um sie an die kirchlichen Grundwahrheiten zu erinnern.

„Eine Kirche ist eine Kirche und muss eine Kirche bleiben“, schrieb der Bischof, dem Rat eines Hamburger Hauptpastors folgend. Müsse man bei einer neuen Nutzung das Kreuz verbergen, käme eine solche Nutzung nicht in Frage. Er warnte davor, dass eine Kirche zur Diskothek wird oder dass man dort eine Modenschau mit Dessous veranstaltet. „Eine Gemeinde muss standhaft sein, wenn sich die Investoren drängeln, um die Kirche in einen Supermarkt zu verwandeln.“ Vor allem warnte der Bischof vor einer Firma aus Liechtenstein, welche die Kirchengemeinden mit wohlklingenden Angeboten zu locken verstünde. Sollten sie bloß kommen, die Herren aus Liechtenstein, an Pfarrer Eberlein und seiner Gemeinde würden sie sich schon die Zähne ausbeißen.

III.

Der Kirchbauexperte hatte ein Panorama von Nachnutzungen entworfen, der Bischof hatte zur Standhaftigkeit aufgefordert. Aber vor Ort passierte überhaupt nichts. Es war nicht so, dass sich die zukünftigen Investoren die Klinke in die Hand gegeben hätten. Es kam auch kein Anruf aus Liechtenstein. Keiner interessierte sich für die Johanneskirche. Pfarrer Eberlein wäre so gerne standhaft geblieben und malte sich aus, wie er angesichts einer mehrstelligen Summe ein solches zweifelsohne unmoralisches Angebot ausgeschlagen hätte, hätte man ihm bloß die Gelegenheit dazu gegeben. Wie hätte er zu reagieren gewusst, wenn man ihm das Angebot zu einer Kneipe oder einer Disco unterbreitet hätte!

Selbst die Muslime zeigten kein Interesse, wo doch ihre Hinterhofmoschee schon lange für das Freitagsgebet zu klein war. Natürlich hätte er nicht zugelassen, dass die Johanneskirche zur Moschee würde. Aber dass noch nicht einmal ein solches Anliegen geäußert wurde, zumal man bei den interreligiösen Gesprächen öfter zusammenkam, das befremdete ihn. Als er dann – einzig des Interesses wegen – den Hodja daraufhin ansprach, meinte dieser: „In einer Kirche gibt es überall Kreuzformen. Aber in einer Moschee soll jedes Kreuz vermieden werden.“

Auf alles war Pfarrer Eberlein vorbereitet, nur nicht darauf, dass sich überhaupt keiner bei ihm meldete. Mit Wehmut dachte er daran, dass man für das Grundstück der Frankfurter Matthäuskirche einst mehr als zwanzig Millionen geboten hatte, was der Kirchenvorstand ablehnte, obgleich der Dachverband der Frankfurter Kirchen das Angebot annehmen wollte. Dort, wo die Johanneskirche lag, wurden aber keine Wolkenkratzer gebaut.

Zu guter Letzt tauchte doch noch ein Interessent auf. Es war der Intendant des Stadttheaters. „Ich brauche für unser Theater dringend eine Probebühne!“, sagte der Intendant. Die bisherige Probebühne sei viel zu klein. Die Johanneskirche sei genau richtig. Allerdings wären einige Umbauten erforderlich. Der Altar, der Taufstein und die Kanzel – alle drei waren Prachtstücke aus Beton – müssten verschwinden, denn sonst hätte man keinen Platz mehr für die Proben. Auch die Stufen vor dem Altarraum seien für die Tänzer hinderlich. „Wenn wir für eine Aufführung mit Publikum eine erhöhte Bühne brauchen, nehmen wir dazu Holzpodeste. Gewöhnlich brauchen die Tänzer den Raum in seiner vollen Größe.“

Der Vorschlag des Theaterintendanten wurde im Kirchenvorstand gründlich diskutiert. Die Gründe zur Veränderung leuchteten ein. Gewiss, der erhoffte Run auf das Gebäude war ausgeblieben. Aber die Nutzung der Kirche als Probebühne hatte immerhin mit Kultur zu tun. Das war grundsätzlich nichts Anstößiges, obgleich die Veränderungen im Inneren nicht unerheblich waren. Wenn bei diesem Deal wenigstens ein ordentlicher Kaufpreis herausspringt, würde man mit sich reden lassen.

Doch genau an dieser Stelle gab es ein Problem. „Sehen Sie“, sagte der Intendant, „wir sind als Stadttheater auf die Zuschüsse der Stadt angewiesen. Die Mittel für Kultur werden von Jahr zu Jahr weniger, aber unter diesen Umständen ist die Stadtverwaltung damit einverstanden, dass wir eine Probebühne bekommen. Aber das darf natürlich nichts kosten. Bedenken Sie unsere kostspieligen Umbaumaßnahmen und die Kosten der Bauunterhaltung, die Sie in Zukunft alle nicht mehr haben werden.“

Als Pfarrer Eberlein seinen Kirchenvorstand davon in Kenntnis setzte, dass das Stadttheater die Johanneskirche kostenlos haben wollte, war im Kirchenvorstand der Teufel los. Man hatte doch damit gerechnet, dass mit der Johanneskirche in finanzieller Hinsicht ein großes Geschäft zu machen wäre – das man dann aus Gewissensgründen natürlich ausgeschlagen hätte... Um so mehr schmerzte die Erkenntnis, dass man für die Kirche überhaupt nichts bekommen würde. Man musste sogar dankbar darüber sein, dass überhaupt jemand bereit war, die Kirche zu übernehmen, und mit der Kirche all die anstehenden Folgekosten. Das Angebot des Intendanten war das einzige weit und breit. Sollte man ihm deshalb die Füße küssen? Ein Kirchenvorsteher, der gleichzeitig Stadtverordneter war, riet, die Johanneskirche trotzdem an das Stadttheater abzugeben: „Die Kirche wird wieder genutzt und einem guten Zweck zugeführt.“ Mit den Kosten für die Umbaumaßnahmen sei der Stadtkämmerer ohnehin an die Grenze der Belastbarkeit des Stadtsäckels gelangt. „Wir geben die Kirche für die symbolische Summe von einem Euro ab. Wenn dann eine Dachreparatur oder eine Betonsanierung fällig wird, ist die Stadt dafür zuständig und wir haben unsere Ruhe.“

Das schmeckte keinem der Anwesenden, doch der Vorschlag war vernünftig. Die Zeit der Flausen war vorbei. Man war wieder auf den Boden der Realität angekommen.

IV.

Wer dachte, jetzt würde alles seinen geregelten Gang nehmen, sah sich getäuscht. Da tauchte plötzlich die Tochter jenes Architekten auf, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Kirche gebaut hatte. Der Architekt war schon einige Jahre tot, aber seine Tochter erfreute sich bester Gesundheit und war eifrig darauf bedacht, das Erbe ihres Vaters zu wahren. Da der Vater verstorben war, war nunmehr sie im Besitz des Urheberrechts. Ihr ging der Ruf voraus, unbeugsam an der von ihrem Vater verwirklichten Raumgestalt festzuhalten. Eine katholische Kirche, die aus liturgischen Gründen den Altar in die Mitte des Raumes platziert hatte, wurde unlängst von der Architektentochter per Gerichtsbeschluss gezwungen, den Altar wieder an die Stirnwand zurückzusetzen und die alte Raumordnung wieder herzustellen. Als sie erfuhr, dass man wegen der neuen Nutzung den Altar, die Kanzel und den Taufstein zu entfernen beabsichtigte, drohte sie wegen Missachtung des Urheberrechts auch dieses Mal mit einer Klage. Gleichzeitig mobilisierte sie einen prominenten Architekturkritiker, der in einer überregionalen Zeitung bezogen auf die Pläne der Johanneskirche von „Kunstbanausentum“ und einen „Akt der Barbarei“ schrieb. In die in der Öffentlichkeit entfachten Diskussion mischte sich auch noch ein Denkmalpfleger alten Schlages ein. „Der Raum“, so sagte er, „ist ein Dokument ähnlich wie ein Personalausweis. Ist es erlaubt, seinen Personalausweis zu verändern?“

Pfarrer Eberlein und sein Kirchenvorstand fanden sich auf der Anklagebank wieder. Dabei wollten sie bloß Gutes tun: Sie wollten das Überleben der Johanneskirche retten, indem sie die Kirche dem Stadttheater als Probebühne überlassen wollten...und das für einen Euro. Nicht nur, dass sie als „Banausen“ geschmäht wurden, sie galten auch als „Profanierer“, als Menschen, die das Heilige zu entweihen trachteten. Es hatte sich nämlich ein emeritierter Theologieprofessor in die Debatte eingeschaltet. Einst als strammer Linker angetreten, hatte er sich zum Verfechter des „heiligen Raumes“ gemausert. „Der heilige Raum gehört der heiligen Macht, die in ihm west und waltet. Wer den heiligen Raum zerstört – beispielsweise durch den Abbruch des Altars -, versündigt sich an der heiligen Macht.“ Die ins Auge gefasste neue Nutzung sei ebenfalls nicht im Sinne der heiligen Macht.

Für Pfarrer Eberlein war das alles zu viel. Man sah, dass er sich jetzt wieder öfter eine Zigarette anzündete, wo er sich doch zuvor das Rauchen abgewöhnt hatte. Auch seine Sanftmut war verflogen. Aus einem Eberlein war ein Eber geworden.

V.

Und wie ist die Geschichte ausgegangen?

Dort, wo die Kirche stand, steht jetzt ein Kaufhaus. Nirgendwo kann man billiger Pullis, Blusen, Socken und Slips kaufen. Die Kirche selbst wurde abgerissen. Gegen den Abriss gab es keine rechtlichen Bedenken. Das Urheberrecht wurde nicht verletzt, denn: ein Abriss ist keine Verfälschung. Es ist auch nicht zu einer Profanierung durch eine kirchenfremde Nutzung gekommen, auch nicht zu einer für die Kirche schädlichen Symbolbildung. Abriss ist Abriss. Und dann wurde etwas Neues an die Stelle errichtet. Ein Kaufhaus.

Da gab es natürlich noch die Unverbesserlichen, die dieser Logik nicht Folge leisten wollten. Sie hätten sich nicht daran gestört, wenn die Kirche als Probebühne fürs Theater genutzt worden wäre, wenn sie nur an Ort und Stelle geblieben wäre.

Noch leben die Personen, die sich daran erinnern, dass hier einst eine Kirche gestanden hat. Sie wollen, dass ihre Kirche nicht in Vergessenheit gerät. Ein Konditor aus der Nachbarschaft hat eine Torte kreiert, bei der die Außengestalt der Kirche mit Marzipan und Schokolade nachgeformt wurde. Man kann die Kirchentorte anschauen. Man kann sie anschneiden. Man kann sogar ein Stück davon essen.


© Horst Schwebel 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 45/2007
https://www.theomag.de/45/hs5.htm