Vom Überschreiten einer Grenze

Bill Viola in Venedig

Andreas Mertin

"The Self is an ocean without a shore.
Gazing upon it has no beginning or end,
in this world and the next."

Ibn al'Arabi (1165-1240)

Zwischenzeitlich ist Bill Viola zu einem merkwürdigen Spezialisten in der Kunst der Spiritualität bzw. der spirituellen Kunst geworden. Was einmal mit buddhistisch anmutenden Studien zur sich in einem Wassertropfen spiegelnden Welt begann („Migration“) ist nun routiniert gehandhabtes religiöses Kunstevent geworden. Ein beklemmendes Gefühl stellt sich ein, wenn Religion durch Kunst über den Schauer des Erhabenen (wie in „Five Angels for The Millienium“) oder eben der Grenzüberschreitung wie in der im folgenden zu besprechenden Arbeit „Ocean without a shore“ in Venedig erzeugt wird. Als die Theologen im dritten Jahrhundert nach Christus feststellten, dass Bilder nicht nur für die herrschenden Schichten komfortabel und genussreich waren, sondern auch bei den christlichen Massen einen magisch-religiösen Schauder erzeugten, waren sie allzu schnell gewillt, das Bilderverbot über Bord zu werfen, um Bilder zur religiösen Manipulation der Massen einzusetzen. Erst die Reformation und die mit ihr einsetzende Befreiung der Künste aus der Vorherrschaft der Religion hat das wieder problematisiert. Zwischenzeitlich aber sehnen sich einige Künstler und Intellektuelle wieder nach der Kunstreligion, ihre ästhetischen wie ideologischen Wünsche wollen Kathedralen bauen. Umberto Eco hat schon vor einigen Jahren auf die kulturellen Parallelitäten hingewiesen: "In beiden Epochen räsoniert die Bildungselite anhand der geschriebenen Texte mit buchgläubiger Mentalität, aber dann übersetzt sie die essentiellen Daten des Wissens und die Grundstrukturen der herrschenden Ideologie in Bilder" (Umberto Eco: Über Gott und die Welt. München 1985, S. 29).

Wer Bill Violas Arbeit „Ocean without a shore“ in der kleinen verdunkelten Kirche San Gallo in Florenz nahe San Marco gesehen hat, wird zugeben müssen, dass auch Viola auf diesen Pfaden der visuellen Verklärung wandelt. War schon „The Greeting“ (Violas Beitrag 1995 für den Biennale-Pavillon der USA) in seiner Bildmagie nur schwer zu ertragen, so wird aktuell in San Gallo der religiöse Kontext nicht nur zur sensuellen Steigerung der Arbeit, sondern auch zur Verklärung des Werkes herangezogen.

Wer die Kirche durch eine extra vorgebaute Schleuse (die die notwendige Dunkelheit erzeugt) betritt, findet sich in einem dunklen Raum, in dem er gerade noch drei Steinaltäre erkennen kann, auf denen jeweils eine großformatige Videopanele steht. Es ist weniger eine platonische Höhle, die hier erzeugt wird, als vielmehr eine bewusste Verdunkelung der Wahrnehmung des umgebenden Raumes, um das Präsentierte umso eindrücklicher erscheinen zu lassen.

Auf den Videopanelen lässt Bill Viola jeweils verschiedene Figuren durch eine Wasserwand nach vorne treten. Sie kommen aus einem undefinierten Hintergrund, in dem sie verharren, so lange sie nicht im Vordergrund des Bildes präsent sind. Ab und an lösen sie sich aus dem Hintergrund und treten langsam nach vorne, wobei ihre Erscheinung zunächst Grau in Grau ist. Erst wenn sie die Wasserwand durchschreiten, werden sie farbig und „natürlich“. Sie treten dann nach ganz vorne und agieren langsam vor dem Betrachter. Nach einiger Zeit aber kehren sie wieder hinter die Wasserwand in ihre gräuliche Existenz zurück. Im Zusammenspiel der drei Videoflächen ergeben sich unterschiedliche Intensitäten.

Für Viola geht es dabei um den Tod und die Präsenz der Toten, die nicht allein in den Gräbern präsent sind, sondern um uns herum sind (Vgl. das Interview anlässlich der Eröffnung der Ausstellung). „Wir wissen nur, was Licht ist, wenn wir die Dunkelheit kennen; und wir wissen nur was Leben ist, wenn wir den Tod kennen.“ Für ihn geht es um die Geister um uns herum, um Leben und Tod und deren Bewusstwerdung.

Religionsgeschichtlich haben wir es weniger mit christlichen oder buddhistischen Vorstellungen zu tun, als vielmehr mit griechischen und römischen Ideen: „Nach den Vorstellungen der alten römischen Religion lebten die »di manes« in der Unterwelt und kamen gelegentlich an die Oberfläche (ähnlich auch in der griechischen Religion). Doch wurde auch angenommen, sie lebten in der Luft, da ihre Seelen beim Tode ‚mit den Winden’ entflohen seien. [Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, S. 401)]

Der kritische Punkt für mich ist die Kontextualisierung. Warum bedarf es der mythischen Überhöhung auf den Steinaltären einer alten Kirche? Traut Viola seinen eigenen Arbeiten nicht mehr zu, den von ihm intendierten religiösen Schauder (denn darum geht es ja) zu erzielen? Reicht es nicht, diese Arbeit in eine Kunstkontext zu zeigen? Offensichtlich nicht. Im Kunst-Kontext könnte man sich zurück lehnen und das Ganze ästhetisch goutieren. Das aber ist Viola anscheinend zu wenig. Er will eine religiöse Botschaft an den Mann/die Frau bringen. Und da bedarf es eines vereindeutigenden Kontextes: eben einer Kirche.

Nun geschieht aber in San Gallo etwas sehr Merkwürdiges. Die Intention, die zentrale Botschaft zu steigern, kippt um in die Verherrlichung des Kunstwerkes selbst. Nicht der Tod und das Leben stehen auf den Altären zur Debatte, sondern diese dienen ausschließlich dem Werk von Bill Viola. Das ist Kunstreligion schlechthin. Waren Künstler nach einem geflügelten Wort von Bazon Brock immer schon Gottsucherbanden, so geht es bei Viola inzwischen um mehr: er ist nicht mehr nur Hohepriester der ästhetisierten Spiritualität, er wird selbst zum Teil des Heilsgeschehens. Das unterläuft die gängigen Differenzierungen der Moderne. Die sind natürlich nicht sakrosankt, sondern immer auch diskussionsbedürftig. Wenn aber Bill Viola unbedingt mit dem Dalai Lama oder dem Papst in Konkurrenz treten will, bleibt die Kunst auf der Strecke.

„Viola ist am stärksten dort, wo er ohne metaphysische, kulturkritische oder religiöse Botschaften, ohne neobarocke Zitatklischees und ohne postmoderne Hypersemantisierung nur seinen genial einfachen visuellen Einfällen folgt“ schrieb Hartmut Böhme 1999 in seinem Aufsatz „Bill Viola – ein Klassiker der Videokunst“ in der NZZ. Und er fuhr fort: „Man verzichtet gerne auf kitschige Video-Nachstellungen eines Gemäldes von Jacopo Pontormo ("Der Besuch" von 1528/9; The Greeting, 1995) oder das magisch-mystische Spiel von Realität und Vitualität, Spiegelung und referenzlose Bilderzeugung in "The Reflecting Pool" (1977-79). Wunderbar bedient Viola hier das religiöse und mystische Bedürfnis, die Sehnsucht nach Entrückung und Tiefsinn, den hermeneutischen Wiedererkennungsjubel und die Lust nach visueller Verzauberung. In solchen Arbeiten wie in jenen, wo die metaphysische Botschaft aus den Bildern trieft, verstellt "The Messenger" Bill Viola den Artisten. Dessen Arbeiten sind außerordentliche Studien der Wahrnehmung im alten Sinn von Aisthesis. Allzu leicht aber gerät jemand, der mit den phantastischen Möglichkeiten der neuen Medien arbeitet, der das Funktionieren der visuellen Welt als interne Repräsentation und externe Wahrnehmungswelt studiert, der das Unbewusste, das Phantastische und den Split zwischen dem "verlorenen Ich" und den Dingen gestaltet -, allzu leicht gerät so einer, im Sog der Bilder selbst, in die "Versuchung des heiligen Antonius" und wird ein Wüstenheiliger, der der toten Zivilisation in den Big Cities seine Botschaft sendet.“

Dem ist wenig hinzuzufügen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/49/am229.htm
© Andreas Mertin