Bestreitungen

Caravaggio (Detail)

Zeitgenössische Kunst im reformierten Kirchenraum

Andreas Mertin

Info Andreas MertinDie Möglichkeit und Reichweite von Inszenierungen zeitgenössischer Kunst im reformierten Kirchenraum sieht sich in der letzten Zeit – lange bevor sie überhaupt auch nur annähernd ausreichend künstlerisch und ästhetisch erkundet wurde – Bestreitungen ausgesetzt.

Frank Hiddemann, früherer Studienleiter der Ev. Akademie in Neudietendorf, dekretiert anmerkungsweise, dass für Künstler, die die Galerie verlassen und kontextsensibel arbeiten wollen, ein Raum mit der „Symbolkraft des Leeren“ uninteressant sei, da er sich nicht von der Galerie unterscheide. Die von ihm kuratierten Ausstellungen seien daher immer auf hoch qualifizierte gotische, romanische oder Neo-Renaissance-Bauten bezogen, m.a.W. auf Bauformen der weit zurückliegenden Vergangenheit.

Nun ist die Unterstellung, weiße Räume seien bloß Räume mit der Symbolkraft des Leeren zunächst nichts als eine solche. Genauso gut ließe sich argumentieren, dass gerade die weißen Räume die Fülle der Bilder durch Abwesenheit präsent machen, reformierte Räume also Räume mit der Symbolkraft des Abwesenden sind! Aber darüber lässt sich natürlich streiten. Auch dass die Raumdimensionen einer reformierten Kirche, ihre architektonische Konstruktion (und damit Bildhaftigkeit) eine völlig andere als die einer Galerie und eines Museums sind, wird so vernachlässigt. Mein Argument, dass sich die Galerie und das Museum aus der reformierten Bautradition entwickelt hat (auf das Hiddemann sich bezieht), lässt eben keine Rückschlüsse von der Galerie oder dem Museum auf den reformierten Kirchenraum zu.

Nicht bestritten werden kann nämlich, dass in den Räumen der reformierten Tradition ebenso viel Religion zur Kontextualisierung anwesend ist wie in den Räumen der lutherischen, anglikanischen oder katholischen Tradition. Was Hiddemann also mit besserer Kontextualisierungsmöglichkeit meint, ist vermutlich weniger die Anwesenheit religiöser Kontextualisierungsmöglichkeiten als vielmehr anderer ästhetischer Objekte im Raum, auf die Künstler sich beziehen können. Das ist aber weder ein notwendiger noch sinnvoller Bezugsrahmen, weil hier eben außerreligiöse Substrate als religiöse Bezugspunkte ausgegeben werden. Das Argument ließen sich also verkürzen auf den Satz, dass im Kontext anderer ästhetischer Strategien künstlerische Interventionen leichter zu realisieren seien. Genau dies gilt dann aber auch für den reformierten Raum.

Dass der weiße Kirchenraum als künstlerisch zu bearbeitender Raum gerade für kontextsensitive Künstler einer der attraktivsten Räume überhaupt ist, weil er eine der elementarsten Herausforderungen darstellt, hat der Schweizer Künstler Yves Netzhammer in der hugenottischen Karlskirche von Kassel gezeigt. Das Faszinierende an seiner Arbeit ist meines Erachtens gerade, dass sie auf dem aktuellsten Stand der künstlerischen Auseinandersetzung und Materialentwicklung steht und zugleich ihre volle Wirksamkeit gerade im Kontext der Kultbildbestreitung einer reformierten Kirche entfaltet. Hätte man Netzhammers Arbeit – zu der ein Komplement im Schweizer Pavillon auf der aktuellen Biennale in Venedig gehört – etwa in einer mittelalterlichen Kirche gezeigt, wäre sie vermutlich ein Fremdkörper im Sinne einer misslungenen ästhetischen Strategie geworden. So aber zeigt Netzhammer, indem er den Kontext in der verborgenen Bildtradition der Ästhetik der Reformierten und zugleich in der rationalisierten Bauform einer hugenottischen Kirche sucht, wie produktiv und kunstgenerativ der reformierte Kirchenraum sein kann. Nicht eine Sekunde kommt man auf die Idee, in der Kasseler Karlskirche in einer Galerie oder einem Museum zu stehen. Das subtile Spiel der Formen (die Migration der Form von der rationalistischen architektonischen Konstruktion des Baus in die höhlenartige Spiegelwelt des Kunstwerks) zeigt, wie gerade unter Aufnahme dieses Kontextes Kunst möglich wird. Der Riss in der Leinwand, der sich hier dem Betrachter auftut, spiegelt/generiert die Bildwelten, die sonst im strahlenden Weiß verborgen sind. Das Theatrum mundi wird hier bildreflexiv eingeholt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/48/am218.htm
© Andreas Mertin