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Magazin für Theologie und Ästhetik


Über den profanen Umgang mit sakraler Architektur

Analyse oder Anamnese?

Henner Herrmanns

Alarmierende Schlagzeilen über Preisgabe und Abriss von Kirchen häufen sich. Die von dem Nestor der deutschen Architektenschaft Gottfried Böhm 1956 erbaute Kirche St. Ursula in Hürth-Kalscheuren bei Köln, die seit 1993 unter Denkmalschutz steht, wurde 2006 profaniert,[1] die Liegenschaft veräußert. Die von dem renommierten rheinischen Kirchenbaumeister Rudolf Schwarz 1965 entworfene Kirche St. Raphael in Berlin-Gatow[2] ist 2005 sogar abgerissen worden. Diese beiden Nachkriegskirchen sind zu einer Art Menetekel für das Schicksal von Kirchen geworden. Das Immobilienmanagement der beiden christlichen Konfessionen beeilt sich mit Umnutzung, Verkauf und Abriss ihrer Baubestände öffentlichen Debatten zuvorzukommen. Für St. Raphael kommt jedes Engagement zu spät. Aber längst stehen auch andere Kirchen zur Disposition. Es scheint, als würde dieser Prozess in seiner ganzen Tragweite in der Öffentlichkeit erst allmählich richtig wahrgenommen; obwohl das Problem Kirchen intern seit langem diskutiert wird. Bereits 1995 schrieb der ehemaliger Kölner Erzdiözesanbaumeister Josef Rüenauver: „Wir stehen in der Gefahr, aufgrund des sinkenden Kirchenbesuchs und aktueller und mittelfristiger finanzieller Einbrüche im Kirchensteueraufkommen unsere Kirchen zu behandeln wie eine gewöhnliche Immobilie, ihre Unterhaltung ängstlich zu messen nach Hauptnutzfläche, umbautem Raum, Bankplätzen und deren Nutzungsintensität. Dabei vergessen wir, dass jede Kirche „Ad Majorem Gloriam Dei“ gebaut ist. Eine Profanierung ist wie die Rückforderung eines Geschenkes. Sie ist Zeichen und Eingeständnis des Bruchs einer Beziehung zwischen Schenkendem und Beschenktem.“[3]

Paulo Coelho beschreibt in seiner Parabel „Blickkontakt“ den Verkauf von Kirchen als einen ganz alltäglichen Vorgang. „Ich bin vom Vatikan beauftragt, Käufer für Kirchen zu finden, weil es in Holland bereits mehr Kirchen als Gläubige gibt. Und da wir dabei schlechte Erfahrungen gemacht haben und mit ansehen mussten, wie heilige Orte in Nachtclubs, Eigentumswohnungen, Boutiquen und sogar Sexshops verwandelt wurden, gehen wir bei den Verkäufen jetzt anders vor.“[4] Tatsächlich beschränkt sich die Problematik nicht nur auf Deutschland.

Ökonomisierung der Institution Kirche

Durch den dramatischen Rückgang der Kirchensteuereinnahmen wurde das große Kirchensterben ausgelöst. Die Ursachen hierfür liegen sicherlich in der hohen Arbeitslosigkeit, der Überalterung der Gesellschaft und der Welle von Kirchenaustritten. Bedingt durch die ökonomische Schieflage beschlossen beide großen christlichen Kirchen, die pastoral genutzten Flächen abzubauen und über anderweitige Nutzungen der Immobilie Kirche nachzudenken. Damit hat in der kapitalistischen Spätmoderne die Ökonomisierung auch in den Diözesen Einzug gehalten. Fraglich ist ob die Aufgabe von Kirchen der richtige Ansatz ist? Ist kurzsichtiges Sparen um jeden Preis nicht eher als ein Zeichen der Perspektivlosigkeit anzusehen? Wenn Sparen zum Hauptthema der Kirche wird, ist zu befürchten, dass die Finanzkrise zu einer allgemeinen Erosion der Kirche führt.[5]

Die Immobilie Kirche

Als Folge der veränderten finanziellen Möglichkeiten werden die Kirchen auf jeden Fall gezwungen zu handeln. Die schrumpfenden eigenständigen Kirchengemeinden werden fusioniert, wodurch eine Vielzahl von Kirchen als gottesdienstliche Orte überflüssig werden, und man nunmehr vor dem Problem steht, diese überzähligen, unnützen Gebäude zu verwerten.

Die Kirche ist Abbild. Sie bringt religiöse Sinngehalte zum Ausdruck oder um mit Ernst Bloch zu sprechen, beim Kirchenbau geht es um „den Glanz dahinter“[6]. Dieser spiritueller Glanz und die Ästhetik des Erhabenen unterscheidet sie von Zweckbauten ohne übergreifende Sinngehalte, d.h. Kirchen sind keine Immobilien, die wie Kaufhäuser oder Kinos nach Kassenlage einfach geschlossen werden können.

Überhaupt ist die Verwertung von exotischen Immobilien wie Kirchen in praxi nicht ganz unproblematisch. Sobald die konkrete Umsetzung angegangen wird, muss man ernüchternd feststellen, dass sie eher vermarktungsresistent sind. Bei profaner Nachnutzung von Kirchengebäuden greifen planungsrechtliche Beschränkungen wie die Vorschriften der Landesbauordnung und des Baurechts, von denen Kirchen ausgenommen sind. So gelten Auflagen zu Brandschutz oder Stellplatzverordnung u. a. m. für Kirchen als sakrale Bauwerke nicht. Illusionslos stellt Heinz-Peter Heidrich, Vorstandssprecher der Bank des Bistums Essen fest: „Der Wert einer Kirche bemisst sich nach dem Grundstückswert minus Abrisskosten“. Eine Feststellung, die erhellt, dass durch den Verkaufserlös einer Kirche der Haushalt nicht zu sanieren ist. Viel wichtiger ist aber die Beantwortung der Frage: Ist die Aufgabe einer Kirche mit dem kulturellen Auftrag der Institution überhaupt vereinbar?

Bildersturm

Der kulturelle Ausverkauf bemächtigt sich der gesamten Kulturlandschaft. Es scheint so zu sein, dass die heutige Gesellschaft ihre kulturellen Werte verstärkt unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet, was zu einem nicht wieder ersetzbaren Verlust von Kunstwerken führen kann. So plante die Stadt Krefeld den Verkauf einer Inkunabel der Kunstgeschichte. Zur Sanierung der städtischen Immobilien sollte kürzlich das Claude-Monet-Gemälde „Houses of Parliament“ abgegeben werden. Und in Baden-Württemberg sollen kostbare Handschriften aus der Landesbibliothek Karlsruhe, von denen der FDP-Justizminister Goll als „von altem Papier, das im Keller liegt“[7] redet, verkauft werden, um das großherzogliche Haus Baden zu entschulden. Die entscheidende Frage ist: Darf die öffentliche Hand unser kulturelles Erbe als konvertible Beträge zur beliebigen Deckung von finanziellen Schieflagen heranziehen? Kann man solch gedankenlose Vorgehensweisen – auch der Kirche - verhindern? Nur allmählich regt sich innerhalb der Kirche verhaltener Unmut über die Zerstörung und Säkularisation. So äußerst sich Dr. G. Fürst, der Bischof von Rottenburg-Stuttgart: „Wenn wir Gotteshäuser abreißen, leisten wir einer Gesellschaft und einer Mentalität Vorschub, die nur noch nach materiellen Erwägungen handelt.“[8]

Architektonische Qualitäten

Die Entscheidung, welche Kirche aufgegeben wird, steht in der Beliebigkeit der Kirchengemeinden und richtet sich hauptsächlich nach Lage und Erreichbarkeit der Kirche für ihre Pfarrgemeindemitglieder. Die Kirche darf – ohne dass architekturgeschichtliche und ästhetische Kriterien Berücksichtigung finden - allein entscheiden, was mit der wertvollen Architektur geschehen soll. „Bei den Entscheidungen über die künftige Nutzung, hat die architektonische Qualität der Bauwerke bislang keine große Rolle gespielt“[9], sagt Dr. Herbert Fendrich, in Diensten des Ruhrbistums Essen und verantwortlich für 96 Kirchen, die zur Disposition stehen. Und Matthias Ludwig vom Institut für Kirchenbau in Marburg konstatiert: „Die Kirchen der 50er, 60er und 70er Jahre haben keine Lobby“.[10] Der Rationalisierung der Lebenswelt wurde offenbar mit der Sakralarchitektur jener Dekaden, die wichtige Zeugnisse des kirchlichen Aufbruchs aus der Nachkriegszeit in Deutschland sind, kein adäquates Gegenüber an sinnhaft-sinnlicher Bedeutungsanreicherung an die Seite gestellt. Gerade die Bauten der Nachkriegsmoderne mit ihrer asketischen, calvinistischen Beton-Ästhetik kommen den geläufigen Vorstellungen von architektonischer Sakralität oft zu wenig entgegen. Mit dieser kargen Architektur hatte eine Ernüchterung und "Entzauberung der Welt"[11] eingesetzt. Und gerade diesen modernen Kirchen stehen die Entscheidungsträger nicht selten ganz hilflos gegenüber. Man weiß natürlich, dass auch die Ausmalung der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo sich nur dem Wissenden ganz erschließt.

Sakrale Nachnutzungen in der Baugeschichte

Eine Möglichkeit zur Erhaltung von nicht mehr benötigten Kirchen ist die Wertkonvertibilität. So hat man schon immer auch für Sakralbauten Nachnutzungsmöglichkeiten gesucht.

Viele bedeutende Bauwerke haben nur überlebt, weil sie Sphären übergreifend einer anderen Nutzung zugeführt wurden. Aus dem Parthenontempel in Athen (erbaut 448 v. Chr.) wurde im 14. Jahrhundert eine christliche Kirche. Unter osmanischer Herrschaft erklärte man den ehemaligen Tempel zur Moschee. Aus dem Pantheon in Rom, 117 n. Chr. als heidnischen Tempel erbaut, wurde 608 n. Chr. die christliche Kirche Santa Maria Rotonda. Die Christen – sonst nicht zimperlich im Vernichten des Heidnischen – entschieden sich bei diesem Bau für die Bewahrung durch Aneignung. Aus dem Frigidarium der Thermen des Diokletian in Rom (305 n. Chr. erbaut) wurde 1566 von Michelangelo zur Kirche Santa Maria degli Angeli umgebaut. Aus der Porta Nigra in Trier, ein Stadttor aus dem 2. Jh. n. Chr., wurde im 12. Jh. eine Kirche. Erst im 19. Jh. baute man sie wieder auf das ehemals römische Erscheinungsbild zurück.

Profane Nachnutzungen in jüngster Vergangenheit

Umnutzung, Erneuerung und Modernisierung alten Baubestandes sind kontinuierliche Prozesse auch der neueren Baugeschichte. Die Umnutzung ist oft die letzte Rettung für historische Gebäude, die ihrer ursprünglichen Funktion beraubt sind. Die Liste umgewidmeter Bauwerke ist mannigfaltig. So sind infolge von Rationalisierung und Konzentration in der Landwirtschaft tausende von bäuerlichen Betrieben aufgegeben und deren nicht mehr benötigte Stallungen und Scheunen zu Wohnzwecken umgebaut worden. Wegen des Niedergangs der Stahlindustrie im Ruhrgebiet entstanden im Landschaftspark Duisburg-Nord aus Hochöfen Aussichtsplattformen, aus Gießhallen Großkinos. Fabriketagen werden als großzügige Luxuswohnungen oder als individuelle Firmensitze angeboten. Allerorts entstehen aus den Brachen ehemaliger Industrieanlagen neue Architekturen.

Bei der Umnutzung setzt der kreative Akt des Entwerfens mit der Programmfindung ein und erfordert die Neuinterpretation des Vorhandenen. Natürlich ist es ungleich schwerer, eine Altimmobilie an die Anforderungen einer zukünftigen Nutzung anzupassen, als das Neue nur als Tabula rasa des Alten zu denken. Welche Folgenutzung ist für Kirchen aus spiritueller und stadtplanerischer Sicht angemessen?[12]

Aktuelle Nachnutzungen von Kirchen

Grundsätzlich kann man sagen, dass ein Gebäude im Bestand gefährdet ist, wenn es aus der Nutzung heraus fällt. Nur durch eine nachhaltige Verwertung kann es dauerhaft bewahrt werden. Eine der vielfältigen Optionen zum baulichen Erhalt von Kirchen des 20. Jahrhunderts ist mit der evangelischen Markuskirche in Frankfurt-Bockenheim realisiert worden. 1912 als Eisenbetonkonstruktion erstellt, im 2. Weltkrieg stark zerstört und 1952/53 wiederaufgebaut, ist die Kirche im Jahr 2005 zum „Zentrum Verkündigung“ der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau umgebaut worden. Die denkmalgeschützte Kirche ist verkleinert und durch Anbauten mit Büroräumen erweitert worden. Dadurch avancierte der bis 2003 als Gemeindekirche genutzte Bau zum Zentrum landeskirchlicher Dienste und ist nach wie vor im urbanen Kontext existent. Ein anderes Paradigma für Rückbau, Umbau und Neugestaltung ist die in den 1960er Jahren erbaute evangelische Dornbuschkirche in Frankfurt am Main. „Der Verlust an Masse führt zu einem Gewinn an Raum. Die Identität des Ortes wird transformiert. Für die Gemeinde bleibt die Geschichte des Ortes im Gedächtnis [...]. Städtebaulich entstand ein faszinierendes Ensemble – bestehend aus Gemeindezentrum, Kirchenraum und –turm sowie ein neu gewonnener Kirchplatz als Geschenk an die Öffentlichkeit.“[13] Ein weiteres gelungenes Beispiel stellt St. Maximin in Trier dar. Unter Napoleon säkularisiert, danach mit Geschosseinbauten zur Kaserne mutiert, später zur Kirche rückgebaut, wird sie heute als Schulsporthalle genutzt. Von Zeit zu Zeit finden auch Gottesdienste in der umgebauten Kirche statt. Eine andere veritable Alternative ist die Umwidmung von Kirchen zu Kolumbarien. Zwar hat die kath. Kirche noch vor 100 Jahren die Einäscherung vehement bekämpft, weil damit die Leugnung der Auferstehung verbunden war, dennoch gibt die Kirche dem Trend zur Einäscherung heute nach wie mit St. Josef in Aachen in 2006 geschehen. Auch die ehemalige Pfarrkirche St. Konrad in Marl-Hüls, 1954-57 von Emil Steffann gebaut, wird neuerdings als Kolumbarium genutzt. Statt Gottesdienste finden Aussegnungsfeiern in dem Kirchenraum statt.

Sakrilege

Schon in der frühchristlichen Zeit dienten Sakralbauten nicht nur als Orte für Gottesdienste, sondern auch als öffentliche Versammlungsstätten. Erst im 19. Jh. wurde die Nutzung der Kirchengebäude auf die rein liturgische Funktion eingeschränkt, da Kirchen durch die Konsekration zu geweihten Räumen werden. Damit sind für die katholische Theologie Kirchen als heilige Räume dem Profanen entzogen. Die evangelische Kirche hingegen betrachtete ihre Kirchengebäude schon immer als Funktionsflächen und sah nie ein Problem darin, sie für nicht kirchliche Veranstaltungen zu nutzen. Dem gegenüber stehen jedoch Aussagen aus jüngster Zeit, die andere Verwendungszwecke einschränken. „Schon eine geringe Zahl von Kirchen, die als Diskotheken, Einkaufszentren oder Fischrestaurants genutzt werden, gefährdet den Symbolgehalt auch anderer Kirchen“[14]; sagt Dr. Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), und verteidigt damit die symbolische Konnotation von Kirchengebäuden.

Glückseligkeit?

Zu einem als wenig nachahmenswerten Beispiel ist die ehemalige Dorfkirche im brandenburgischen Milow geworden, die als Sparkassenfiliale nachgenutzt wird.[15] Hier fällt ins Auge, dass die Interdependenz von Innen und Außen fehlt. In unserem deterministisch geprägten Weltbild ist die Außenwirkung sakraler Bauten bisher auch immer eine symbiotische Beziehung zur faktischen Nutzung eingegangen. Nur eine als Kirche genutzte Kirche kann die Präsenz des Göttlichen im öffentlichen Raum symbolisieren. Solche ehemals „heiligen Räume“, die nunmehr zu höchst weltlichen Raumhüllen mutiert sind, werfen die Frage auf, wie viel an Umnutzung kompatibel ist. Ein anderes Paradigma für solch eine grenzwertige Umnutzung ist die im neogotischen Stil erbaute ehemalige evangelische Martinikirche in Bielefeld. Auch hier wurde die Grenze der Wertsphäre überschritten. Ihre Orgelempore avancierte - in Anpassung an unsere animierte Spaßgesellschaft - zu der Lounge-Bar der zum Restaurant umgebauten Kirche mit dem wohlklingenden Namen „Glückseligkeit“.

Keine Kathedrale für Allah

Zwar wird der Abbruch von Kirchen als ultima ratio gesehen, jedoch wird dem Abriss vor einer nicht adäquaten Nachnutzung der Vorzug gegeben. Eine solche wird gesehen in der Umwidmung zu einer Moschee oder Synagoge. Hier kommt der islamisch-christliche Antagonismus zwischen beiden Weltreligionen und abendländischer und morgenländischer Kultur zum Ausdruck. Wegen der Symbolwirkung einer Kirchenschließung ist die kultische Nutzung durch nicht-christliche Religionsgemeinschaften unmöglich wie es in den Arbeitshilfen 175 der Deutschen Bischofskonferenz[16] heißt. Obwohl Islam und Judentum als monotheistische, abrahamitische Religionen dem Christentum nicht allzu fern stehen sollten, ist eine Kathedrale für Allah nicht denkbar. Diese kategorische Ablehnung einer Nachnutzung von Kirchen durch nicht-christliche Glaubensgemeinschaften ist unter rein architektonischen Gesichtspunkten zu hinterfragen. Zumal in diesem Fall Kirchen nicht durch eine unangemessene profane Nutzung entweiht würden. Aus der Geschichte weiß man, dass Muslime christlichen Bauwerken durchaus mit Ehrfurcht begegnet sind. So hinderte Sultan Mehmet II. - nach der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 durch die Türken - seine Janitscharen-Truppen an der Zerstörung der Sophienkirche (537 n. Chr.), eines der bedeutendsten Bauwerke der Christenheit. Die ehemals größte und prachtvollste Kirche wurde zur Hauptmoschee der neuen osmanischen Hauptstadt am Bosporus, wovon die Minarette zeugen. 1932 wurde die Hagia Sophia, die „Kirche der Heiligen Weisheit“, unter Mustafa Kemal Atatürk zum Museum. Wenn die beiden christlichen Kirchen um der Abgrenzung willen den Abriss einer multireligiösen Nutzung von Kirchen vorziehen, ist die viel zitierte religionsdiplomatische Formel von dem einen Gott[17], an den alle Gläubige - nur auf unterschiedliche Weise - glauben, nur eine hübsche Formel. Nach Kanon 222, § 1 und Kanon 1254, § 2 des geltenden Kodex des kanonischen Rechts gehört die Erhaltung von Kirchen zu den wichtigsten Aufgaben der katholischen Kirche. Aber bereits das Trienter Konzil sah die Möglichkeit eines Abrisses vor. Kanon 1222, § 2 eröffnet die Option, wobei nicht einmal die Erlaubnis der zuständigen Kongregation in Rom mehr erforderlich ist.[18]

Kirchenruinen

Kants Begriff des „Erhabenen“ gilt nach wie vor für Kirchen. Selbst wenn andere Architekturobjekte heute die Großstadtsilhouette prägen, strahlen Kirchen die Anwesenheit des Transzendenten aus. Es mehren sich die Stimmen, die neben der Stilllegung oder Zwischennutzung auf Zeit auch die Ruine einem Totalverlust vorziehen. „Manches Mal ist der langsame Verfall einer unangemessenen Nutzung und vor allem einem Abbruch vorzuziehen.“[19] Die ruinöse Wernerkapelle[20[ in Bacharach am Rhein kann als Ruine immer noch beeindrucken. Sie gilt als eines der schönsten Objekte der Rheinromantik. Selbst als Ruinen besitzen diese Architekturen einen noch starken sakralen Symbolgehalt. Solche Kirchenruinen haben ihre eigene Rhetorik. Es ist nicht das Höhenstreben als Reflex des Transzendentalen, es ist kein barockes Gefangennehmen der Sinne, sondern die Apotheose geschieht ganz asketisch. Es mag sein, dass Ruinen nur eine ultima ratio im Prozess der Entscheidungsfindung über die Zukunft von Kirchen sind, aber es ist eine veritable Möglichkeit.

Branding

Kirchen haben einen Mehrwert jenseits aller Kosten-Nutzen-Rechnungen und über ihre reine Funktion hinaus. Die Kölner Stadtverwaltung beispielsweise oder der 1. FC Köln, aber auch viele Kölner Unternehmen und Produkte tragen die Domtürme im Emblem. Der Dom ist und war das Wahrzeichen der Stadt bevor er 1880 vollendet wurde: Stadtkrone, Stadtdominante, Stadtzeichen sowie Symbol und Synonym: Der Dom ist Köln. Der italienische Medienphilosoph Bruno Ballardini vertritt in seiner Publikation „Jesus wäscht weißer“[21] die These, dass die Kirche Ad Majorem Dei Gloriam alle wesentlichen Elemente des modernen Marketings nutzt. Dazu zählen unzählige Testimonials, die die Markenbotschaft unaufhörlich verbreiten und das Kreuz, ein einprägsames Markenzeichen, das millionenfach reproduziert wurde. Kirchengebäude sind das weithin sichtbare Merkmal der Christenheit. Ein Wirtschaftsunternehmen, das ein solch erfolgreiches Markenzeichen aufgäbe, würde Gefahr laufen seine Marktposition zu verlieren. Durch die Schließung von Kirchen in Deutschland würde man auf die wirksamste, nämlich die dreidimensionale, räumliche und emotionale Kommunikation verzichten. Die Kirche gäbe ihren durch ihre inkommensurable Architektur vermittelten kulturellen Vorsprung auf. Besonders in einer zunehmend laizistischen Gesellschaft braucht die Kirche eine Architektur von sich selbst verstärkender Präsenz, die einen Affekt erzeugen kann. Da ist es hilfreich, im Aplomb der Kirche die Dauerhaftigkeit von Werten, die die Kirche vertritt, bildhaft vorgeführt zu sehen.

Städtebauliche Mitte

Zwar steht heute der Glaube und die apostolische Mission der Kirche nicht mehr im Mittelpunkt des Seins, aber über ihre sakrale und spirituelle Bedeutung hinaus haben Kirchen in aller Regel auch eine ganz wesentliche städtebauliche Funktion. Sie sind ostentative Symbole in der Stadtstruktur und meist Kristallisationspunkte der städtebaulichen Umgebung. Sie prägen Stadtbild und Ort durch Markierung, und zwar dadurch, dass sie das umgebende eigenschaftsärmere Ambiente auszeichnen.[22] Ihr Abbruch oder eine problematische, sinnentstellende Nachnutzung greift in wichtige städtebauliche Zusammenhänge ein. Mit dem Abriss drohen verödete, säkularisierte Stadtbilder sowie der Verlust der Mitte mit ihrer räumlichen und geistigen Bedeutung. Dieses Symptom ist symbolischer Ausdruck der Zeit[23] und ein neuer Höhepunkt einer Abrisswelle, die z. Zt. deutsche Stadtlandschaften durchläuft.

Bauhistorische Zeugen

Immer ist Architektur mediale Oberflächenstruktur gewesen, an der die gesellschaftlichen Befindlichkeiten abzulesen sind. Gerade sakrale Bauwerke sind diejenigen Objekte, an denen sich das kulturelle Selbstverständnis der jeweiligen Zeit beispielhaft ablesen lässt. Bei romanischen und gotischen Kirchen ist dieser Aspekt relativ leicht vermittelbar. Schwieriger wird es – wie bereits erwähnt - bei den oftmals weniger geschätzten Kirchenbauten nach 1945. Aber gerade auch diese von Säkularisierung und Abriss besonders bedrohten Kirchen, die in der öffentlichen Meinung wegen ihrer äußeren Anmutung nur geringe affirmative Wertschätzung erfahren, stellen neben den romanischen Domen, gotischen Kathedralen und barocken Gotteshäusern unser einzigartiges architektonisches Erbe ad perpetuam memoriam dar. Und wie der griechische Tempel der Ausdruck der höchsten Kulturleistung des klassischen Altertums ist und die gotische Kathedrale das christliche Mittelalter kennzeichnet, sind diese Nachkriegskirchen des 20. Jahrhunderts auch heute noch größtenteils die hervorragenden Leistungen der Baukunst ihrer Zeit. Mit dem Abriss von Kirchen begibt sich die Kirche jedenfalls ikonographisch auf heikles Terrain.

Die Kirche im Dorf lassen

Zur Sicherung der eigenen Traditionen und des eigenen kulturellen Erbes wird dringend ein Codex benötigt, der als architektonische Leitlinie klar definiert, welche Gotteshäuser, deren sakrale Bestimmung man nicht mehr aufrecht erhalten kann, verändert, umgebaut oder abgerissen werden dürfen. Schließlich handelt es sich um affektive, ideelle Werte unserer Gesellschaft, die nicht bloß als materieller Wert und konvertible Verfügungsmasse einer Gebietskörperschaft anzusehen ist. Gerade in einer säkularisierten Welt muss die Kirche - als metaphysische Idee - im Dorf bleiben. Uns bleibt allein die traurige Erkenntnis: Die Eule der Minerva beginnt erst in der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.[24] Aber vielleicht in der Hoffnung, wenn auch schon verschiedentlich das ewige Licht gelöscht wurde, dass diese Eule nicht nur ein Totenvogel ist.

© Alle Bildrechte bei Henner Herrmanns
Anmerkungen
  1. A. ROSSMANN, Das ewige Licht ist aus. In: FAZ, Nr. 151 (2006), S. 43
  2. N.BALLHAUSEN, Kirche St. Raphael in Gatow. In: Bauwelt, Nr. 19 (2005), S. 21
  3. J. RÜENAUVER, Zum Kirchenbau im Erzbistum Köln 1945-1995: Rückblick – Ausblick. In: Glaube und Raum. Neue Kirchen im Rheinland 1945-1995. Hrsg. Erzbistum Köln, Köln 1995, S. 12
  4. P. COELHO, Sei wie ein Fluss, der still die Nacht durchströmt. Neue Geschichten und Gedanken 1998-2005, Zürich 2006, S. 48-49
  5. H. W. BROCKMANN, Das eigentliche Gespenst. Finanzlöcher als Kirchenpolitisches Werkzeug? In: Salzkörner, Hrsg. ZdK, Monschau/Aachen, 10. Jg., Nr. 2 (2004)
  6. E. BLOCH, Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Bd. 5. Frankfurt a. M. 1959
  7. R. SOLDT, Der Traum von absoluter Rechtssicherheit. Der Streit um das Kulturerbe des Hauses Baden wird die Landesregierung noch lange beschäftigen. In: FAZ Nr. 280 (2006), S. 12
  8. S. NEUHAUS-KIEFEL, Kirche wird stillgelegt. 28.07.06, www.drs.de, November 2006
  9. H. FENDRICH, Kirchen zwischen Umnutzung und Abriss. Zur aktuellen Debatte der katholischen Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Situation im Bistum Essen. Vortrag: Baukolloquium „Das Heilige und das Profane“ zum Thema „Altlast Kirche – Die Kirche als Immobilie“am 14.11.06
  10. M. LUDWIG, Gefährdete Moderne. Überlegungen zur künftigen Nutzung und Verwendung brachfallender Kirchengebäude. Vortrag: Baukolloquium „Das Heilige und das Profane“ zum Thema „Altlast Kirche – Die Kirche als Immobilie“ am 14.11.06
  11. M. ELIADE, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt a. M. 1998
  12. Was ist zu bedenken, wenn eine Kirche nicht mehr als Kirche genutzt wird? In: Leitlinien des theologischen Ausschusses der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Luth. Kirchenamt d. VELKD, Hannover 2003
  13. Rückbau, Umbau und Neugestaltung der Dornbuschkirche. In: Umbau im Bestand. Gestaltungspreis der Wüstenrot Stiftung, Ludwigsburg 2006, S. 9
  14. W. HUBER, auf KBT 2005: Glauben sichtbar machen, Herausforderung an Kirche, Kunst und Kirchenbau, Kirchenbautag, Stuttgart
  15. J. H. CLAUSSEN, Für eine Ethik des Aufgebens. Die Theologie der Kirchenschließung angesichts der rückläufigen Entwicklung. In: FAZ Nr. 297 (2005), S. N3
  16. Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz: Umnutzung von Kirchen. Beurteilungskriterien und Entscheidungshilfen. In: Arbeitshilfen 175, Bonn 2003
  17. D. MARCOS, Vortrag: Unser und Euer Gott ist einer. Sakrale Architektur als interkultureller Dialog. Baukolloquium „Das Heilige und das Profane“ zum Thema „Altlast Kirche – Die Kirche als Immobilie“ am 14.11.06
  18. N. SCHÖCH, Was tun mit Gotteshäusern, die keiner aufsucht? Kirchenrechtliche Überlegungen zu einem aktuellen Problem. In: http://www.katholische-kirche.de/2627_5819.htm
  19. J. KRÄMER, Vortrag: Über die Zukunft unserer Kirchen. Gefährdet die profane Nutzung einiger Kirchen den Symbolgehalt der anderen Kirchen? Baukolloquium „Das Heilige und das Profane“ zum Thema „Altlast Kirche – Die Kirche als Immobilie“ am 14.11.06
  20. Wernerkapelle, 1293 begonnen. Im 18. Jh. wurden die beschädigten Dächer und Gewölbe sowie der Nordarm abgerissen.
  21. B. BALLARDINI, Jesus wäscht weißer. Berlin 2005
  22. R. WIENANDS, Grundlagen der Gestaltung zu Bau und Stadtbau. Basel 1985, S. 84
  23. H. SEDLMAYR, Verlust der Mitte. Berlin 1959, S. 119
  24. G.W.F. HEGEL Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt/M. 1972, S. 14

© Henner Herrmanns 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 46/2007
https://www.theomag.de/46/hh1.htm