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Magazin für Theologie und Ästhetik


„Reiseeindrücke zwischen Kirche, Kultur und  Kunst“

Brief an Richard T. Gray in Seattle / USA

Stefan Budian

Lieber Rick,

wie Du weißt, bin ich im letzten Jahr (2006) viel herum gereist. Ich war bei Euch in Seattle und dann noch für einige Wochen in Eurer Ferienwohnung in den Cascades und habe Menschen und Landschaften portraitiert. Die christliche Religion hat vor allem in den Bergen eine ganz andere Präsenz, als ich es aus dem aufgeklärten Europa kenne. Ich fühlte mich (in dieser Hinsicht) fremd, fast als wäre ich in Marokko, nur dass ich dort von diesem Gefühl der Fremdheit weit weniger überrascht gewesen war. Später im Jahr habe ich eine Bildungsreise in den Vatikan gemacht (davon wollte ich Dir schon seit langem schreiben) und habe mich auch dort ziemlich fremd gefühlt. In diesem Brief hier will ich Dir von meinen Erlebnissen auf diesen Reisen erzählen und versuchen, einige Erkenntnisse daraus zu ziehen.

Im Vatikan habe ich wenig von „Gemeinde“ gesehen, dafür aber viel großmächtige Architektur und Würdenträger, die mir nicht anders vorkamen als Repräsentanten eines weltweiten Unternehmens mit ausgeprägter corporate identity. Ein Marktführer, der äußersten Wert auf Tradition legt. Ist es das, was man „Kirche“ nennt?

Im Methow-Tal in den Cascades sind die Kirchen klein und haben ganz verschiedene Konfessionen. Baptisten und Methodisten und ich weiß nicht alles. Jede hat ihre eigene Couleur, auf dem Land im US-Bundesstaat Washington herrscht Vielfalt, eine Art fundamentalistischer Pluralismus.

Irgendwo in den Bergen, im kleinen Ort Twisp, hält ein Auto an der Bäckerei, ein alter Pickup. Heraus kommt eine Frau, gekleidet wie die Hausmagd in einem Kostümfilm, der im 18. Jahrhundert spielt. Ohne BH sind ihre Brüste irgendwie formlos, ich weiß nicht warum mir gerade das so bezeichnend erscheint. Es sieht für mich einfach nicht so aus, wie man es heute macht. Eher wie eine Verleugnung von allem Modernen, die Brüste dieser Frau unter dem Kittelkleid und dem weißen Hemd. Als wolle sie gleich ein paar Kinder säugen und sich dann ums Vieh kümmern. Aber sie wirkt nicht bäurisch, mehr wie eine Akademikerin. Sie geht ganz schnell in die Bäckerei neben meinem Studio, kommt auch ganz schnell wieder heraus, bepackt und beladen. Sie steigt ein in den Pickup und ist weg, schaut sich nicht um, wie um nicht angesteckt zu werden. Ich glaube, die Frau gehört zu einer der evangelikalen Gemeinden hier im Umland. Ihre Kirche ist bestimmt nicht so imposant wie der Vatikan, hat aber doch nicht weniger Macht über sie.

Ein paar Häuser weiter arbeitet eine Organisation, die sich Kunst und Kultur auf die Fahnen geschrieben hat. Sie veranstalten Lesungen, Konzerte, Ausstellungen, machen viel an Schulen oder laden Künstler ein, wie mich zum Beispiel. 2005 wurde ein Förderprogramm für junge Leute, die Kunst studieren wollen, ausgeschrieben. Die Bewerber mussten begründen, was sie in der Kunst suchen. In drei Anträgen stand, Jesus Christus zu preisen sei das höchste persönliche Ziel. Als Gastkünstler im Ort bin ich einige Male zum privaten Dinner eingeladen. Einmal ist da auch ein Mädchen mit hellen Blick, irritierende Augen, in denen es keinen Zweifel zu geben scheint. Sie ist vielleicht 12 und zu Besuch im Haus wie ich. Bei ihr daheim gibt es keinen Strom, kein fließendes Wasser. Ihr Kleid hat keine Knöpfe sondern andere, „schlichtere“ Schließen. Der Gastgeber sagt mir hinterher, man könne ihr nicht verständlich machen, dass ihr etwas fehle. Es sei schon viel erreicht, dass sie überhaupt hier zu Besuch kommt. Vielleicht fehlt ihr ja überhaupt nichts? Vielleicht macht Fundamentalismus wirklich glücklich?

Hier auf dem Land haben die evangelikalen Freikirchen großen Einfluss. Wenn man die Cascades überquert wird er zunächst sogar noch stärker; bis irgendwann die Küste in Sicht kommt und Seattle, die weltoffene Metropole am Pazifik. Jeff, ein Künstlerkollege und ehemaliger Student der University of Washington in Seattle sagt mir, dass Themen wie „Leben nach dem Tod“ an der Universität tabu sind. Er nennt einen interessanten Grund: Die meisten Studierenden sind gläubig, aber sie dürfen es nicht zugeben, es gilt unter Akademikern als anrüchig. Man schweigt, um nicht lügen zu müssen.

Ortswechsel: In Rom erklärt Kurienerzbischof Agostino Marchetto unserer Reisegruppe, das zweite vatikanische Konzil sei in der Öffentlichkeit missverstanden worden. „Aggiornamento“, das zentrale Wort (übersetzt „Verheutigung“) bedeute nicht, dass die katholische Kirche sich und ihre Lehre den sich ändernden Zeiten anpassen würde. Das könne sie gar nicht, weil die christliche Offenbarung in der fortlaufenden Tradition der Katholischen Kirche weiter fließe. Beschlüsse der Konzile sind Wahrheit, rückgebunden an den Schöpfer selbst. Es kann keine Einschnitte durch Gewissen und innere Stimmen Einzelner geben. „Aggiornamento“ heißt, nächste Schritte zu gehen in der Kette der Offenbarung und nicht „Demokratie der Meinungen“ oder „Konzessionen an den Zeitgeist“.

Unter Papst Benedikts Führung war eine der ersten Maßnahmen die Abschaffung des religiösen Außenministerium der katholischen Kirche, des päpstlichen Rates für den interreligiösen Dialog. Der wurde 2006 dem Rat für die Kultur unterstellt und mit zwei Referenten-Patern dieses Rates kann unsere Reisegruppe sprechen. Nachdem was ich höre sind für die katholische Kirche andere Religionen offiziell nur noch Kulturphänomene.

Menschengeschaffenes also. Dasselbe gilt ohnehin für Kultur und Kunst. Darin könne sich die Gnade Gottes ausdrücken, sowie die menschliche Sehnsucht und Suche nach ihm. Davor hat die katholische Kirche Respekt und wünscht sich Kooperationen. Nur will sie keinen anderen Wahrheitsanspruch mit dem der katholischen Kirche, dem „lebendigen Leib der Offenbarung“,  vergleichen. „Wahrheit“ ist das Kolonialgebiet des Katholizismus; Dialog äußerlich, ohne den wirklichen Respekt unter Gleichen. Auf der päpstlichen Landkarte der Spiritualität und Sinnsuche gibt es zum Katholizismus keine Alternative, es sei denn die graduelle Sinnferne. Inspiration und Gewissen sind dabei schön und nützlich, aber sie müssen bewertet und geführt werden. Recht und Pflicht dazu hat (ausschließlich) die katholische Kirche.

Daniele Garrone, der Dekan der valdensischen Akademie in Rom redet ganz anders, man spürt bei ihm hindurch, dass die Valdenser durch Jahrhunderte der Verfolgung gegangen sind. Im dreizehnten Jahrhundert entstanden, sind sie erst vor wenigen Jahren als Religionsgemeinschaft in Italien völlig anerkannt worden. Mit 20.000 bekennenden Mitgliedern ist die valdensische die größte unter den protestantischen Glaubensgemeinschaften hier. Sagt man in Italien: „Ich bin Protestant“, fragen die Leute: „Wie, kein Christ?“ Zu unserer Reisegruppe gehören auch zwei deutsche Mennoniten, ihr Glauben ist mit dem der Valdenser verwandt. Auch bei den beiden spürt man, dass sie nicht das Gewissen und den Glauben anderer kontrollieren wollen. Aber sie wollen selbst keine Opfer von Kontrolle sein - die lange und bedrängte Geschichte dieser Glaubengemeinschaften hat ihre Mitglieder anscheinend sensibel gemacht gegenüber fremder Indoktrination.

Rick, in einem Deiner Briefe schriebst Du einmal, um den Fundamentalismus in den USA zu verstehen, müsse ich mir die Geschichte der Besiedlung Nordamerikas deutlich machen. Viele Gruppen kamen hierher, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunft mehr für sich sahen. Zum Beispiel auch evangelische Glaubensgemeinschaften. Lange Zeit waren sie zufrieden, dass man sie in Amerika in Ruhe ließ, doch nun wollen sie selbst mehr und mehr Kontrolle ausüben. Sie haben enorme Medienpräsens und dominieren ganze Landstriche. Anders als in Europa ist religiöser Fundamentalismus in den USA ein Machtfaktor, wie man an dem zur Schau getragenen Fundamentalismus des George W. Bush sieht. In gewissem Sinn hat in Teilen der USA eine Aufklärung nie stattgefunden.

Aufklärung bedeutet für mich die Errungenschaft einer säkularen Spiritualität, die mit ihren Werturteilen vor dem Unsagbaren innehält. Es gibt in Religion, Kunst und Kultur ähnliche Empfindungen, Grenzüberschreitungen, bei denen etwas von außen in die begreifbare Welt zu kommen scheint. Wahrheit, Schönheit, rechtfertigende Kraft - wie immer man das nennen möchte. Es ist da, obwohl darüber zu reden in Paradoxien führt. Diese Verwandtschaft sollte man lieben und schätzen, aber Kräfte auf diesem Niveau können sich nicht gegenseitig kontrollieren oder beherrschen.

Viele Christen erleben, so weit ich es verstehe, ihren Glauben als eine Gewissheit, die nicht aus ihnen selbst, sondern aus einer unmittelbaren und wirklichen Begegnung mit Jesus Christus kommt. Im Johannesevangelium (im vierten Kapitel)  wird beschrieben, wie Jesus eine Samariterin bekehrt. Die Frau weiß zunächst nicht, wie ihr geschieht, doch dann wird sie vom Erkennen überwältigt. Von außen, durch den Fremden, wird sie überzeugt, nicht durch Selbstreflektion. Gläubiger Christ wird man nicht durch Einsicht (oder sonstiges eigenes Tun), sondern indem sich Christus zu einem wendet (eine Tat von Jesus Christus). An Christus zu glauben ist „Gnade“ - nur scheinbar und äußerlich mit einer „eigenen Entscheidung“ zu verwechseln.

In Jesus Christus eine fremde Macht im eigenen Leben anzuerkennen ist, wie mir scheint, das, was gläubige Christen als Hauptunterschied zu den Nicht-Glaubenden ansehen. Aus dieser Sicht erscheint das Bemühen um die Sinnsuche oder das Bei-sich-selbst-sein Nichtgläubiger vielleicht als ein vergeblicher Narzissmus, der sich einbildet, im eigenen Spiegelbild den mächtigen fremden Herrn zu erkennen.

Ich finde, wenn für gläubige Christen Jesus und das Evangelium das Fundament ihres Lebens sind, hat niemand das Recht, sie dafür zu kritisieren. Diese Art der Unterwerfung ist auch nicht das, was ich „Fundamentalismus“ nennen würde. Religiöser Fundamentalismus beginnt für mich dort, wo Gläubige Gott darauf einschränken, Gnade immer, überall und jedem nur so wie ihnen selbst erweisen zu können. Sie ergreifen damit Besitz vom Transzendenten und tun das, was nicht zu tun ich für die Errungenschaft der Aufklärung halte: Sie beurteilen die transzendenten Erfahrungen anderer.

Doch wenn die transzendentalen Erfahrungen anderer nicht aufgrund der eigenen beurteilt werden können, auf welchem gemeinsamen Fundament könnte dann eine Gesellschaft stehen? Anders gesagt: Wo und mit welchem Recht kann (und muss) eine aufgeklärte Gesellschaft transzendental motiviertes Handeln verurteilen?

Auf der Grenzfläche der Begegnung des Weltlichen mit dem Transzendentalen ergeben sich die verschiedensten Überzeugungen, Moralvorstellungen, Ermächtigungen, Motivationen und Sachzwänge. Sie alle befinden sich im Spiel miteinander und erzeugen die komplexen Organismen der Kulturen, mit Regeln, die alle inneren Abläufe regulieren und in vernünftige oder harmonische Ordnung bringen. Welche Arten von Regeln gibt es dabei?

  • Zunächst ist da das (allgemeine oder individuelle) „Gefühl“ für die Kultur, indem sich rechtliche, lebenspraktische, moralische und transzendentale Wertvorstellungen mischen. Hier finde ich ist größte Toleranz nötig.
  • Ein Teil der Regeln sind die Gesetze der Rechtsprechung, an die sich jeder zu halten hat, die sich aber in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht transzendental herleiten.
  • Dem gegenüber stehen transzendental motivierte Regeln, die in der aufgeklärten Gesellschaft nur persönliche, aber keine gesellschaftliche Geltung mehr haben dürfen. Hier muss unsere Gesellschaft intolerant sein: Niemand darf einen anderen unter transzendentaler Begründung zu einem Handeln zwingen, das er oder sie nicht will. Und Jeder und Jede hat ein Recht darauf, durch die Gemeinschaft vor solchem Zwang geschützt zu werden.

Wie will man messen und erkennen, wann solch ein Zwang ausgeübt wird und wo man einschreiten muss?

Ich glaube, wir sind uns nicht mehr bewusst genug darüber, dass dabei keine Gesetze und auch kein dem kulturellen Gefühl abgeschauter Wertekanon helfen können. Schönheit, Wahrheit und Glaube sind subjektive Erfahrungen. Auch wenn sie vielleicht mit absoluter Macht auftreten, bleiben sie doch nur auf das Individuum bezogen, auf den Einzelnen. Es kann dafür keine allgemeinen Regeln geben. Deswegen bietet die aufgeklärte Gesellschaft jedem Einzelnen einen Schutzraum der Toleranz. Aber wer immer sich durch eigene spirituelle Erfahrung oder durch religiöse Rechtgläubigkeit für ermächtigt hält, anderen ihre Spiritualität vorzuschreiben, verlässt diesen Schutzraum. Darin liegt eine besondere Art von Religiosität und nicht etwa religiöser Opportunismus oder Atheismus. Mit der aufgeklärten Religiosität ist eine Pflicht verbunden:  aus Respekt vor der spirituellen Würde des Einzelnen, hat jedes Mitglied der aufgeklärten Gesellschaft (unabhängig des eigenen Glaubens) dafür zu sorgen, dass der Thron des Heiligen für andere solange leer bleiben darf, bis sie selbst ihn nach eigener Entscheidung besetzen wollen.

Für die Kirchen mit ihrer langen Erfahrung im Umgang mit dem Transzendenten besteht innerhalb der aufgeklärten Gesellschaft eine besondere Verantwortung, nicht nur auf die Freiheit des eigenen Glaubens, sondern auch auf die Freiheit von Glauben im Allgemeinen zu achten. Das gleiche gilt für die Künstler und ihre andere Vertrautheit mit dem Spirituellen. In diesem Sinne würde ich mir viel Zusammenarbeit zwischen Kunst und Kirche wünschen.

Herzlich, Stefan

(Stefan Budian, Mainz, Februar 2007)


© Stefan Budian 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 46/2007
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